Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur

Zwanzig Mosaiksteine für ein ungeschöntes Spanienbild

Rezension von Knud Böhle


1. Einleitung

Das Ibero-Amerikanische Institut (IAI) der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin gibt die Schriftenreihe Bibliotheca Ibero-Americana heraus, zu der auch die »heute«-Bände gehören, die Handbuchcharakter beanspruchen (S. 675). Die 6., vollständig neu bearbeitete Auflage von »Spani­en heute. Politik, Wirtschaft, Kultur«, ist im Herbst 2022 erschienen ‒ herausgegeben von den bei­den Fachhistorikern Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel. Redaktionsschluss war im Frühjahr 2022.

Der Sammelband wurde noch unter dem Eindruck der Covid-19 Pandemie abgeschlossen, und in vielen Beiträgen wird deshalb die Bedeutung von Covid-19 für das jeweilige Themenfeld mitreflek­tiert. Ein Beitrag beschäftigt sich sogar ausschließlich mit der Bewältigung und den Folgen der Pan­demie in Spanien. Was heute (Juli 2023) die Öffentlichkeit besonders bewegt, der Krieg in der Uk­raine, die Hitzewellen in Südeuropa als Folge des Klimawandels und das Erstarken der politischen Rechten bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai und bei den vorgezogenen Neuwahlen am 23. Juli, das liegt mithin schon außerhalb des Beobachtungszeitraums des Bandes.

Der Wert von »Spanien heute« liegt trotz des Titels selbstverständlich nicht im Tagesaktuellen. Der Band bietet eine Bestandsaufnahme, die zeigt, in welcher Lage die spanische Gesellschaft sich An­fang 2022 befand und vor welchen Aufgaben sie heute steht. Das impliziert fast immer einen Blick zurück, der verstehen lässt, wie sich die spanische Gesellschaft zwischen 1975 und 2022 verändert hat. Insbesondere die gravierenden Einschnitte durch eine Mehrfachkrise (Finanz-, Wirtschafts-, Immobilien-, Arbeitsmarkt- und Katalonienkrise) sind für die Dynamik ab 2008 bedeutsam.

Handbuchcharakter im engeren Sinn haben nur wenige Beiträge, wenn damit die systematische, um Objektivität bemühte, alle Seiten abwägende und zum Nachschlagen geeignete Darstellung eines Wissensbereichs gemeint ist. Präzise wäre von einer Auf­satzsammlung zu sprechen, bei der sich die Beiträge wie Mosaiksteine so ergänzen sollen, dass ein Ge­samtbild entsteht. Durch den Aufsatzcharakter treten die spezifischen Annahmen und Ansichten der jeweiligen Autor:innen stärker in den Vordergrund als das bei einem klassischen Handbuch der Fall wäre. Die zwanzig Beiträge samt weiterführenden Literaturhinweisen, im Durchschnitt etwa 30 Druckseiten lang, wurden zum größten Teil von Wissenschaftlern und Journalisten verfasst. Drei der zwanzig Aufsätze stammen aus spanischer Feder. Von den Autoren der vorherigen 5. Aufla­ge aus dem Jahr 2008 sind lediglich fünf noch an der aktuellen Auflage beteiligt.

Die Autor:innen waren trotz gewisser Vorgaben offenkundig relativ frei, die Abgrenzung des jewei­ligen Themas, die Art ihres Herangehens und die Darstellungsweise selbst zu bestimmen. Für die Leser:innen bedeutet das, dass manche Beiträge leichter zu lesen sind und weniger Vorwissen ver­langen als andere. Für ein Buch, das »nicht nur an Wissenschaftler:innen« (S. 675), sondern an ein breiteres Publikum gerichtet ist, erscheint diese Mischung sinnvoll. Auf dem deutschen Sachbuch­markt zu Spanien gibt es kein anderes Werk, das solch eine thematische Breite aufweist. Nicht alle Leser:innen werden sich für jeden Beitrag interessieren, und deshalb trifft auch für diesen Sammel­band zu: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

Im Folgenden werden nicht alle Beiträge einzeln vorgestellt, und auf Inhalte und Argumentationen der Aufsätze wird nur ganz punktuell eingegangen. Den ausführlichen und komplex argumentieren­den einzelnen Beiträgen wird dieses Vorgehen selbstverständlich nicht gerecht. Durch die Präsenta­tion ausgewählter Daten, Befunde und Hypothesen sollen jedoch Anreize gesetzt werden, sich das Buch oder einzelne Aufsätze einmal selbst vorzunehmen.

Die vorliegende Buchbesprechung folgt nicht der Gliederung des Bandes (vgl. dazu das Inhaltsverzeichnis). Den Ausgangspunkt der Rezension bildet die spanischen Wirtschaft, wobei ihre gravierenden Strukturschwächen und die besonderen Bedeutung der Sektoren Tourismus und Landwirtschaft zur Sprache kommen. Danach werden Defizite des politischen Systems und die Rol­le der Vierten Gewalt im Kontext der spanischen Demokratie problematisiert.

Daran anschließend werden unter der Überschrift »Das bewegte Spanien« die neuen Bewegungen angesprochen, die die politische Landschaft nach 2008 veränderten. Unter dieser Überschrift wer­den auch zwei zivilgesellschaftliche Bewegungen behandelt, die LGTBIQ-Bewegung und die para­digmatisch durch die ARMH (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica) verkör­perten Bürgerinitiativen für die Anerkennung der Opfer von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur. Un­ter dem Aspekt der gesellschaftlich relevanten Bewegungen seit 2008 wird außerdem auf die Be­deutung der Kirche eingegangen.

Im Anschluss daran wird eine ganz anders gelagerte »Bewegung«, die Spanien verändert hat, be­handelt: die Migration. Zuletzt wird noch ein Thema des »bewegten Spaniens« aufgegriffen, das Viele bewegt hat und bewegt: der Nationalismus in Spanien: der spanische, baskische und katalani­sche und die damit zusammenhängenden Konflikte der politisch-territorialen Ordnung.

Im Fazit (Abschnitt 6) wird auf Basis der Lektüre aller Beiträge ein Gesamtbild der spanische Ge­sellschaft en miniature skizziert und eine resümierende Beurteilung des besprochenen Werkes gege­ben.

2. Zur spanischen Wirtschaft

2.1 Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik

Holm Detlev Köhler unterzieht die spanische Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik einer har­schen Kritik. Er spricht von den aus Zeiten des Franquismus geerbten strukturellen Schwächen und Defiziten, die während der Demokratie nicht abgeändert wurden, und teilweise mit verantwortlich seien für die Krise von 2008-2013. Das folgende Zitat verdeutlicht seine Kritik:

Die spanische Wirtschaft hat seit der nachholenden Industrialisierung in den 1960er Jahren ein Spezialisierungsprofil mit Schwerpunkten auf niedrig qualifizierten und sai­sonabhängigen Berufen und Branchen herausgebildet. Sozialstaat, Erziehung und Be­rufsbildung blieben unterentwickelt, die Banken unzureichend kontrolliert und auf die Immobilien- und Finanzmärkte konzentriert, Tarifparteien und Verhandlungen frag­mentiert, die staatlichen Verwaltungen schwach koordiniert und von korrupt-klientilis­tischen Praktiken durchzogen, die politischen Parteien unsolide finanziert und von der Zivilgesellschaft mit wenig Vertrauen bedacht, die Betriebsgrößenstruktur extrem pola­risiert… (S. 360).

Ein effizientes Wirtschafts- und Entwicklungsmodell müsste folglich ganz anders orientiert sein: weg von dem energieintensiven, kreditfinanzierten Konsummodell mit Tourismus und Immobilien als Leitsektoren hin zu einem innovations- und wissensbasierten nachhaltigen Investitionsmodell (S. 359). Mit einer solchen Umstrukturierung rechnet Köhler jedoch nicht: »… die Entsagung von jeglicher industrieller Strukturpolitik in den letzten Jahrzehnten macht eine notwendige Neuausrich­tung des Entwicklungsmodells unmöglich« (S. 360).

Ein Skandal ist immer noch die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die auf der Höhe der Krise 2013 bei über 50% lag und auch heute noch deutlich über 25% liegt. Dieser Befund ist mehr als nur eine ökonomische Kennziffer: »Der Ausschluss vom Erwerbsleben der Generation, die eigentlich die Zukunft Spaniens gestalten müsste, untergräbt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Erziehung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Kultur« (S. 354).

2.2 Tourismus

Aktuell ist die hohe Relevanz der Sektoren Tourismus und Landwirtschaft im Wirtschaftsgefüge nicht zu leugnen. Raimund Allebrand weist in seinem Beitrag auf die enorme wirtschaftliche Be­deutung des Tourismussektors hin, der 2019 13% des BIP (Bruttoinlandsprodukt) ausmachte und eine Million Beschäftigte verzeichnete. Die tatsächliche Bedeutung des Fremdenverkehrs im BIP wäre aber gegenüber den statistischen Daten, die sich lediglich auf das primäre Tourismusgeschäft innerhalb des Dienstleistungssektors beziehen, noch mehr als zu verdoppeln. Ähnliches gelte für den Anteil der spanischen Tourismusbranche am Arbeitsmarkt. Der indirekte Anteil dürfte rund das Dreifache betragen (S. 459). Bei den indirekten Effekten wäre beispielsweise an Bahnstrecken zu denken, die erst durch den Tourismus rentabel werden oder an Dienstleister wie Wäschereien, die ohne Aufträge von Hotels schließen müssten.

Gleichwohl ist Allebrand die »fatale Abhängigkeit« der spanischen Wirtschaft vom Fremdenverkehr durchaus bewusst. Die spanische Tourismusindustrie habe zwar ihre Fixierung auf Strand und Son­ne hinter sich lassen können und sich erfolgreich diversifiziert, müsse aber noch weiter nach Per­spektiven für eine nachhaltige Entwicklung suchen. »Klima« so der Autor, »wird zukünftig der ent­scheidende Überlebensfaktor für den Fremdenverkehr sein« (S. 433).

2.3 Landwirtschaft

In dem höchst informativen Beitrag von Sabine Tzschaschel wird die sich verändernde Landnut­zung in Spanien auch mit Blick auf die Landwirtschaft und die Folgen der Landflucht faktenreich analysiert. Der Artikel befasst sich des Weiteren auch mit Fragen der Wasserwirtschaft und des Aus­baus erneuerbarer Energien. Jedes dieser Themen hätte eigentlich einen eigenen ausführlichen Bei­trag in dem Sammelband verdient. In dieser Rezension soll es indes nur um die Bedeutung der Landwirtschaft für die spanische Ökonomie gehen, die an folgenden Zahlen ablesbar ist (S. 407ff.).

50% der Fläche Spaniens sind heute noch Agrarland. Der Beitrag der Landwirtschaft zum BIP liegt bei 2,7% und ist damit doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt. 4% der Beschäftigten, 750.000 Personen, sind in 945.000 landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt. Spanien ist der siebtgrößte Exporteur von Agrarprodukten weltweit. Obst und Gemüse, Wein, Oliven, Käse, Fleisch sind die einschlägigen Exportgüter. Extensive Weidewirtschaft auf kargen Böden spielt eine gewisse Rolle und wird als ökologisch sinnvoll eingeschätzt. Die Lebensmittelverarbeitung ist der wichtigste Industriesektor Spaniens mit ca. 500.000 Beschäftigten und 30.000 Betrieben.

Seit einiger Zeit wird das ländliche Spanien als »entleertes Spanien« problematisiert. Nach der frü­heren Kritik an den industriellen Ballungszentren und den zersiedelten Küstenregionen kamen die Probleme des entleerten, ländlichen Binnenlands erst relativ spät zu Bewusstsein. Die Industrialisie­rung seit Ende der 1950er Jahre und die Mechanisierung der Landwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren hatten zur Entleerung des ländlichen Raums geführt. Heute leben in diesem ländli­chen Spanien geschätzte fünf Millionen Spanier:innen ohne ausreichende Grundversorgung und ohne gleiche Lebenschancen. In dem Zusammenhang, auch darauf weist Tzschaschel hin, kam be­merkenswerterweise einem Essay über »Das leere Spanien« (Sergio del Molino 2016; auf Deutsch 2022) eine Initialfunktion zu, da es ihm gelang, die Aufmerksamkeit für das Thema spürbar zu erhöhen und zur Mobilisierung der benachteiligten Regionen, der España vaciada, beizutragen.

3. Zum politischen System

3.1 Polarisierung und Lagerbildung als Problem

Günther Maihold legt eine rigorose Analyse der Probleme des politischen Systems Spaniens vor, die seit den Krisenjahren ab 2008 zugenommen und sich verfestigt hätten. Eine seiner Generalthe­sen ist, dass der frühere Grundkonsens der spanischen Gesellschaft zusehends erodiert und sich eine wachsende Polarisierung bemerkbar macht (S. 42). Die entscheidenden Gründe werden darin gesehen, dass die vermeintlichen Garanten der nationalen Identität und des Zusammenhalts, die Monarchie und die Verfassung von 1978, nicht das geleistet hätten, was von ihnen erhofft oder er­wartet wurde. Die Monarchie als Institution sei durch das Verhalten der Monarchen, besonders durch das Fehlverhalten von Juan Carlos I, geschwächt. Die Verfassung des Autonomiestaats kranke weiter an ihren Geburtsfehlern, die nicht korrigiert wurden. Das Konstrukt eines asymmetrischen Autonomiestaats mit Sonderrollen für die historischen Nationalitäten (Katalonien, Baskenland, Ga­lizien) habe nicht zu einem die Einzelinteressen der Regionen und Nationalitäten übergreifen­dem, integrierendem Verfassungspatriotismus geführt. Dazu komme ein Senat, der »aufgrund seiner unvollständigen Rolle als echte zweite Kammer für den Ausgleich der ver­schiedenen Interessenssphären zwischen den unterschiedlichen Gebietskörperschaften dysfunktio­nal geblieben« sei (S. 26).

Polarisierung und Lagerbildung seien zum gravierenden Problem der politischen Kultur geworden. Polarisierung taucht übrigens wie ein Leitmotiv in vielen Beiträgen des Bandes auf. Maihold weist speziell auf die Konfrontationsstrategien der Parteien hin, die auf Polarisierung statt auf Konsens setzten, und er weist auf die Politisierung der Justiz hin, wo die Besetzung hochrangiger Posten und politische Lagerzugehörigkeit häufig zusammen gehen.

Auch im Beitrag von Nicolaus Werz »Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontatio­nen« ist das Leitmotiv der politischen Konfrontation deutlich zu vernehmen. In gut lesbarer Form werden die Regierungen ab 2004 und die Umstände der jeweiligen Regierungswechsel bis 2020 charakterisiert. Korruptionsskandale spielen dabei keine unwesentliche Rolle. In den Zeitraum fällt auch die Diversifizierung der Parteienlandschaft ab 2013, wobei nach Werz, die »Links-Rechts-Achse im spanischen Parteiensystem« trotzdem äußerst stabil geblieben sei (S. 65). Zugenommen habe aber mit dem Auftreten der links-populistischen Podemos und der rechtspopulistischen Vox die Polarisierung und ein zugespitztes Freund-Feind-Denken (S. 66).

3.2 Medien und Demokratie

Mit der so-genannten Vierten Gewalt, den Medien, befasst sich Helene Zuber. Auch auf diesem Feld findet sich das Element der politischen Einflussnahme und der Polarisierung. Ab Mitte der 1990er Jahre hätten die Journalisten nicht mehr überparteilich berichten können, sondern sich der parteipolitischen Ausrichtung ihrer Geldgeber unterordnen müssen (S. 606f.). Folglich konnten spa­nische Zeitungsleser sich meist »nur noch ein ausgewogenes Bild über die Realität in der Gesell­schaft machen, wenn sie verschiedene Blätter kauften, die unterschiedliche politische Ausrichtun­gen vertraten« (S. 608). Was für den Zeitungsbereich gelte, sei auch bei den audiovisuellen Medien zu beobachten. Beim Privatfernsehen führten Fusionen von Sendern unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung unter dem Dach eines Unternehmens zum Verlust an Vielfalt.

Dazu käme, dass immer mehr Spanier in Medienblasen feststeckten, was eine weitere Ursache für die immer stärkere Polarisierung der Gesellschaft sei (S. 618). Komplementär dazu ist die folgende Einschätzung zu sehen: »Früher beobachteten Journalisten die Realität, in der Ära des Digitalen beobachten sie, wie die Aktualität in den sozialen Netzwerken beobachtet wird. Diese Meta-Obser­vation, die typisch ist für viele spanische Medien, gefährdet die Demokratie« (S. 619).

Erschreckend ist zu sehen, wie hart die Wirtschaftskrise gerade die Presse getroffen hat. Zum Bei­spiel wurden für die auflagenstärkste Tageszeitung Spaniens, El Pais, 2007 noch 435.083 Tagesver­käufe, 2021 dagegen bloß noch 74.370 verzeichnet (S. 612).

3.3 Vergangenheitsbewältigung

Walther L. Bernecker hat sich schon viele Jahre intensiv mit der Vergangenheitsbewältigung (me­moria histórica) in Spanien befasst und tut das auch in seinem fundierten Beitrag zu dem vorliegen­den Band. An dieser Stelle soll wieder nur auf einen Aspekt abgestellt werden, nämlich dass gerade die Vergangenheitsbewältigung zu einem zentralen Zankapfel der politischen Polarisierung gewor­den ist. Viele Jahre hatten die politischen Eliten nach Francos Tod 1975 »in der Frage der Ver­gangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung« an den Tag gelegt (S. 174). Die Amnes­tie von 1977, so das beliebte Wortspiel, ging mit politischer Amnesie einher.

Die Politisierung und Polarisierung setzte in der Regierungszeit José María Aznars ein, und ist sichtbar geworden an der Weigerung des konservativen Partido Popular, an der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuwirken und diese sogar nach Kräften zu behindern (S. 178, 181). Mit der Grün­dung der Partei Vox (2013) nahm der Geschichtsrevisionismus der rechten Kräfte weiter zu: »Jahr­zehnte intensiver historischer Forschung werden beiseitegeschoben, altfranquistische Mythen wer­den in neofranquistischem Gewand als historische Wahrheiten präsentiert.« (S. 195). Auf der ande­ren Seite haben die von dem PSOE (Partido Socialista Obrero Español) geführten Regierungen Ge­setze durchgebracht ‒ 2007 das »Gesetz zur historischen Erinnerung« (Ley de Memoria Histórica) und 2022 das »Gesetz zur Demokratischen Erinnerung« (Ley de Memoria Democrática) ‒, die zwar nicht allen weit genug gehen, die allerdings den Unrechtscharakter des Franco-Regimes eindeutig feststellen, die Präsenz des Franquismus im öffentlichen Raum zurückdrängen sollen und die An­sprüche der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur anerkennen.

An dieser Stelle ist auf den Beitrag Dieter Ingenschays zur »Literatur als Reflex gesellschaftlicher Debatten« hinzuweisen, der unter anderem den Boom der neueren Bürgerkriegsliteratur (1985-2010) behandelt. Die Bürgerkriegsliteratur ab 2000 erweist sich dabei als engagierte Literatur, die sich in die politische und geschichtswissenschaftliche Diskussion einklinkt, und dadurch selbst »Teil dieser Auseinandersetzung geworden« ist (S. 574).

4. »Das bewegte Spanien«

4.1 Protestbewegungen und neue Parteien

Auf die strukturellen Probleme und die Folgen der Krise (2008-2014) hat die Gesellschaft, wie Ju­lia Macher, Journalistin mit Wohnsitz in Spanien, aus eigener Anschauung weiß, mit einem Politi­sierungs- und Mobilisierungsschub reagiert, der in der »Bewegung gegen Zwangsräumungen« (Plattform der Hypothekengeschädigten), der »Bewegung der Empörten« (15-M) und der »Munizi­palbewegung« sichtbaren Ausdruck fand. Mit dem Abflachen der Krise, so ihre Beobachtung, wur­de, was als außerparlamentarische Bewegung begann, zunehmend in das etablierte politische Sys­tem integriert. Aus Podemos, die als »links-populistische« Bewegungspartei begann, wurde im Lau­fe der Jahre eine »klassische linke Partei« (S. 383), wodurch sie für bestimmte politisch linke Krei­se an Attraktivität verlor. Die Frage des Rezensenten, ob Podemos denn als Bewegungspartei auf Dauer hätte erfolgreich bleiben können, wird nicht erörtert.

Auf Ebene der Lokalpolitik hat sich die »Munizipalbewegung« nur in wenigen Städten halten kön­nen und konnte die politischen Verhältnisse nicht tiefgreifend verändern (S. 384f.). Zu den Folgen der Krise gehört aber auch die Gründung der rechtsextremen Partei Vox im Jahr 2013, die »vor al­lem von den Nachbeben des Katalonien-Konflikts« profitierte und »versuchte gesellschaftlichen Unmut in politisches Kapital umzumünzen« (S. 386).

4.2 Frauen- und LGTBIQ-Bewegung

Die Entwicklung der Frauenbewegung und der LGTBIQ-Bewegung seit den 1970er Jahren erläutert Werner Altmann kenntnisreich. Sie »erkämpften sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte ihre Ent­kriminalisierung und eine gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichstellung, wie es sie noch nie in der spanischen Geschichte gegeben hat« (S. 269). Die Resonanz der LGTBIQ-Bewegung in der spanischen Literatur wird übrigens in dem bereits erwähnten Beitrag von Dieter Ingenschay behan­delt (S. 583-589).

In vieler Hinsicht nimmt Spanien in Europa, nicht nur wegen der hohen Demonstrationsbereitschaft seiner Bürger:innen eine besondere Rolle ein. Allein in Madrid sollen nach offiziellen Angaben rund 120.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Weltfrauentag 2020 – trotz Pandemie – auf den Beinen gewesen sein (S. 294). Eine Vorreiterrolle ist auch auf der gesetzgeberischen Seite feststell­bar. Vor allem unter dem sozialistischen Präsidenten José Luis Rodríguez Zapatero (2004 – 2011) wurde Grundlegendes rechtlich neu geregelt. Stichworte sind hier: Schutz vor häuslicher, machisti­scher Gewalt, Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht, künstliche Befruchtung und Präimplantationsdia­gnostik sowie Gleichstellung von Mann und Frau (S. 289-291).

Altmann weist auf innere Konfliktlinien und äußere Bedrohungen hin. Die sich seit Ende der 90er Jahre ausbreitende Identitätspolitik, habe »zu einer Entsolidarisierung der Frauen und sexuellen Minderheiten innerhalb der eigenen communities und gegenüber anderen marginalisierten gesell­schaftlichen Gruppen« geführt (S. 301). Hass in den sozialen Netzwerken und die Gegnerschaft der extremen Rechten setzen diesen Bewegungen von außen zu.

4.3 Bürgerinitiativen zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung

Auf eine andere, wichtige soziale Bewegung kommt Walther L. Bernecker in seinem bereits ange­sprochenem Beitrag »Widerstreitende Erinnerungskulturen in einem gespaltenen Land« zu spre­chen. Die Regierungen nach 1975 kümmerten sich nicht um die Exhumierung, Identifizierung und würdige Bestattung der auf über 100.000 (S. 174) geschätzten Opfer von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur, die im Lande verstreut, anonym verscharrt worden waren. Sie zeigten kein Interesse an der »Aufklärung von politischen Morden und Massenhinrichtungen, die die Aufständischen während des Bürgerkrieges und danach an den Anhängern der Republik verübt« hatten (S. 174f.). Bürgerin­itiativen nahmen sich dann des Themas an. Die erste Initiative dieser Art ging im Jahr 2000 von Emilio Silva aus, führte zur Gründung der »Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erin­nerung« (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) und ähnlicher Platt­formen, die seitdem Druck auf die Regionalregierungen ausüben, endlich erinnerungspolitisch tätig zu werden (S. 181f.).

4.4 Katholizismus und andere Religionen

In den Kontext des bewegten Spaniens lässt sich auch die Frage einreihen, was und wen die Kirche in Spanien heute noch bewegt. Maihold stellt dazu fest, dass der »religiöse cleavage in der Gesell­schaft zunehmend an Bedeutung für das politische Leben« verloren hat (S. 32). Eingehend behan­delt Mariano Delgado die gegenwärtige Bedeutung von Kirche und Religion. Folgt man seinen Ausführungen, dann hat Spanien in der Tat, um es auf eine Kurzformel zu bringen, aufgehört, ka­tholisch zu sein. Religionssoziologisch ist Spanien heute »ein stark säkularisiertes, religiös pluralis­tisches Land mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit, die bei Umfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet wie die Katholiken anderer westlicher Länder« (S. 203f.).

Die meisten Spanier:innen können sicherlich noch als »Kulturkatholiken« angesprochen werden (S. 204). Für katholisch halten sich nach einer Umfrage aus dem Jahre 2021 nur noch 56,6%, wovon die wenigsten praktizierende Katholiken sind. Etwas mehr als 40% bezeichnen sich dagegen als nicht-gläubig, atheistisch, agnostisch oder gleichgültig. Gleichzeitig gibt es aber – trotz aller Auflö­sungserscheinungen des Katholizismus – ein Revival der Volksreligiosität, die etwa an der Attraktivität von Bruderschaften, Pilgerreisen, Wallfahrten, festlichen Taufen und Kommunionen sowie Tierseg­nungen abzulesen ist (S. 232).

Interessant sind die Zahlen zu den Anhängern anderer Glaubensbekenntnisse und Religionen: die Zahl der Protestanten wird auf 1,5 Millionen geschätzt, wovon mehr als die Hälfte freikirchlich oder evangelikal ausgerichtet sein dürften. Gerade bei Einwanderern aus Lateinamerika erfreuen sich diese Richtungen großer Beliebtheit (S. 219). Orthodoxe Christen, etwa 900.00, sind vor allem die rumänischen Einwanderer (S. 223). Dem Islam zugerechnet werden etwa 2,5 Millionen Personen, die hauptsächlich aus Marokko und Algerien stammen. Die Zahl der Juden wird auf etwa 65.000 geschätzt, wovon 45.000 organisiert sind.

Lagerdenken und die Polarisierung finden sich auch bei der Religionspolitik: Nach Delgado wird in keinem anderen Land Europas »um die Laizität des Staates so intensiv und ideologisch gestritten wie eben in Spanien seit der Wahl Zapateros im Frühjahr 2004« (S. 213). Dieser (in Anführungszei­chen) »ideologische Bürgerkrieg« werde erst zu Ende sein, wenn einerseits »die Kirche die von ihr 1975 selbst erwünschten Bedingungen der Moderne restlos akzeptiert« und andererseits die Laizis­ten »jede kulturkämpferische Attitüde des 19. Jahrhunderts endgültig hinter sich lassen« (S. 235).

4.5 Migration

Das Thema Migration wird von dem ausgewiesenen Spezialisten Axel Kreienbrink faktenreich und umsichtig behandelt. Zu begrüßen ist dabei, dass er das Thema nicht auf Asyl und illegale Migrati­on begrenzt, sondern Zu- und Abwanderung insgesamt adressiert. Eine gewisse Orientierung geben die folgenden Zahlen: Im Jahr 2019 erreichte die Zuwanderung nach Spanien einen Rekordwert von 750.000 Personen (S. 249). Insgesamt lag die Zahl der ausländischen Bevölkerung Spaniens Anfang 2020 bei 5,43 Millionen, was bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 47,33 Millionen einem Anteil von 11,5 % entspricht. Zählt man alle in Spanien lebenden Menschen, die nicht in Spanien geboren wurden, erhöht sich dieser Anteil sogar auf 15%.

Von den 5,43 Millionen stammten 34,6% aus der EU (40,1% Europa gesamt), 27,2% aus La­teinamerika (28,6% Amerika gesamt), 22% aus Afrika und 9,2% aus Asien. Die zehn wichtigsten Herkunftsländer waren Marokko (15,9%), Rumänien (12,3%), Kolumbien (5,0%), Vereinigtes Kö­nigreich (4,8%), Italien (4,6%), China (4,3%), Venezuela (3,5%), Ecuador (2,4%), Bulgarien (2,3%) und Honduras (2,2%) (S. 250).

Erst ab 2020 wurden Asyl und illegale Migration zum Problem (S. 245ff.). Hatte es 2015 nur 15.000 Asylanträge gegeben, waren es 2019 bereits 118.000 Anträge, von denen 81% von Lateinamerika­ner:innen (insbesondere aus Venezuela, Kolumbien und Mittelamerika) gestellt wurden. Dreiviertel dieser Anträge wurden abgelehnt, was aber in vielen Fällen nicht bedeutete, dass ein Bleiberecht verwehrt wurde. Die illegale Migration über das Mittelmeer, Ceuta, Melilla und die kanarischen In­seln wird für das Jahr 2016 auf 64.000 Personen beziffert. Davon kam ein Fünftel aus Marokko. Durch Kooperationsabkommen mit Marokko ging dieser Anteil bis 2019 auf die Hälfte zurück.

Die gute Botschaft lautet: Nationale wie internationale Umfragen der letzten drei Jahrzehnte haben für Spanien im Unterschied zu anderen EU-Staaten »eine positive, tolerante Sicht auf Einwanderin­nen und Einwanderer« ausgemacht. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Neigung zur Polarisie­rung diesen Politikbereich auf Ebene der Regierungspraxis bislang aussparte. Kreienbrink stellt für die Jahre 2008-2020 insgesamt eine weitgehende Kontinuität bei den politischen und rechtlichen Maßnahmen fest, unabhängig davon, welche Partei die Regierung bildete. Unterschiede in Einzelpunkten schließt das nicht aus. Und selbst für die sich rassistisch-fremdenfeindlich äußern­de und vor allem gegen Muslime aus arabischen Ländern polemisierende Partei Vox, gehört das Thema bislang nicht zum »Markenkern« (S. 261). Die Gefahr, dass über das Agieren von Vox auch dieses Politikfeld polarisiert wird, ist allerdings nicht zu übersehen.

5. Nationalismen in Spanien

5.1 Spanischer Nationalismus

Fragen des Nationalgefühls und nationaler Bewegungen bilden ein weiteres Kapitel des bewegten Spaniens, auf das im Folgenden eingegangen wird. Xosé Manoel Núñez Seixas befasst sich mit dem spanischen Nationalismus. Anders als sich vermuten ließe, meint er damit nicht nur den zentra­listischen, neo-franquistischen, anti-separatistischen, illiberalen Nationalismus, der zuerst in der Re­gierungszeit von Aznar verstärkt auftrat und heute paradigmatisch von der Partei Vox vertreten wird. Für Núñez Seixas kennzeichnet alle spanisch patriotisch nationalistischen Positionen, dass sie »die Verfassung von 1978 als die legitime Basis für den Erhalt der politischen und territorialen Einheit Spaniens« ansehen (S. 308) und den Artikel 2 der Verfassung zur territorialen Staatsstruktur nicht in Frage stellen. Der Artikel spricht von der »unauflöslichen Einheit der spanischen Nation als ge­meinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier« (zitiert nach Maihold in diesem Band, S. 22).

Vereinfacht darf man die Auffassung von Núñez Seixas wohl so verstehen, dass im spanischen staatsnationalistischen Diskurs für Separation und Sezession kein Platz ist. Unter dieser Prämisse sind dann durchaus verschiedene Konzepte entstanden, wie Vielfalt und Einheit zusammenzubrin­gen wären, etwa in Formeln wie »Nation aus Nationen«, »Land aus Ländern«, »vielfältiges Spani­en«, aber letztlich, so das Fazit, fehle es immer noch an einer tragfähigen Formel und an einfallsrei­chen theoretischen und politischen Lösungen (S. 326f.). Welche Lösung der Autor selbst favorisieren würde, bleibt offen. Wichtig festzuhalten ist auf jeden Fall der folgende Befund: »[…] im Alltag sind die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel« (S. 316) und in der Regel gibt es heute keinen »wirkli­chen Konflikt zwischen ‚ethnischen‘ Gruppen, auch nicht zwischen ‚einheimischen‘ Spaniern und nicht-europäischen Einwanderern« (ebd.).

5.2 Katalanischer Nationalismus und Katalonienkonflikt

Carlos Collado Seidel stellt die Frage, die Viele teilen werden, die auf den Katalonienkonflikt schauen: »Wieso strebt eine hoch industrialisierte Region, die im Rahmen einer demokratischen Verfassung über weitgehende Autonomie verfügt, mit derartiger Vehemenz in die Unabhängigkeit?« (S. 99). Detailliert und in gut nachvollziehbarer Weise zeichnet Collado Seidel den Konflikt zwi­schen Katalonien als Teil der spanischen Nation und Katalonien als eigener Nation nach ‒ von den Anfängen bis zu seiner permanenten Zuspitzung ab 2000 und insbesondere von 2010 bis 2017, dem Jahr des gescheiterten Sezessionsversuchs, dem eine gewisse Ernüchterung und Beruhigung folgte. Am Ende steht bei Collado Seidel die Annahme, dass der Konflikt nicht einfach rational zu lösen ist, da das spanische und das katalanische Nationsverständnis nicht vereinbar seien: »Aus spani­scher Perspektive ist Katalonien ein integraler Bestandteil der spanischen Nation, während aus kata­lanischer Sicht ein eigener, hiervon losgelöster nationaler Bezugsrahmen sehr wohl existiert« (127f.). Dazu kommt, dass Nationalismen sich »vor allem aus Emotionen und Projektionen« spei­sen und »damit rational nicht zu fassen sind« (ebd).

Dem möchte der Rezensent hinzufügen, dass die zitierte katalanische Sicht in ihrer separatistischen Variante ‒ nach den Zahlen, die bekannt sind ‒, nicht von der Mehrheit der in Katalonien lebenden Bevölkerung geteilt wird. 1976, im ersten Jahr nach Francos Tod, sprachen sich Umfragen zufolge nur zwei Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit aus, im Jahr 2006 erst 14% (Zahlen nach B. Aschmann: Beziehungskrisen, 2021 und M. Clua i Fainé: Identidad y política en Cataluña, 2014). Die als relativ hoch angenommene Zustimmung zur Option einer Abspaltung ab 2013 ist mithin kein natürliches Faktum, sondern das Ergebnis eines politischen und sozialen Prozesses (mit einer langen Vorgeschichte). Das Hochkochen nationalistischer Emotionen in Katalonien hat schon meh­rere Konjunkturen erlebt. Die jüngste Konjunktur und Krise sollte nicht allein auf rational nicht zu fassende Emotionen zurückgeführt werden, wenngleich diese für ihre Dynamik wesentlich waren. Denn die Zuspitzung hing nicht zuletzt vom Kalkül und Agieren bestimmter politischer Akteure auf gesamtstaatlicher und katalanischer Ebene ab, denen an politischer Polarisierung gelegen war. Von der Verschwörung der verantwortungslosen Verantwortlichen sprach der Kolumnist und Schriftstel­ler Jordi Amat in diesem Zusammenhang (vgl. seinen Essay »La conjura de los irresponsables«, 2018). Auch das gehört zur Antwort auf die von Collado Seidel eingangs gestellte Wieso-Frage dazu.

5.3 Baskischer Nationalismus und das Ende des ETA-Terrorismus

Den Fall des baskischen Nationalismus von 2005 bis 2021 behandelt Ludger Mees ausführlich und mit großer Sachkenntnis. Hier wird nur ein Punkt herausgegriffen: das definitive Ende des ETA-Terrorismus nach einem halben Jahrhundert politisch motivierter Gewalt. Es ist interessant, dass für das Ende der Gewalt nach Ansicht von Mees eine Persönlichkeit von besonderer Bedeutung war: Arnaldo Otegi, der heutige Koordinator des linksnationalistischen Parteienverbands EH Bildu. Ihm wird wesentlich das Verdienst zugeschrieben, einen Wandel im Denken der radikalen baskischen Nationalisten bewirkt zu haben mittels eines Narrativs, wonach die Basken den nationalistischen Zielen nicht näher kämen, solange ETA aktiv sei. Stattdessen wäre eine breit gefächerte demokrati­sche Mobilisierung für die baskischen Freiheitsrechte nötig. Das beinhaltete die unmissverständli­che Botschaft an die ETA sich aufzulösen: »Der induzierte Selbstmord ermöglichte den ETA-Para­militärs wenigstens, öffentlich das von Otegi angebotene Narrativ vom einseitig beschlossenen Rü­ckzug als letzten, selbstlosen Beitrag zum Kampf des baskischen Volkes zu inszenieren« (158f.). Der Philosoph Fernando Savater, der selbst Morddrohungen der ETA bekommen hatte, konnte die­ser Inszenierung wenig abgewinnen: »Ohne unter der Kapuze zu zucken, versichern sie uns, durch den bewaffneten Kampf hätten wir den glücklichen Augenblick erreicht, da wir auf den bewaffneten Kampf verzichten können« (zitiert in Ingendaay in diesem Band S. 558). Dennoch war es, nach Mees, überhaupt nur vermittels dieses Narrativs möglich, die Spirale der Gewalt zu stoppen und eine Ausfahrt aus dem Labyrinth, so die Formulierung im Titel seines Beitrags, zu finden.

Um den langen Lebenszyklus der ETA zu verstehen, ist der Hinweis darauf, dass sich ein bedeuten­der Sektor der baskischen Gesellschaft – aktiv oder passiv – an der Legitimation der ETA-Gewalt beteiligte, wichtig. »ETA waren nicht nur die Kommandos, sondern auch die willigen Mitläufer. Dieses Phänomen muss einer der zentralen Themen bei jedem Versuch der Vergangenheitsaufarbei­tung und -bewältigung sein« (S. 164). Damit einher geht die Aufgabe zu verstehen, was dieser über Jahrzehnte sozial mitgetragene Terrorismus für die baskische Gesellschaft im Alltag bedeutet hat. In dem Roman »Patria« von Fernando Aramburu (2016; auf Deutsch 2018) finden sich die Lebensver­hältnisse jener Jahre im Baskenland plastisch und exemplarisch verarbeitet. Genau diesem Roman und seiner Bedeutung für die Debatten um ETA und den Terrorismus in Spanien ist der Beitrag von Paul Ingendaay im vorliegenden Band gewidmet (S. 541-561).

6. Fazit

6.1 Das Spanienbild des Bandes

Die Beiträge des Bandes fördern einerseits ein Spanienbild zu Tage, das durch wirtschaftliche und politische Sackgassen und Fehlentwicklungen, durch Krisen, Konflikte und Polarisierung gekenn­zeichnet ist. Ein besonders dunkler Fleck ist darin die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Dem steht auf der helleren Seite ein bewegtes, vielstimmiges Spanien gegenüber, das von den nationalen, regiona­len und kommunalen Protestbewegungen, die in der Krise von 2008 aufkamen, über die Frauen-, LGTBIQ- und ARMH-Bewegung bis zur Bewegung des España vaciada reicht.Viele zivilgesell­schaftliche Anliegen fanden Eingang in eine Reihe liberaler Gesetze nach 2004. Positiv zu bewerten ist außerdem die derzeitige Abwesenheit von Gewalt im Baskenland und in Katalonien und die Be­ruhigung der jeweiligen Konflikte. Besonders hervorhebenswert und ein Glanzlicht im Spanienbild ist nach Meinung des Rezensenten, dass bei allen Konflikten und bei aller Polarisierung auf der po­litischen Ebene, »im Alltag die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel« sind (S. 316).

6.2 Der Band »Spanien heute« – ein Resümee

In dem Sammelband werden viele Fragen zur Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Spaniens nüch­tern und kompetent abgehandelt. Übergreifend gilt, dass die Autorinnen und Autoren erfreulicher­weise stets auch die politische Dimension ihres Gegenstandes im Auge haben, selbst bei Themen wie Tourismus, Religion, Sport oder Literatur. Insgesamt kann von einer wissenschaftlich abgesi­cherten, problemorientierten, kritischen Sicht auf Spanien im Jahr 2022 gesprochen werden. Wer sich tiefer gehend über die spanischen Verhältnisse themenspezifisch oder generell informieren möchte, bekommt mit dem vorliegenden Sammelband eine ausgezeichnete Grundlage.

Wünsche der Art, dass manche Themen hätten eingehender behandelt werden sollen (z.B. die West­sahara-Frage) oder weitere Themen noch in den Band gehört hätten (z.B. die sozialen Sicherungs­systeme oder das Bildungssystem) stehen jedem frei. Angesichts der Grenzen eines solchen Sammelbandes, versteht es sich allerdings von selbst, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Insistieren würde der Rezensent nur in einem Punkt. Insgesamt wäre, über den hervorragenden Beitrag von Sabine Tzschaschel zur Landnutzung hinaus, noch weit mehr Aufmerksamkeit für das Themenfeld Nachhaltigkeit, Klimawandel, Umweltbewe­gung und Umweltpolitik, Energiewende und Energiepolitik (samt Atomausstieg) zu wünschen ge­wesen. In der nächsten Auflage von »Spanien heute« wird diesen Themen mehr Raum gegeben werden müssen. Ein weiterer Wunsch für die nächste Auflage wäre, die Autor:innen zu ermuntern, wo immer möglich, Vergleiche mit der jeweiligen Situation in anderen Ländern, besonders aber mit Deutschland, anzustellen. Denn das Verstehen anderer Verhältnisse wird durch den Vergleich mit Bekanntem entscheidend erleichtert und oft erst möglich.


Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. 6., vollständig neu bearbeitete Auflage. Verlag Klaus Dieter Vervuert: Frankfurt am Main 2022; ISBN: 978-3-96869-280-7

Das Buch ist beim Verlag auch im Epub-Format erhältlich.



Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur

Gegen den Strich und gegen den Mainstream: neue Perspektiven, neue Einsichten

Rezension von Knud Böhle

1. Was zum Autor und seinem Buch eingangs zu sagen ist

Die vorliegende Geschichte der spanischen Literatur ist ein sehr persönliches Buch geworden. In gewisser Weise bietet es eine Summa der Lese-, Lehr- und Lebenserfahrungen eines Literaturwis­senschaftlers, der mehr als 50 Jahre zur spanischen Literatur geforscht und gelehrt hat. Zuletzt, von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2017, lehrte er spanischsprachige Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Mehrere Jahre war er zudem Präsident des Deutschen Hispanistenver­bandes. Viele spanische Autoren und Autorinnen lernte er persönlich kennen, darunter Juan Goyti­solo, «der kreativste Autor des 20./frühen 21. Jahrhunderts» (S. 336), und die hoch geschätzte, 2021 verstorbene Erfolgsautorin Almudena Grandes. Auf beide kommt Ingenschay mehrfach aus­führlich zu sprechen.

Die Grundstimmung des Buches ähnelt atmosphärisch einem Kamingespräch, bei dem ein erfahre­ner Hispanist seine Ansichten und Einsichten in nicht zu strenger Form, darum Anekdotisches und Privates einflechtend, weitergeben möchte. Susanne Zepp, derzeit Vorsitzende des Deutschen Hispanistenverbandes, spricht in ihrem kurzen Vorwort vom «biographisch-reflexiven Ansatz» des Au­tors (S. V). Angesprochen fühlen dürfen sich alle Leserinnen und Leser jedweden Geschlechts, die sich für die Literatur Spaniens – auch jenseits von «Höhenkamm-Literatur» (S. 4) und Main­stream – interessieren.

Auf der persönlichen Website des Verfassers ist zu erfahren, dass er sich in seinen Forschungen be­sonders mit zeitgenössischer Literatur, dem Themenfeld Gender Studies/ Gay Studies/ LGBTIQ+ Studies, dem Thema Großstadtliteratur sowie theaterästhetischen Problemen befasst hat.  Als Hochschullehrer ist er selbstverständlich auch bestens mit der Barockliteratur des «goldenen Zeitalters» vertraut. Das spezialisierte Fachwissen kommt in seiner Literaturgeschichte entsprechend stark zum Tragen.

2. Was den Ansatz des Buches und seine Struktur ausmacht

Eine auf Vollständigkeit abzielende Geschichte der spanischen Literatur vorlegen zu wollen, zumal als Einzelperson, wäre ein vermessenes Unterfangen. Daraus hatte Hans Ulrich Gumbrecht, übri­gens einer der Gutachter der Dissertation von Ingenschay, bereits 1990 die Konsequenz gezogen, und bewusst «Eine Geschichte der spanischen Literatur» vorgelegt. Der Vorteil einer solchen Ein­schränkung liegt auf der Hand: die eigenen Vorlieben, Forschungsperspektiven und Interessensc­hwerpunkte, also das wovon er oder sie am meisten versteht, können in den Vordergrund rücken. Der Nachteil, der dafür in Kauf zu nehmen ist, liegt zwangsläufig bei einem Verlust an Systematik und Abdeckungsgrad. Etwa 30 Jahre nach der Literaturgeschichte von Gumbrecht, und wieder kurz vor einer Buchmesse mit Spanien als Ehrengast und entsprechendem Schwerpunkt, wurde nun «Eine andere Geschichte der spani­schen Literatur» veröffentlicht.

In der Einleitung verdeutlicht der Verfasser sein besonderes Interesse an der Überschreitung (Transgression). Ihm ist daran gelegen, die konventionellen Perspektiven, Herangehensweisen und Interpretationsmuster zu hinterfragen und Alternativen anzubieten:

Die allgemeinste Formel, welche die Kapitel eint, ist die der Transgression, einer Trans­gression, die oft von einer Lektüre «gegen den Strich» ausgeht, nicht nur gegen den Strich des literarischen Höhenkamms, sondern insgesamt gegen den Strich herkömmlicher Betrachtungsweisen der spanischen Literatur (S. 3).

Ingenschay präzisiert weiter, worauf es ihm ankommt:

Es kann natürlich nicht darum gehen, historische Achsen oder Entwicklungslinien zu leugnen, sondern darum, unentdeckte Bezüge aufzuzeigen, subjektive Sichtweisen vorzuschlagen und andere Prioritäten, alternative Verbindungslinien als die des chronologischen Verlaufs zu un­terstreichen, etwa die der transgressiven Artikulation ästhetischer Sachverhalte, die zentrale Rolle der Fragen von Gender und Macht, oder die Interdependenz von Politik und literarischem Diskurs (S. 10).

Die zehn Kapitel (siehe die Hauptüberschriften in Tabelle 1) können für sich stehend als Essays ge­lesen werden. Erst über das Netz an übergreifenden Bezügen jedoch, wird daraus eine Literaturge­schichte.


  1. Ein Land voller Poesie. Lyrik vor und nach und während der «Generation von 1927» Cervantes und die Transgressionen
  2. Krisen und Chancen: von 1898 zu 2010
  3. Der Bürgerkrieg und seine Traumata. Historisches Gedächtnis und Erinnerungspraxis
  4. Von Madrid zum Himmel? Madrid-Literatur zwischen madrileñismo und Gesellschafts­kritik (Pérez Galdós, Cela, Grandes)
  5. Begehren und Aufbegehren. Literarische Dokumente des Transgressiven
  6. Lorca und die Missverständnisse
  7. Verunsicherte Geschlechterordnung und zweifelhafte (Mannes)-Ehre im Barockdrama (Calderón de la Barca, Lope de Vega, Tirso de Molina)
  8. Literatur aus und in den autonomen Regionen – zur Diversität der spanischen Literatur und zur Frage nach dem Ort jüdisch-spanischen Schreibens heute
  9. LGBTIQ+-Themen in der spanischen Literatur
  • Literaturverzeichnis
  • Namensregister

Tabelle 1: Oberste Ebene des Inhaltsverzeichnises.
Bei der Deutschen Bibliothek ist das detaillierte Inhaltsverzeichnis abrufbar:
https://d-nb.info/1249017742/04


Die sich durchziehenden Fäden werden über Autoren, intertextuelle Bezüge und Themen zu einem Netz gespannt. Beispielsweise werden Werke von Almudena Grandes in mehreren Kapiteln erörtert: in Kap. 6, in dem es um Begehren und Aufbegehren in der von Frauen geschriebenen Literatur geht, in Kap. 5 zur Madrid-Literatur und in Kap. 4, das die Bürgerkriegsliteratur behandelt. Von Juan Goytisolo kommt im Bürger­kriegskapitel ein Werk zur Sprache und in Kap. 10 zur LGBQTI+-Lite­ratur ein anderes.

Ein intertextueller Pfad geht z.B. von dem in Spanien bekannten, katholisch-mystisch-erotisch ge­prägten Barockgedicht des Johannes vom Kreuz (1542-1591) «En una noche oscura…» aus.

In ei­ner dunklen Nacht / mit sehnsuchtsvollem Bangen in Liebe entflammt / o glückliches Geschick! / ging ich hinaus, unbemerkt / da mein Haus schon in Ruhe dalag. […] O Nacht, die du vereintest / Geliebten mit Geliebter / Geliebte in den Geliebten verwandelt! […] (vgl. S. 36).

Dieser Pfad führt zunächst weiter zu einer parodistisch homoerotischen Variante des Gedichts von Jaime Gil de Biedma. Diese war 1983 im Kontext der movida entstanden, also jener zum Teil schrillen kulturellen Explosion Spani­ens nach Francos Tod. Bei Juan Goytisolo findet sich der Ausgangsstoff wenige Jahre später wieder in dem Roman «Die Reise zum Vogel Simurgh» (dt. 2012, Orig.: Las virtudes del pájaro solitario, 1988). Die Zei­ten haben sich geändert. AIDS kursiert. Im Licht von Eros und Thanatos und im Geiste von San Juan de la Cruz hat Goytisolo den Stoff neu durch- und umgearbeitet. Thematisch geht es bei Ingen­schay immer wieder, von Cervantes bis zur Gegenwart, um sexuelles und insbe­sondere um nicht-heterosexuelles Begehren.

Im Rückblick auf die 10 Kapitel des Buches insgesamt, lassen sich zwei Hauptachsen unterschei­den. Die erste Achse dreht sich um das Aufbegehren gegen das Konforme, gegen die herrschenden gesellschaftliche Normen. Die Auf­merksamkeit gilt sexuellem Begehren, Transgressionen und gen­der trouble. Es geht komplementär aber auch um den gesellschaftlichen Umgang mit Abweichung­en von der Norm, und das bedeutet im besten Fall die Anerkennung von Diversit­ät. Am «Don Quijote» des Miguel de Cervantes wird die humanistische Toleranz dann konkret auf­gezeigt.

Diversität in einem weiten Sinne verstanden als das Einbeziehen des von der dominanten Kultur Ausgegrenzten bedeutet für die vorliegende Literaturgeschichte unter anderem, dass Literatur von Frauen stark vertreten ist (namentlich im Kap. 6 mit Emilia Pardo Bazáns, Carmen de Burgos, Al­mudena Grandes, Najat El Hachmi, Rosa Montero). Im LGBTIQ+Kapitel (Kap. 10) sind es dann insbesondere Werke nicht-heterosexueller Autoren, die vorgestellt werden (Juan Goytisolo, Álvaro Pombo, Eduardo Mendicutti, Luis Antonio de Villena, Terenci Moix, Luisgé Martín). In diesem Ka­pitel findet auch die so genannte dekadente Literatur der Jahrhundertwende ihren Platz.

Diversität zeigt sich auf einer anderen Ebene darin, dass die Literaturen Kataloniens, des Basken­landes und Galiziens sowie die sephardische Literatur extra behandelt werden (Kap. 9). Sephardi­sche Literatur meint hier sowohl die Werke, die in der sephardischen Diaspora entstanden als auch spanische Literatur mit jüdischer Thematik (z.B. die historischen Romane von Carme Riera zur Ver­treibung der Juden aus Spanien) und schließlich auch die Arbeiten aktueller spanischer Autoren mit sephardischem Hintergrund.

Bei der zweiten Achse geht es um die Verarbeitung von politisch-gesellschaftlichen Krisen und Trau­mata in der spanischen Literatur (Kap. 3 und 4). Ingenschay geht auf die Krise nach dem Ver­lust der Kolonien 1898 (Kuba und Philippinen) und den zugehörigen Diskurs der «Generation von 98» (la Generación de 98) ein. Aber auch das literarische Echo der jüngeren Krisen, Katastrophen und Konflikte nach dem Ende der Franco-Diktatur wird aufgegriffen (versuchter Staatsstreich vom 23. Februar 1981, islamistisches Attentat auf die Madrider Vorortzüge am 11. März 2004 und die Fi­nanz- und Bankenkrise mit ihren sozialen Folgen ab 2008).

Dem Bürgerkrieg und seinen Traumata wird ein eigenes Kapitel gewidmet, das von den Jahren des Bürgerkriegs (1936-1939) über Exil und «inneres Exil» im Franquismus bis in unsere Tage reicht. Den Boom der neueren spanischen Bürgerkriegsliteratur sieht Ingenschay zwischen 1985 und 2010, mit einem Höhepunkt ab dem Jahr 2000 mit mehr als 100 Buchtiteln (vgl. S. 141f.). In den jüngeren Publikationen wird das Themenfeld Krieg und Diktatur häufig vor dem Hintergrund der politischen Debatte um die Vergangenheitsbewältigung bearbeitet, und die dabei entstehenden Werke werden selbst Teil des Streits um das historische Gedächtnis und eine angemessene Erinnerungspolitik.

3. Was diese Geschichte der spanischen Literatur so gut lesbar macht

Die andere spanische Literaturgeschichte ist außerordentlich gut lesbar. Dafür gibt es eine Reihe an Gründen. Erstens schreibt Ingenschay allgemeinverständlich und findet oft prägnante Formulierun­gen, etwa wenn er vermerkt: «Das Thema des gender trouble, des cross-dressing, der bärtigen Frau­en und der allzu sanften Männer hat im spanischen Barock Konjunktur» (S. 318).

Es gelingt ihm, zahlreiche (gefühlt mehr als 100) komplexe Werke auf wenigen Seiten, manchmal in nur wenigen Absätzen, zu resümieren und auf den Punkt zu bringen, an dem die Interpretation ansetzen kann. Weil so viele Titel besprochen werden, kann das Buch auch als anregender Literatur(ver)führer dienen. Berücksichtigt werden häufig AutorInnen, deren Werke ins Deutsche übersetzt wur­den. Für ein deutsches Publikum ist es ein nützlicher Service, dass die deutschsprachi­gen Ausgaben im Literaturverzeichnis ausgewiesen sind. Um hier einige der in Deutschland be­kannteren noch lebenden AutorInnen aufzurufen, mit deren Werken sich das Buch befasst: Fernando Aramburu, Bernardo Atxaga, Najat El Hachmi, Rosa Montero, Antonio Muñoz Molina, Carme Rie­ra, Manuel Rivas, Isaac Rosa.

Was die AutorInnen angeht, werden häufig biografische Details und Anekdotisches eingearbeitet. Als kleines Beispiel sei eine Passage über Álvaro Retana (1890–1970) gewählt, der ein herausra­gender Vertreter der dekadenten Literatur Spaniens war.

Sich selbst bezeichnete der Autor, der gern einen rosafarben bestickten Umhang trug, gelegent­lich als den «schönsten Romancier der Welt» (el novelista más guapo del mundo). Auch er stand im Bürgerkrieg dezidiert auf republikanischer Seite (und schaffte sich einen seidenen Blaumann an, um sich ein arbeiter-affines outfit zu geben). Prompt wurde er (wegen des Besitzes katholi­scher Kultgegenstände) verhaftet und verurteilt, und nur Papst Pius XII., Hochhuths notorischer «Stellvertreter», konnte eine Umwandlung der Todesstrafe in einen Haftaufenthalt bewirken, der bis 1948 dauerte (S. 379).

Dass Ingenschay persönliche Erfahrungen und Begegnungen, angenehmer und weniger an­genehmer Art, mit Schriftsteller*innen und Fachkollegen einfließen lässt, ist ein weiteres Stilmittel.

Ein anderes belebendes Element ist die hin und wieder bewusst kontrastierende Auswahl der be­sprochenen Werke. So wird z.B. im Zusammenhang mit dem Staatsstreichversuch vom 23. Februar 1981 einmal das Geschehen aus dem Erleben eines Transvestiten heraus beschrieben, der sich vor der Rückkehr der Diktatur fürchtet (Eduardo Mendicutti: Una mala noche la tiene cualquiera, 1982). Dem wird eine dokumentarisch-fiktionale Darstellung entgegengesetzt, bei der führende Po­litiker der transición die Hauptpersonen sind (Javier Cercas: Anatomía de un instante, 2009; dt. Anatomie eines Augenblicks, 2009). Ein zweites Beispiel stammt aus dem Abschnitt über die kata­lanische Literatur: Eine Dreiecks- bzw. Ehebruchgeschichte von Montserrat Roig, bei der eine aus Andalu­sien stammende Frau eines katalanischen Metzgers sich in einen katalanistischen Aktivisten ver­liebt, wird kontrastiert mit einem Roman von Juan Marsé, in dem eine Katalanin mit katalani­schem Gatten, diesen mit einem Andalusier betrügt (vgl. S. 341).

Der deutschen Leserschaft entgegenkommend werden zwei Deutsche mit starkem Spanienbezug über zwei kleine Exkurse ins Spiel gebracht. Ingenschay zeigt, dass der Versuch über die Juke­box von Peter Handke eine veritable Hommage an den Dichter Antonio Machado enthält. Ein zweiter Exkurs greift den Streit um Enrique Beck auf, den über viele Jahre allein autorisierten Übersetzer Lorcas ins Deutsche (ab 1946), dessen Übertragungen häufig kritisiert wurden, wie etwa in dem Hans-Magnus Enzensberger zugeschriebenem Urteil deutlich wird: «Lorca sei in der Beck’schen Version eine ‹Art Zigeunerba­ron aus Granada›» (vgl. S. 286).

Nebenher wird auch noch hispanistisches Grundwissen vermittelt. Das nötige Fachvokabluar wird im jeweiligen Kontext knapp erläutert (einschlägig: gruegería, tremendismo, esperpento, costum­brismo, madrileñismo, Krausismo, Generación del 98, Generación del 27). Bei den Werkinterpretat­ionen geht Ingenschay häufig von anerkannten Interpretationen anderer Hispanisten aus und stellt diesen seine Sicht entgegen, ‒ aber ohne sich dabei zu sehr auf seine Meinung zu ver­steifen, und ohne die Leserinnen und Leser zu sehr in Fachkontroversen oder Theorienstreit hinein­zuziehen.

4. Exemplarische Befunde aus vier Kapiteln zeigen, was diese Literaturgeschichte leisten kann

Aus der Fülle der in den zehn Kapiteln gebotenen Informationen und Befunde werden in diesem Abschnitt nur einige wenige Beispiele herausgezogen und kurz besprochen: aus dem Kapitel über Cervantes (Kap. 2) werden Einsichten zu den «Ex­emplarischen Novellen» vorgestellt, aus dem Ka­pitel über das Drama im Barock (Kap. 8) werden Erkenntnisse zum «Ehrbegriff» wiedergegeben, aus dem Kapitel zu Federico Garcia Lorca (Kap. 7) werden Hinweise auf dessen Innovativität als Lyriker und Bühnendichter aufgegriffen und bei dem Kapitel zur Madrid-Literatur (Kap. 5) wird das Augenmerk auf den jeweiligen Einbezug der Stadt Madrid in den Romanen vom Realismus bis zur Postmoderne gelegt.

4.1 Zu den «Exemplarischen Novellen»

Im Kapitel über Cervantes, das dankenswerterweise alle Werke anspricht und keineswegs nur den Quijote, zeigt die Analyse der «Exemplarischen Novellen», wie ergiebig eine Lektüre gegen den Strich sein kann. Liest man nämlich diese Erzählungen genauer, so findet man «[…] nicht nur etwas ‹Unmoralisches› in jeder von ihnen, sondern nahezu eine Orgie der Transgressionen, der Tabuver­letzungen, Elemente allesamt, die ich – vor der Folie der zeitgenössischen Werteskalen – als uner­hört klassifizieren musste» (S. 92). Das Attribut exemplarisch diente folglich nur dazu, «den für die Gattung, besonders bei Boccaccio, konstitutiven, sexuell konnotierten Skandal hinter einer Fassade moralischer Vorbildlichkeit zu verstecken» (S. 94). Ingenschay sieht hier eine «zentrale diskursive Strategie» des Autors. Offen bleibt, inwieweit es damals gängige Praxis war, den Anschein der poli­tisch-moralischen Korrektheit zu wahren, um sich dann gewisse Freiheiten herausnehmen zu kön­nen.

4.2 Zum Konzept der Ehre im Barockdrama

Zum Konzept der Ehre im Barockdrama bietet Ingenschay, gestützt auf einschlägige neuere For­schungsarbeiten, überraschende Einsichten. Meistens gilt, dass Männer sich gegenüber Frauen so ziemlich alles erlauben können, ohne Kritik oder Strafe befürchten zu müssen. So wird etwa in dem, üblicherweise Tirso de Molina zugeschriebenem Don-Juan Drama von 1619 «Don Juan oder der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast» dem Don Juan nicht der Garaus gemacht, wegen sei­nes verwerflichen Umgangs mit Frauen («… und das größte / Vergnügen, das ich kenne / ist, eine Frau zu verführen / und sie ohne Ehre zurückzu­lassen», zitiert auf S. 331). Es ist am Ende das Ver­gehen der Gotteslästerei, das den Himmel einschreiten lässt und Don Juan mit dem Tod bestraft (vgl. ebd.).

Zeitgleich taucht in dem berühmten Stück von Lope de Vega «Fuente Oveju­na» (1619; dt.: Das Dorf Fuente Ovejuna / Sein ist Schein) ein erstaunlicher Fall auf, in dem ein Adliger sich nicht mehr alles erlauben kann. Eine junge Frau wird durch den adligen Komtur des Ortes bedrängt. Durch eine flammende Rede an die Männer des Dorfes erreicht sie, dass der adlige Frauenschänder gelyncht wird. In Vergegenwär­tigung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds verschiebt sich die Sicht auf diese emanzipiert wirken­de weibliche Protagonistin. Es wird gezeigt, dass insbesondere nach dem Trien­ter Konzil die Frage der Ehre mit der limpieza de sangre (der Reinheit des Blutes) kurzge­schlossen wurde. Dadurch wur­de eine Konstellation möglich, bei der die Leute vom Lande als christliche Altspanier ihre Ehre auf Blutreinheit gründen und gleichzeitig dem Adel seine mögliche Mischung mit jüdischem oder maurischem Blut vorhalten konnten. «So geht es in Fuente Ovejuna in zeitgenössischer Perspektive nicht primär um Fragen von Emanzipation und Frauenehre in einem heutigen Sinne, sondern um eine Darstellung der Folgen des neu institutionalisierten Antisemitis­mus und der Islamfeindlichkeit im Anschluss an die Zwangskonversion oder Vertreibung der Juden nach 1492» (S. 324).

4.3 Zu Garcia Lorca und seinem Werk

Das Kapitel über Federico Garcia Lorca (1898-1936) ist nicht zuletzt deshalb lohnend, weil es Ord­nung schafft. Es behan­delt die gesamte Lyrik und die Theaterproduktion und umfasst sowohl die zu Lebzeiten als auch die posthum veröffentlichten oder auf die Bühne gebrachten Werke. Gerade die späten, selten auf­geführten Werke haben «allesamt stark experimentellen Charakter» und zeigen, «dass Lorca im Kontext der ästhetischen Wandlungsprozesse der späten 1920er Jahre eine grundle­gende Erneue­rung der zeitgenössischen Dramatik anstrebte» (S. 283). Im Bereich der Lyrik sieht In­genschay die 220 Verse lange Klage auf den Torero, Weltmann, Dandy und Schriftsteller Ignacio Sánchez Mejías, den Llanto por Ignacio Sánchez Mejías, «in ihrer spezifischen Mischung traditio­neller lyrischer Figu­ren und innovativer, idiosynkratischer Elemente als Summa der lyrischen Pra­xis Lorcas» (S. 292). Leben und Werk Lorcas werden außerdem auch mit Blick auf die Homosexua­lität des Autors analy­siert: die mal offenere, mal versteckte Präsenz der Homosexualität in den Tex­ten, die Schwierigkeit Lorcas, seine Homosexualität zu leben und die Schwierigkeiten seines dama­ligen Um­feldes, aber auch der Nachwelt der Erben, Rechteverwerter und der spanischen Gesell­schaft, offen mit der Homosexualität des Dichters umzugehen – ohne ihn im anderen Extrem gleich zur «schwulen Ikone» (vgl. S. 299ff.) hochzustilisieren.

4.4 Zur Entwicklung des Madrid-Romans

Das Kapitel über die Madrid-Literatur ist nicht nur das längste und das facettenreichste, es ist auch besonders gut durchkomponiert. Man sieht die Entwicklung der Stadt Madrid förmlich in der Lite­ratur nachvollzogen. Benito Pérez Galdós, dem Realismus zugerechnet, steht am Anfang, und er steht gleichzeitig auch für den co­stumbrismo vieler Madrid-Romane, also mit Ingenschay für die «Literalisierung des stets etwas provinziell anmu­tenden städtischen Alltagslebens mit seinen Sitten und Gebräuchen» (S. 185). Das Überschreiten der Grenzen von Stadtvierteln wird für die Personen des Romans (aufgezeigt z.B. an dem Roman «Fortunata y Jacinta» aus dem Jahre 1887) ein Über­schreiten sozialer Grenzen.

Der moderne Großstadtroman im engeren Sinn, «La colmena», stammt von Camilo José Cela und wurde zuerst 1951 in Argentinien und dann 1955 auch in Spanien veröffent­licht (dt.: Der Bienen­stock, 1964). Ingenschay betrachtet diesen Roman als den «‹Null­punkt› der modernen Aneignung Madrids» mit der charakteristischen Vereinzelung und Anonymität ihrer Bewohner.

In einer späteren Phase verlagert sich die Aufmerksamkeit dann zunehmend vom Zentrum in die Peripherie der Armenviertel. In dem 1961 erschienenen fulminanten Roman «Tiempo de silencio» von Luis Martín-Santos (dt.: Schweigen über Madrid, 1991) werden Zentrum und Peripherie bereits in Beziehung gesetzt. In späteren Romanen wie «Madrid 650» (1985) von Francisco Umbral domi­niert dann die Peripherie. Umbral hat sich in diesem Roman «von einer Stadtsemiotik, die auf die Zentralität eines innerstädti­schen Kerns setzt, verabschiedet» (S. 650).

Im Madrid-Roman «Ciudad rayada» (1998, «Die Stadt mit den Streifen») von José Ángel Mañas trifft man einen neumodernen madrileñismo an. Dem madrileñista «bedeutet die Hauptstadt nicht nur Lebensmittel­punkt, sondern Quelle der Inspiration und Objekt der Bewunderung» (S. 200). Protagonist ist ein junger Student, der vom Drogen­handel lebt. «Die Stadt dient ihm als ästhetische Inspiration, zumal er sich in seiner Freizeit Technomusik widmet. In seine Stücke hinein mischt er den Sound, der das postmoderne Madrid am bes­ten repräsentiert: den Lärm der Stadtautobahn M 30. Dies lässt sich als heimliches Leitmo­tiv der postmodernen Anverwandlung Madrids bezeich­nen» (S. 218).

Von einem begrünten Abraumhügel im Süden Madrids schaut der Student mit seiner Freundin auf die Stadt:

Es war, als ob das ein großer Bienenkorb von Irren wäre, und wir oben drauf wären und die Welt kontrollierten […] Die Wolken sahen lila aus, und die letzten Sonnenstrahlen äh­nelten den Lasern in der Disko­thek. Wir sahen das Planetarium von Atocha, und die M 30, schon erleuchtet… (Ausschnitt aus dem Zitat bei Ingenschay, S. 219).

Ingenschay reflektiert daran anschließend «die Unterschiede zwischen der Bienenstock-Metapher bei Galdós, Cela und Mañas» (S. 219), und das macht den Wandel von Stadt und Lebensgefühl noch einmal deutlich: «Während Galdós (in seinem Roman Misericordia) eine Zeile aufgereihter Wohnungen in einem armen Viertel nahe der Ronda de Toledo konkret als ‹Bienenstock› bezeich­net, drückt Cela mit dieser Metapher die ‹essenzielle› Entfremdung der verlorenen ‹Bienen› aus – in seinem Roman laufen alle Menschen gesenkten Hauptes. Mañas dagegen bedient sich des Tricks der erhabenen Perspektive, um sich Madrid hedonistisch anzuverwandeln. Mañas reinterpretiert die Bienen-Metapher also ästhetisch, unter Beimischung einer ordentlichen Prise postmoderner Stadter­fahrung» (S. 219).

5. Anmerkungen zur Behandlung der Krisenliteratur bei Ingenschay

Ohne «Mut zur Lücke» (S. 3) hätte die andere Geschichte der spanischen Literatur gar nicht ge­schrieben werden können. Das schließt nicht aus, dass manche Leserin und mancher Leser, die eine oder andere Lücke bedauerlich findet. Auf solche Lücken wird im Folgenden aufmerksam gemacht. Außerdem wird hinterfragt, in wieweit der selbst gesetzte Anspruch, «die Interdependenz von Poli­tik und literarischem Diskurs» (S. 10) aufzuklären, in den Kapiteln, die sich mit den Krisen, Kata­strophen und Traumata der spanischen Ge­schichte befassen, eingelöst wird.

5.1 Krisendiskurs in Spanien Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Verlust der Kolonien

Nach dem Verlust der Kolonien, Kubas und der Philippinen, 1898 im spanisch-US-amerikanischen Krieg war eine Krisenstimmung entstanden, die intellektuell verarbeitet wurde. Dieser Kontext wird gut und ausführlich beschrieben. Dazu gehört auch die Genese der «Generation der 98er», zu der meis­tens die prominenten Schriftsteller Miguel de Unamuno, Enrique de Mesa, Ramiro de Maeztu, Azorín, Antonio Machado, Pío Baroja und Ramón del Valle-Inclán und nicht zuletzt Ángel Ganivet (als Vorläufer) gerechnet werden. Ingenschay steht auf der Seite der Literaturwissenschaftler, die in der Rede von der Generati­on der 98er eine Zuschreibung von außen sehen, ein Label unter dem man sehr unterschiedlich den­kende und schreibende Personen «zwangsvereint» (vgl. S. 111) hat, die sich nicht einmal selbst als Gruppe verstanden.

Unabhängig davon, ob das nun eine Gruppe war oder nicht, kann doch davon ausgegangen werden, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein langfristig wirkmächtiges Narrativ entstand, des­sen Kern «das kollektive Lamentieren angesichts einer ‹nationalen Katastrophe›» (S. 110) war. Dieser Diskurs wird jedoch in dieser Literaturgeschichte nicht weiter durch Werkanalysen untermauert. Das mag damit zu tun haben, dass der stark auf die Interpretation einzelner erzählerischer Werke ausgerichtete Ansatz Ingenschays die Essayistik, die typische Form für die literarische Reflexion von Ge­schichte und Politik, von Krisen und Katastrophen, weitgehend ausspart. Überraschend ist eher, dass die Romane von Azorín, Unamuno und Pio Baroja, die konkret vorgestellt werden, offen­kundig ausgesucht wurden, weil sie literarisch interessant sind. Die Chance, die Wechselbeziehung von Belletristik und öffentlich-politischem Diskurs anhand exemplarischer Werke zu klären, wird so vergeben.

Vermisst wird auch ein Hinweis darauf, dass das pessimistische, nationalistische, die spani­sche Identität suchende, jeglicher Diversität abholde Narrativ jener Jahre schon damals von liberal und plu­ralistisch denkenden Zeitgenossen wie dem Schriftsteller und Politiker Manuel Azaña durchschaut und kritisiert wurde (vgl. dazu etwa den Essay von Juan Goytisolo «El lucernario. La pasión crítica de Manuel Azaña», 2004). Insgesamt hätte etwas mehr Aufmerksamkeit für die literarische Produk­tion liberaler, linksliberaler und linker Schriftsteller dem Kapitel gut getan.

5.2 Krisendiskurs Anfang des 21. Jahrhunderts

Bei den Krisenerfahrungen nach 1975 und ihrem Niederschlag in der Literatur widmet Ingenschay sich der Literatur zum versuchten Staatsstreich vom 23. Februar 1981, dem islamistischen Anschlag auf die Madrider Vorortzüge vom 11. März 2004 und der Krise nach 2008, in der vielfältige wirt­schaftliche (Bankenkrise, Immobilienkrise, Arbeitslosigkeit …) und politische Probleme (Parteien­system, Korruption, Katalonienkrise, Vergangenheitsbewältigung …) zusammenkamen.

Die fetten Jahre sind vorbei und «es entsteht eine wuchernde Literatur der Kri­se» (S. 132). Rafael Chirbes wird dabei zu Recht als «der Wegbereiter und Hauptvertreter des Krisenromans» (S. 133) herausgestellt. Zu den Krisenerfahrungen gehört auch der sich verschärfende Katalonien­konflikt, der bei Ingenschay leider nicht verhandelt wird, obwohl es nicht wenige Romane gibt, die den kata­lanischen Nationalismus befeuern oder hoch reflektiert sich des komplexen Verhältnisses zwischen Spanien und Katalonien angenommen haben.

5.3 Boom der Bürgerkriegsliteratur

Auch bei der Behandlung der unüberschaubaren Bürgerkriegsliteratur vom Beginn des Krieges bis heute, ist der Mut zur Lücke unvermeidlich. Das gilt umso mehr als Ingenschay den Bezugsrahmen weit fasst. Außer der Literatur zum Bürgerkrieg im engeren Sinn (1936-1939) bezieht er auch die zu den ersten zwei Jahrzehnten der Franco-Diktatur (und des Widerstands dagegen) mit ein. Letztlich schließt er sogar alle Literatur mit ein, die mit der historischen Erinnerung an den Bürgerkrieg zu tun hat, auch wenn ihre Handlung in der Gegenwart angesiedelt ist. Für die Struktur des Kapitels ist die Entstehungszeit entscheidend: (1) Bürgerkriegsliteratur, die während des Krie­ges entstand, (2) Literatur, die während des Franquismus im Exil oder im «inneren Exil» bei waltender Zen­sur ver­fasst wurde und (3) die Werke, die nach Francos Tod verfasst wurden ‒ bis zur Jahrtausendwende (3a) und die des Booms danach (3b).

Bezogen auf «die Interdependenz von Politik und literarischem Diskurs» (S. 10) ist die Unterscheidung in die Romane, die bis Ende der 1990er Jahre geschrieben wurden (Phase 3a) und die des Booms ab 2000 interessant. In den Romanen der Phase 3a ist bestenfalls und «eher zaghaft eine Revision des historischen Gedächtnisses» anzutreffen (vgl. S. 164), während die Diskussionslage in der Phase 3b durch weitreichende und lautstarke Forderungen nach einer systematischen Aufarbei­tung der Vergangenheit gekennzeichnet ist.

Bei der Behandlung der Boom-Literatur nach 2000 bespricht Ingenschay wieder verschiedene Wer­ke ausführlich. Der Roman von Javier Cercas (*1962) «Soldados de Salamina» von 2001 (dt.: Sol­daten von Salamis, 2002) gehört dazu (vgl. S. 166-172; ausführliche Inhaltsangabe in der Wikipedia). Bis 2007 wurden über eine Million Exemplare davon in Spanien verkauft (vgl. S. 165). Ohne hier ins Detail zu gehen, lässt sich festhalten, dass man es, um es einmal so zu nennen, mit einem «invertierten Schlussstrich-Roman» zu tun hat. Besiegte, Gegner oder Opfer des Franquismus sind in diesen Romanen bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Kritik an der mangelnden politischen Aufarbeitung der Vergangenheit in der Demokratie wird nur sehr leise vorgebracht.

Ingenschay unterzieht den Roman einer harschen Kritik und entdeckt in dem Werk «Skan­dalöses», «Schräges» und «Frauenfeindliches». Die Kritik ist eine doppelte: der Roman wird als schlecht und dazu politisch fragwüdig, sein Autor als unzureichend sensibilisiert für Fragen des historischen Gedächtnisses eingeschätzt (vgl. S. 169). Das Merkwürdige und Frappierende ist, dass Ingenschay ausgerechnet einen Roman als Musterbeispiel der Boom-Phase nach 2000 ausgewählt hat, der offenbar noch gänzlich unberührt von der neuen Diskussionslage verfasst wurde. Er ist von daher völlig ungeeignet, das Neue der Literatur in der Phase 3b zu belegen.

Mehrere Entwicklungen, um das kurz zu erläutern, haben zu dem unbestreitbaren Wandel der Erinnerungskultur beige­tragen (vgl. grundlegend dazu die höchst lesenswerte Studie von Walther. L. Bernecker und Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Nettersheim 2008). Die Geschichtswissenschaft lieferte zunehmend Evidenz für das ungeheure Ausmaß der Re­pression im franquistischen Unrechtsregime; die «Gesellschaft zur Wiedererlangung des histori­schen Gedächtnisses» und andere Initiativen zeigten mit der Entdeckung der zahlreichen anonymen Massengräber aus der Franco-Diktatur, dass die Vergangenheit keineswegs abgeschlossen war. Nachdem die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE – Partido Socialista Obrero Español) die Regie­rungsmacht an die Volkspartei (PP – Partido Popular) hatte abgeben müssen, die ab dem Jahr 2000 mit absoluter Mehrheit regierte, begann die Linke verstärkt die Kontinuität des Franquismus in Ge­stalt des PP und in den staatlichen Institutionen zu kritisieren. In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wurde nun auch der Erinnerungspolitik und der Aufarbeitung der Vergangenheit ein größerer Stellenwert beigemessen. Nach Wiedererlangung der Regierungsmacht durch den PSOE, mit dem Ministerpräsidenten José Luis Zapatero an der Spitze, wurde das «Gesetz zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses» (Ley de la memoria histórica) im Jahr 2007 ver­abschiedet.

«Invertierte Schlussstrich-Romane», so die Vermutung des Rezensenten, waren Phänomene des Übergangs. Das Narrativ von der vorbildlichen Demokratisierung nach 1975 kam langsam an sein Ende, der neue Krisendiskurs nahm erst allmählich Fahrt auf. Der sich verändernde politisch-öffentliche Diskurs nach dem Jahr 2000 und die veränderte politische Gesamtlage in Spanien nach 2008, lassen in der Tat keine «invertierten Schlussstrich-Romane» mehr erwarten. Erklärungsbedürftig bleibt, warum Romane dieses Typs so spät auftauchen – erst über 20 Jahre nach der Verabschiedung der demokratischen Verfassung Spaniens im Jahr 1978. Das könnte so gedeutet werden, dass sie eine provisorische Form darstellen, das politisch gewollte Schweigen der ersten zwanzig Jahre nach Francos Tod zu überwinden bei gleichzeitiger Aufweichung des dichotomen «Zwei-Spanien-Motivs» (rechts-links, gut-böse, Verlierer-Sieger, Täter-Opfer). Sicher ist, dass in diesen Roma­nen nicht über die Vergangenheit ge­schwiegen wird. Ebenso sicher ist aber auch, dass sie die Vergangenheit noch nicht vom Standpunkt der verallgemeinerten Krise, zu der auch die verschleppte Vergangenheitsbewältigung gehört, betrachten.

Eine letzte Anmerkung zu diesem Kapitel: Ein Strang der Bürgerkriegsliteratur, der sich von den 30iger Jahren bis heute nachzeichnen ließe, wird leider nicht berücksichtigt. Es geht um die Anti-Kriegs-Literatur, die sich weniger für die Kriegsparteien und mehr für die Sinnlosigkeit, Grau­samkeit und Entmenschlichung, die Krieg be­deutet, interessiert. Darunter finden sich nicht wenige beeindruckende Arbeiten, die auch ins Deutsche übersetzt vorliegen (z.B. Manuel Chaves Nogales 1937: A sangre y fuego. Héroes, bestias y mártires de España; dt.: ¡Blut und Feuer! Helden, Bestien und Märtyrer im Spani­schen Bürgerkrieg 2022; Joan Sales: Incerta Glòria, katalanisches Original 1956 noch unter Zen­surbedingungen, endgültige Fassung 1971; dt.: Flüchtiger Glanz, 2015; Mercè Rodoreda: Quanta, quanta guerra, katalanisches Original 1980; dt. Weil Krieg ist, 2007) oder Alber­to Méndez: 2004: Los girasoles ciegos; dt.: Die blinden Sonnenblumen, 2005).

6. Fazit

Wer sich für die spanische Kultur, die spanische Literatur und ihre Geschichte interessiert, wird von diesem Buch nicht enttäuscht. Es bietet einen Gang durch 1000 Jahre spanischer Literaturprodukti­on und weckt dabei Interesse an einer Vielzahl von Werken und AutorInnen. Es macht andere Ge­schichten der spanischen Literatur zwar nicht überflüssig, zeigt aber neue Perspektiven der Betrachtung und Interpretation auf, holt vergessene oder verdrängte Teile der Literaturproduktion ans Licht und erweitert so das sichtbare Spektrum. Das Interesse an den Grenzüberschreitungen geht bei Ingenschay einher mit dem, wenn man so will cervantinischem Leitbild einer inklusiven Gesellschaft und der Anerkennung von Diversität. Der Schreibstil ist publikumsorientiert, klar und didaktisch durchdacht. Dass der Text auch kostenlos elektronisch zur Verfügung steht, ist ein weite­res Plus.

Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur: Von Cervantes bis zur Ge­genwart. Berlin, Boston: De Gruyter 2022; https://doi.org/10.1515/9783110747171