Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten

Faktisches und Erdachtes in der Exil-Geschichte vom spanischen Kommunisten in der DDR und seiner Tochter

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Ein in der deutschen Öffentlichkeit wenig präsentes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte bildet den Aufhänger des erfolgreichen, preisgekrönten Romanerstlings, der 1981 in Madrid geborenen Schriftstellerin Aroa Moreno Durán: das Exil republikanischer, insbesondere kommunistischer Bürgerkriegsflücht­linge in der DDR. In Spanien erschien der Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, bereits 2017. Auf Deutsch ist er in der vorzüglichen Übersetzung von Marianne Gareis im Jahr 2022 erschienen.

Diese Buchbesprechung geht über den üblichen Rahmen einer Rezension hinaus, insofern gefragt wird, wie historische Fakten und Erdachtes im Roman ineinandergreifen und inwieweit der Roman selbst etwas beiträgt zum besseren Verständnis der Lebensbedingungen und Prägungen der spanischen Emigranten und ihrer Kinder. Da es inzwischen einen beachtlichen Stand an historischem Wissen zu den spanischen Asylsuchenden gibt, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der SBZ und dann in der DDR im Exil lebten (vgl. zur Literatur Abschnitt 7), kann eine Antwort auf diese Fragen versucht werden. Da die Autorin selbst in mehreren Interviews ihre intensive Recherchearbeit betont hat (vgl. Strode 2018; Alvite 2019; Whittemore 2021), ist bei ihr von einem reflektierten Umgang mit der Zeitgeschichte auszugehen. Bevor es um diese Fragestellung gehen kann, sind Inhalt und Struktur des Buches sowie das historische Wissen über das Exil in der DDR zu skizzieren.

2. Ein erster Überblick

Der Roman erzählt eine doppelte Exil-Geschichte: einer kleinen Zahl spanischer Republikaner, die meisten davon Kommunisten, die nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) fliehen mussten und nicht nach Franco-Spanien zurückkehren konnten, wurde in der DDR Asyl gewährt (für viele das zweite oder dritte Exil). Im Roman holt einer jener Kommunisten seine Frau aus Spanien nach und gründet kurz nach der Gründung der DDR in Ostberlin eine Familie. Zur Familie gehören zwei Töchter, Katia und Martina. Die erste wird 1950, die zweite 1953 geboren. Beide wachsen in der DDR auf. Katia, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, verlässt 1971 ihre Heimat ‒ «Republikflucht» in der Terminologie der DDR. Sie lässt ihr Land, Berlin, Fa­milie und Freunde zurück, um mit einem jungen Mann aus Backnang (bei Stuttgart) ein neues Le­ben zu beginnen. Damit beginnt die zweite Exil-Geschichte, diesmal als Ost-West-Geschichte. Westdeutschland wird Katia nicht zur neuen Heimat, sondern im Gegenteil zunehmend als Fremde und ungeliebtes Exil erlebt. Mit der Zeit führt das in eine Depres­sion. Land und Leute werden immer stärker abgelehnt und die verlorene Heimat wird im Gegenzug nostalgisch erinnert. Dazu kommt, dass ihre sich als heillos erweisende Entscheidung nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familie in der DDR verheerende Folgen hatte. Das muss sie erkennen als sie 1991, also nach der Wiedervereinigung, ihre Familie in Berlin aufsucht. Sie steht vor einem Scherbenhaufen. Was darauf folgt, bleibt offen, ein Neuanfang scheint nicht ganz ausge­schlossen.

Drei für Romane nicht untypische Fragenkomplexe spielen in dieser Erzählung eine gewisse Rolle: die ungewollten und unvorhersehbaren Folgen irreversibler Entscheidungen, die Verzahnung von großer Geschichte (spanischer Bürgerkrieg, Eiserner Vorhang, Kalter Krieg, Mauerbau, Wiederver­einigung) mit den Lebensläufen des Romanpersonals sowie der Komplex von Herkunft, Heimat, Fremde, Integration und Identität.

Das Buch besteht aus vier Teilen und einem kurzen nicht betitelten Vorspann. Die Überschriften lauten: Der Osten (Zeitraum 1956 – 1971), Niemandsland (1971), Drüben (1972 – 1990), Vaterland (1992). Die Teile sind weiter unterteilt in kurze Abschnitte jeweils versehen mit einer Überschrift, einer Ortsangabe und einer Jahreszahl.

Die Zeit von 1956 bis 1990 wird von Katia als Ich-Erzählerin dargeboten. Von der Art her wirkt es wie ein Aufschreiben der Erinnerungen zum Zweck der Selbstvergewisserung. Die Aufzeichnung richtet sich vom Gestus her folglich nicht an ein anonymes Publikum, sondern ist für sie selbst, und vielleicht noch für eine vertraute oder vertrauenswürdige Person, bestimmt. Das Ich erinnert, was die Erinnerungsübung hergibt, und das muss bekanntlich weder vollständig noch verlässlich sein. Die Ich-Er­zählerin reflektiert die Selektivität persönlicher Erinnerungen: «Zwischen Gefühl und Erinnern besteht eine elektronische Spannung […]. Je stärker das Gefühl, desto leichter bleibt ein Ereignis in Erinnerung. Das Gefühl ist der Filter…» (S. 50).

In dem erwähnten zweiseitigen Vorspann und im letzten Teil des Romans, Vaterland, ist es nicht die Ich-Erzählerin, sondern eine distanziertere Erzählstimme, die das Wort hat. Genauer: Es wird von Katias Handeln, Denken und Fühlen berichtet so als beobachte sie sich selbst von außen. Das könnte so interpretiert werden, dass die Autorin damit zeigen will, dass die Protagonistin am Ende der Geschichte zur Selbstdistanzierung in der Lage ist. Dem Romanende folgt eine Seite mit nur einem ein­zelnen Satz:

Mehr als dreißig Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer existieren auf der Welt immer noch mehr als fünfzehn Mauern, mit denen auf gewaltsame Weise versucht wird, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken. (S. 173)

Auf Seite 175 findet sich eine Dank überschriebene Passage, die an erster Stelle Mercedes Álvarez und Núria Quevedo gilt. Dieser Hinweis ist aufschlussreich, da es sich bei diesen beiden Frauen um in der DDR groß gewordene Töchter namhafter spa­nischer Kommunisten (Ángel Álvarez Fernández und José Quevedo) handelt. In einem langen Gespräch, das als Buch publiziert wurde, hatten die beiden Frauen schon im Jahr 2004 über ihr Leben und das ihrer jeweiligen Eltern Auskunft gegeben (Álva­rez und Quevedo 2004). Auch die Wissenschaft hat sich für sie als Interviewpartner interessiert (Drescher 2008, Denoyer 2011). Ohne die Begegnung mit diesen «Töchtern von Kommunisten» hätte es den vorliegenden Roman von Aroa Moreno Durán nicht gegeben.

3. Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen im Roman

Die Hauptperson und Ich-Erzählerin, Katia, wird in Ostberlin am 21. Februar 1950 geboren (S. 50 und S. 103). Die Erinnerung an die Geschehnisse von 1956 bis 1991 erfolgt weitgehend chronologisch. Nur hier und da fließen Informationen aus anderen Zeiten, von anderen Orten und über andere Personen ein.

Katias Eltern sind Spanier, die in Ostberlin in beengten Verhältnissen im Exil leben. Katia hat eine drei Jahre jüngere Schwester, Martina. Ihr Vater, Manuel, ist überzeugter, moskautreuer Kommu­nist, der der DDR dankbar für das gewährte Asyl ist. Vom Vater wird, was seine politische Haltung angeht, erinnert, dass er sich sehr aufregen konnte, wenn es um die deutsche Ostpolitik ging, die er ablehnte. Besonders echauffiert er sich als Willy Brandt 1970 den Friedensnobelpreis erhält. «Glaub mir, Isabel, das ist der Todesstoß für alles, an das wir glauben. Der Todesstoß, Isabel» (S. 60).

Isabel, der Mutter, liegt wenig an der Partei und Politik. Sie bringt ihren Kindern das Beten und das «mea cul­pa» bei (vgl. S. 56). Sie weigert sich Deutsch zu lernen, ist schlecht integriert, leidet viel und erlebt das Exil als Fremde. Auf Details zur Geschichte der Eltern, besonders des Vaters, wird später im ge­schichtlichen Kontext noch näher eingegangen.

Erfahrungen mit Kontrolle und Überwachung in der DDR und einer Atmosphäre, in der jedes Wort bedacht werden muss, weil eine latente Gefahr der Denunziation besteht, sind sehr präsent in den Erinnerungen Katias. Mit Vorbedacht werden in dem Roman auch Spuren gelegt, die sich dann später in Verbindung mit der Tätigkeit des Vaters als Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi bringen lassen. Zu einem Treffen der Familie mit DDR-kritischen Exilspaniern in Leipzig erinnert Katia: «Es war Papá der sagte, es reicht, Leute, wir müssen dieser Republik dankbar sein. Wir haben sie nie wiedergesehen» (S. 21). Ein weiteres Beispiel: Nach einer Begegnung in Begleitung ihres Vaters mit einem eigenwilligen spa­nischen Exilanten, der als Dozent an der Humboldt Universität lehrte, muss sie feststellen, dass die­ser schon wenig später nicht mehr an der Humboldt-Uni unterrichtete (S. 75).

Das Klima der Überwachung ist greifbar. Durchaus subtil wird auf die DDR als Überwachungsstaat auch in einer Szene hingewiesen, in der Katia im Unterricht unter der Bank in dem berühmten Roman von Anna Seghers «Das siebte Kreuz» liest. Als der Dozent sie darauf anspricht, was sie denn da lese, ist sie gerade an folgender Stelle des Romans:

Die Angst, die mit dem Gewissen nichts zu tun hat, die Angst der Armen, die Angst des Huhnes vor dem Geier, die Angst vor der Verfolgung des Staates. Diese uralte Angst, die besser angibt, wessen der Staat ist, als die Verfassungen und Geschichtsbücher (S. 46).

Ungeachtet dieser Wahrnehmung von Kontrolle und Überwachung, ist ihr zentraler Bezugspunkt ‒ vor dem Mauerbau und auch noch danach ‒ die kleine Familie, mit offenbar wenig Außenkontak­ten, weder zu Spaniern noch zu Deutschen. Die Familie ist ihr Heim. Ende der sechziger Jahre, An­fang der siebziger Jahre findet eine Öffnung statt. Katia hat zu studieren begonnen und hilft auch bei der Vorbereitung der Weltfestspiele der Jugend und Studenten mit. In diesem Kontext findet sie zudem eine gute Freundin, Julia, eine Kubanerin. Katia scheint auf einem guten Weg, sich in die DDR-Gesellschaft zu integrieren.

Im November 1969 taucht dann ein Student aus Westdeutschland in Ostberlin auf, Johannes aus Backnang, der sich für sie interessiert und sich auch in den nächsten zwei Jahren um sie bemüht. 1971 lässt Katia dann Familie, Studium und Freundin zurück und «macht rüber». Genauer: Bezahlte Fluchthelfer (finanziert von den Eltern Johan­nes‘) ermöglichen ihre Flucht über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik.

Katia tut sich mit der neuen Umgebung schwer, die zunehmend als feindliche Fremde empfunden wird. Gewissensbisse kommen dazu. Als sie um 1980 in einem Telefonat die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält, steigert sich ihr Leid noch weiter. Sie bereut ihre irreversible Entscheidung. Trotz schwäbischer Normerfüllung (Heirat, Haus, zwei Kinder, zwei Autos), entfernt sie sich zuneh­mend innerlich von dieser Umgebung, zieht sich mehr und mehr zurück, wird depressiv und initiativlos. Sie entwickelt eine starke Abneigung nicht nur gegen die bundesrepublikanische Gesell­schaft, sondern auch gegen Johannes, ihren Partner und Vater ihrer Kinder. Die DDR wird zuneh­mend nostalgisch als verlorene Heimat empfunden. Am 4. Oktober 1990 kommt es, gut von der Autorin gewählt, einen Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit zur Scheidung (S. 148).

Integration und Identitätsfindung sind gescheitert. Katia ist psychisch krank. Nur auf der Folie ihrer misslungenen Identitätsbildung, ihrer Schuldgefühle und Depression erscheinen die Schuldzuschrei­bungen an ihr persönliches Umfeld und die Gesellschaft der Bundesrepublik dem Rezensenten stimmig. Für ihre Hei­matlosigkeit und Depression findet die Ich-Erzählerin eindrückliche sprachliche Verdichtungen. Dazu einige Beispiele:

«Wenn der Krieg kalt war, dann war ich eisig» (S. 125).

Zur Nachricht vom Tode ihres Vaters schreibt sie « … diese Information, die mich wie ein schwerer Stein in einen dicken Morast hineinzog, in einen Kopf, der für immer wirr war, düster und schwarz» (S. 131).

Zum lustlosen Akt mit dem inzwischen ungeliebten Gatten wird erinnert: «Zwei Körper im Wider­streit. Johannes packte mich kraftvoll. Wir umarmten uns einige Minuten lang. Und dann ging alles ganz langsam. Zu langsam» (S. 133).

Zu Liebesverlust und Entfremdung von Johannes heißt es «[…] dass ich tief in meinem Inneren ei­nen Groll gegen Johannes hegte, weil er mich aus allem herausgerissen hatte, was mein Leben ge­wesen war» (S. 144).

Knapp und zugespitzt formuliert Katia ihre Desillusionierung: «Johannes, ich gebe alles für dich auf, Johannes, du hast mir alles genommen, Johannes, es gibt keine Grenzen, Johannes, Mauer» (S. 149).

Bei der Scheidung geht ihr (nostalgisch-pathetisch) durch den Kopf: «Ich war Kind eines antifa­schistischen Landes, eines Landes, das an die Befreiung glaubte, eines unter Druck gesetzten und verarmten, eines bäuerlichen und sicheren Landes, und irgendwie musste ich mich auflehnen und dieses andere Land verlassen» (S. 150). Es ist ihr bewusst, dass es sich um eine «wirre Gedankenkette» handelt, zumal es zu dem Zeitpunkt das eine Land, die DDR, schon nicht mehr gibt.

Nach dem Mauerfall 1989 dauert es noch zwei Jahre bis sie ihre Mutter und Schwester auf­sucht. 1991 kommt es zum Finale in Berlin: Wir erfahren, was seit Katias Weggang vor 20 Jahren alles passiert ist, wovon sie nichts wusste. Ihre Mutter hat ihren Weggang nie verkraftet und däm­mert jetzt im Rollstuhl dahin, betreut von Martina. Ihr Vater wurde offenbar kurz nach und wegen ihrer Flucht verhaftet und starb nach langer Haft (nicht vor 1981 jedenfalls) als verzweifelter lini­entreuer Kommunist in einem Gefängnis der DDR. Stasi-Akten über ihren Vater belegen, dass die­ser seit 1962 als Informeller Mitarbeiter der Stasi andere Exilspanier bespitzelte.

Die Geschichte endet im Jahr 1991. Das letzte Wort des Romans ist Pojechali. Dieses russische Wort war bereits einmal vorgekommen als Katia die DDR verließ: «Pojechali, sagte ich mir, los geht‘s. Wie der Kosmonaut Juri Gagarin an Bord der Wostok I ging ich fort, ohne zu wissen, dass ich, wie er, Gott auch nicht finden würde dort drüben» (S. 86). Wofür dieses Wort des Aufbruchs am Ende des Romans steht, ist nicht sicher: vielleicht für einen Neuanfang. Nimmt man den ersten Satz des Romanvorspanns dazu, «Ka­tia Ziegler nimmt die Kappe des Füllfederhalters ab, mit dem sie alle wichtigen Dokumente ihres Lebens unterschrieben hat» (S. 9), dann könnte das bedeuten, dass der erste Schritt des Neuanfangs im Aufschreiben ihrer Erinnerungen liegt.

Nachdem der Gang der Handlung soweit bekannt ist, soll als Nächstes der Stand der Geschichtswissenschaft zum Thema der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR kurz vorgestellt werden.

4. Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR – ein Destillat

Erst kurz nach der Jahrtausendwende setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema ein (Heine 2001). Es folgte eine beachtliche Zahl an akademischen Arbeiten. Bereits 2012 ist ein Stand der Forschung erreicht, der ein Gesamtbild von den Exilspaniern in der DDR erlaubt. Die Schwerpunkte und Fragestellungen der Arbeiten sind unterschiedlich, wie es auch in Detailfragen Unterschiede gibt. Dennoch kann von einem Gesamtbild ausgegangen werden, das allgemein geteilt wird.

Es ist zunächst wichtig, zwei Gruppen von Exilspaniern im Zeitraum 1945-1956 zu unterscheiden: Die erste Gruppe bilden die Spanier, die sich nach dem Ende der Naziherrschaft 1945 in der SBZ und dem Ostsektor Berlins befanden, die fast alle «im Spanischen Bürgerkrieg Soldaten der Repu­blik» gewesen waren (Uhl 2004, S. 235). Dazu gehörten typischerweise auch die Spanier, die aus ihrem Exil in Frankreich zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht wurden und in der Regel für die Rüstungsindustrie hatten arbeiten müssen (zu den Zwangsarbeitern in den KZ-Außenlagern vgl. Meerwald 2022 und die Rezension dazu im Spanienecho). Diesem Personenkreis gestattete die So­wjetunion nach der Einnahme Berlins, zurück nach Frankreich oder in die Sowjetunion zu gehen oder eben in Berlin zu bleiben (Alted Vigil 2002, S. 143). Dieser Personenkreis wäre um weitere Elemente zu erweitern, etwa freiwillige Vertragsarbeiter aus Franco-Spanien oder pro-franquistische Spanier auf deutschem Boden. Die Schätzungen der Gruppengröße liegen bei 40-50 Personen (Ei­roa 2018, S. 145) bzw. einigen Dutzend (Kreienbrink 2005, S. 319).

Der Kern dieser Gruppe, der sich als republikanisch und kommunistisch verstand, formierte sich ab 1947 im Ausschuss der Spanisch-Republikanischen Emigration/Opfer des Faschismus, kurz ERE (Emigración Republicana Española) (Uhl 2004, S. 236). Nach Angaben dieser Organisation im Jahr 1948 zählte sie etwa 35 Personen (Kreienbrink 2005, S. 319). Die Leitung der Organisation lag zu­nächst bei José Quevedo. Der ERE wurde allerdings die Anerkennung seitens der SED und der spa­nischen KP verwehrt. Dolores Ibárruri, damals Generalsekretärin der KP Spaniens, ließ wis­sen, wie es in einem oft zitierten Brief an Wilhelm Pieck (Vorsitzender der SED) vom 9.9.1947 heißt: «[…] Sogar solche, die in Konzentrationslagern waren und nicht nach Frankreich mit allen anderen gefahren sind, muss man mit Vorsicht behandeln. Jedenfalls, wir können keinen einzigen unter ihnen garantieren. Deswegen möchten wir Euch bitten, solche Spanier nicht zu benutzen, da sie politisch überhaupt nicht zuverlässig sind» (zitiert hier nach Poutrous 2004, S. 364). Die ERE wurde dann 1949 aufgelöst. Es wurde den Mitgliedern dieser Gruppe danach verwehrt, in die PCE (Partido Comunista de España) oder die SED einzutreten, aber es wurde auch kein Mitglied dieser Gruppe aus der DDR ausgewiesen (Drescher 2008, S. 36).

Die zweite Gruppe spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge kam 1950 in die DDR als Folge der vom französischen Staat im September 1950 angeordneten Polizeiaktion namens «Opération Boléro-Paprika», die gegen Mitglieder ausländischer kommunistischer Parteien, vor allem der spanischen KP gerichtet war. 292 Personen aus zwölf Nationen wurden festgesetzt, darunter 251 Spanier. Im Kalten Krieg wur­den die spanischen Kommunisten nicht mehr als antifranquistische Opposition geschätzt, sondern als stalinistische fünfte Kolonne betrachtet. «Schlussendlich wurden infolge der ‚Operation Bolero-Paprika‘ 176 Spanier verhaftet und die Mehrheit in Korsika oder Algerien unter Hausarrest gestellt. 33 von ihnen wurden jedoch vom Innenministerium über Straßburg sofort in die DDR ausgewiesen. Einige Monate später erfolgte die Familienzusammenführung in Dresden» (Denoyer 2011, S. 98). Die Operation Bolero-Paprika ist mehrfach beschrieben worden (Heine 2001, Poutrous 2004, Uhl 2004, Kreienbrink 2005, Drescher 2008; besonders ausführlich in Denoyer 2017, S. 29-100; Eiroa 2018 befasst sich mit dem Exil spanischer Kommunisten in der DDR und in den anderen sozialisti­schen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang).

Im Mai 1951 wurden für das Kollektiv (ein Ausdruck, den sowohl PCE als auch SED verwendeten) in Dresden 85 Personen nachgewiesen: 31 Männer, 21 Frauen, 33 Kinder/Jugendliche. Diese Spanier wurden grob gesprochen gut in der DDR behandelt, bekamen Arbeit und Wohnung und wurden als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Die vergleichsweise gute Behandlung dieser kommunisti­schen Exilanten ist auch mit Blick auf die Legitimation der DDR und ihren Gründungsmythos als antifaschistischer Staat zu sehen. Der Kampf deutscher Kommunisten in den internationalen Briga­den und die bemerkenswerten Karrieren ehemaliger deutscher Spanienkämpfer in der Politik der DDR und nun die Aufnahme der aus Frankreich ausgewiesenen ehemaligen Waffenbrüder in der DDR, gehören in dasselbe Narrativ (ausführlich dazu Uhl 2004). Denoyer spricht in diesem Zusam­menhang davon, dass die «Spanier von der DDR-Führung teils in erheblichem Maße instrumentali­siert [wurden], um aus ihrer Präsenz eine gewisse Legitimation sowie einen Prestigegewinn sowohl auf internationaler Ebene als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung ableiten zu können» (Denoyer 2011, S. 102).

Gleichwohl wurden auch diese ExilspanierInnen überwacht und kontrolliert, von der KP Spaniens, der SED und je nachdem wurde auch noch das Ministerium für Staatssicher­heit eingeschaltet. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Mitglieder des Dresdner Kollektivs auch «von ihren eigenen Leuten streng überwacht» wurden (Uhl 2004, S. 243). In Dresden bestand das größte Kollektiv kommunistischer Exilspanier. Daneben gab es aber auch ein kleineres Kollektiv in Ber­lin (Chmielorz 2016). 1960 wurde ein drittes Kollektiv in Leipzig gegründet (Denoyer und Fa­raldo 2011, S. 194), das hier weniger interessiert, weil es dort nicht mehr um Bürgerkriegsflüchtlin­ge geht, sondern vor allem um Studenten, «die in Spanien aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen hatten» (Kreienbrink 2005, S. 324).

Bis 1968 kann von einer engen Zusammenarbeit von PCE und SED gesprochen werden. Nach dem Prager Frühling und dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei verschlech­tern sich die Beziehungen zwischen der inzwischen eurokommunistischen PCE und der moskau­treuen SED (vgl. dazu Denoyer und Faraldo 2011, S. 190-197). Dieser Konflikt führte innerhalb der PCE zu Spannungen, Parteiausschlüssen und Neugründungen. Er spaltete auch die Kollektive der Exilspanier in Dresden und Berlin, wobei die meisten Mitglieder weiterhin die prosowjetische Li­nie vertraten und die offizielle Parteilinie Santiago Carrillos verurteilen. Diese Auseinandersetzung erschwerte das Zusammenleben in den Kollektiven (Denoyer und Faraldo 2011, S. 194 f.). Die eine Seite redete nicht mehr mit der anderen und man ging sich aus dem Weg (Drescher 2008, S. 63-68 und für das Berliner Kollektiv Chmielorz 2016). Das MfS kontrollierte und beobachtete die Mitglieder der Kollektive auch mit Hilfe spanischer Informeller Mitarbeiter (Denoyer und Faral­do 2011, S. 96). «Die endgültige Distanzierung zwischen der SED und der PCE erfolgte im Jahr 1973, als die Regierung der DDR mit dem franquistischen Spanien diplomatische Beziehungen auf­nahm» (Denoyer und Faraldo 2011, S. 197).

5. Geschichte im Roman und Geschichtswissenschaft

5.1 Was wir üben den Vater erfahren

Besonders viel weiß Katia nicht über ihren Vater: «Papá erzählte uns nichts, weil auch niemand fragte» (S. 105). Ein paar Eckdaten zur Familiengeschichte liefert die Mutter anlässlich des 18. Ge­burtstags ihrer Tochter (im Buch S. 102-105). 1936 ging der Vater im Spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger in die Berge, um für die Zweite Spanische Republik und gegen die Aufständischen zu kämpfen. Im Sommer 1937 taucht er für drei Tage wieder im Dorf auf; es wird geheiratet. «In unserer Familiengeschichte folgt dann, dass mein Vater 1938 Spanien verließ und nach Moskau ging». Dort wurde er «ein kleiner Provinzkommissar» (was immer das sein mag, KB). 1946 verlässt er die UdSSR und zieht in die SBZ nach Dresden und beginnt dort Deutsch zu lernen. Katias Mutter folgt 1946, das franquistische Spanien unter abenteuerlichen Bedingungen hinter sich lassend, ihrem Mann ins Exil. Die Eltern fanden «in Dresden zusammen, in einer kleinen Gemeinschaft von Spaniern». Sie bekommen Woh­nung und Arbeit durch die Partei. Katias Mutter wollte dann, dass «Papá von der Partei abrückte» und so zog das Paar nach Berlin. Dort kommt Katia 1950 zur Welt und drei Jahre später ihre Schwester Martina. In dem Hinweis auf die «Familiengeschichte» schwingt durchaus die Möglichkeit mit, dass nicht alles stimmen muss, was von Katias Mutter tra­diert wird.

Aus der Literatur zum Exil spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der Sowjetunion ist bekannt, dass am Ende des Bürgerkriegs März/April 1939 (nicht 1938) etwa 1.000 meist der PCE zugehörige oder nahestehende Spanier in der Sowjetunion aufgenommen wurden. Das Gros dieser Flüchtlinge konn­te erst nach dem Tod Stalins die UdSSR verlassen. In einem schmalen Zeitfenster um das Jahr 1946 wurde allerdings einigen Spaniern erlaubt, nach Frankreich oder Lateinamerika zu gehen (Alted 2002, S. 131, 138 f., 143 und Lister 2005, S. 301). Hinweise, dass sich irgendeiner aus diesem Per­sonenkreis in die SBZ begeben hätte, finden sich nicht.

Mit Blick auf die Literatur mutet es sehr unwahrscheinlich an, dass ein Mitglied der KP Spaniens, das acht Jahre in der UdSSR verbracht hat und kein Deutsch sprach, sich 1946, also noch vor der Gründung der DDR, entscheidet nach Dresden zu gehen. Das Exil-Kollektiv der spanischen Kom­munisten in Dresden, auf das angespielt wird, gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht; es entstand erst als Folge der Operation Bolero-Paprika in den Jahren 1950/51. Auch die Entscheidung, einem Wunsch der Ehefrau folgend, von Dresden nach Berlin überzusiedeln, weil sie die Nähe ihres Gat­ten zur Partei nicht schätzte, unterstellt einen Grad an Entscheidungsfreiheit der einzelnen Person, der eher unwahrscheinlich ist. Ein einfacher Wechsel des Wohnsitzes ohne das Plazet von SED und PCE ist schwer vorstellbar. Es wird im Roman auch keine Verbindung zwischen dem Um­zug von Dresden nach Berlin und dem kleinen Kollektiv spanischer Kommunisten, das es in Berlin ab 1950/51 gab, hergestellt.

Moreno Durán hat demnach eine höchst untypische, wenn nicht sogar unmögliche, Biografie des Vaters konstruiert. Informationen über Exilspanier, die schon vor der Gründung der DDR auf deut­schem Boden lebten und derer, die 1950/51 mit der Operation Bolero nach Dresden kamen, werden vermischt. Dabei wäre es ein Leichtes für die Autorin gewesen, den Vater mit einer historisch be­trachtet realistischeren Biografie auszustatten, z.B. als Bürgerkriegsflüchtling, der nach einem ers­ten Exil in der UdSSR (1939-1946) im Jahr 1946 nach Frankreich gekommen wäre, um dann als Folge der Operation Bolero 1950 in die DDR abgeschoben zu werden – mit dem Nachzug der Ehe­frau im folgenden Jahr.

5.2 Der Auftritt von José Quevedo als Dozent De Vega im Roman

Eine besondere Beachtung, um den Umgang der Autorin mit der Geschichte zu verstehen, verdient die Person des Spanisch-Lektors De Vega an der Humboldt Universität Berlin (Kapitel 10, S. 72-75), über den zu erfahren ist, dass er auf Seiten der spanischen Republik stand, aus Franco-Spanien flüchtete und eine Buchhandlung in Berlin aufmachte ‒ und zwar schon zur Zeit des Nationalsozia­lismus ‒, und in dieser Buchhandlung ein Bild von Franco aufgehängt hatte, um die Nazis zu täu­schen. Bald nach der Begegnung (im Jahr 1971) mit Katia und ihrem Vater, von dem der Leser spä­ter erfährt, dass er andere Exilspanier observierte, lehrt De Vega nicht mehr an der Universität.

In der Person dieses Dozenten steckt viel von jenem José Quevedo, den die Historiker kennen (vgl. z.B. Uhl 2004, S. 236f., Drescher 2008, S. 37) und über dessen Leben seine Tochter Núria Quevedo schon 2004 ausführlich und faszinierend im Gespräch mit Mercedes Álavrez berichtet hat (Álvarez und Quevedo 2004). José Quevedo ist als Leiter der 1947 gegründeten Vereinigung republikanischer und kommunistischer Emigranten ERE (s.o) bekannt. Er war in Spanien Mitglied der PCE und ein loyal zur Republik stehender Be­rufssoldat der Luftwaffe. 1939 musste er aus Spanien fliehen, durchlief verschiedene französische Internierungslager und arbeitete dann von 1941 bis 1945 in Berlin in der deutschen Rüstungsindus­trie (wie viele aus Frankreich deportierte bzw. über die Organisation Todt angeworbene Bürger­kriegsflüchtlinge). In seiner Bleibe in Berlin hatte er über seinem Bett ein Foto Francos angebracht. Nach dem II. Weltkrieg, genauer 1952, holte er seine Frau und die Tochter Núria aus Spanien nach. Da hatte er schon die «Internationale Buchhandlung Quevedo» aufgemacht. An der Humboldt Uni­versität unterrichtete er auf Vermittlung des großen Romanisten Werner Krauss (dem Hans Ulrich Gumbrecht 2002 ein sehr einfühlsames und berührendes Denkmal gesetzt hat). Bis 1954 unterrich­tete Quevedo an der HU. Dann wurde aber ein neuer Spanischlehrer aus Dresden angefordert und nach Drescher ist «durchaus an einen erzwungenen Rückzug Quevedos zu denken» (Drescher 2008, S. 115). In einem Feature des Deutschlandfunks über das Ostberliner Kollektiv der Exilspanier (Chmielorz 2016) wird übrigens die Anforderung eines neuen Spanisch-Dozenten 1954 bestätigt.

Die Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur und den Erinnerungen Núria Quevedos an ihren Vater, sind frappierend: Vom Dozenten De Vega heißt es im Roman, er «prahlte damit, dass er vom größ­ten spanischen Dichter aller Zeiten abstamme, Lope de Vega» (S.73). Núria Quevedo über ihren Va­ter: «Mein Vater hat immer davon geträumt, Nachkomme des Don Francisco zu sein» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 33). Angespielt wird hier auf die spanischen Barockdichter Félix Lope de Vega und Francisco de Quevedo.

Konfrontiert mit der Empörung des linientreuen Kommunisten wegen seines eigenwilligen Lebens­wegs, antwortet De Vega «Wollen Sie mir etwas über das Leben erzählen? Überleben nenne ich es» (S. 74). Núria Quevedo konfrontiert damit, dass ihr Vater für die Nazis arbeitete, antwortet «Um das Leben zu retten, versuchte man alles, klar» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 25).

Unter dem Aspekt der geschichtlichen Plausibilität ist die Geschichte des Herrn de Vega höchst un­wahrscheinlich. Wie sollte ein republikanischer Bürgerkriegsflüchtling, den es nach Nazi-Deutsch­land verschlagen hatte, in Kriegszeiten in Berlin eine Buchhandlung aufmachen können, und diese danach bis mindestens in die siebziger Jahre in der DDR weiterführen? Die typische Verwendung spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Nazi-Deutschland war ihr Einsatz als Vertrags- oder Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie.

Es gibt ein verborgenes intertextuelles Spiel zwischen dem Roman und den Erinnerungen von Núria Quevedo und Mercedes Álvarez. In die Figur des Dozenten De Vega sind, wie gezeigt, sicht­bar Informationen über José Quevedo eingeflossen. Auch in der Ausstaffierung der Mitglieder der Kleinfamilie von Vater, Mutter, Katia und Schwester Martina finden sich zahlreiche Versatzstücke aus den Erinnerungen der beiden wirklichen Töchter von Kommunisten. In Abwandlung des bekannten Satzes «Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig» sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen bei Moreno Durán also keines­wegs zufällig. Nur sind die Lebensläufe, die sie aus dem vorhandenen Material unterschiedlicher Flüchtlingsschicksale konstruiert hat, in einigen Punkten nicht belastbar. Die meisten Leserinnen und Lesern dürften sich an den kleinen histori­schen Ungereimtheiten nicht stören.

5.3 Katias mangelndes politisches Interesse

Zeitgeschichte wird im Roman weitgehend dadurch ausgeklammert, dass die Protagonistin als un­politisch gezeichnet wird. Das wird besonders deutlich daran, dass der Konflikt zwischen den mos­kautreuen Kommunisten und der KP Spaniens unter der Führung Santiago Carrillos, die einen euro­kommunistischen Kurs verfolgte, und der die Exilspanier in der DDR seit dem Ende der 60iger Jahre in zwei Lager spaltete, in Dresden wie in Berlin, nirgends aufscheint (s.o.). Selbst der Ein­marsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968, der von der PCE verurteilt und von der SED mitgetragen wurde, und der den bestehenden Konflikt unter den Exilanten noch verschärfte, findet keinen Eingang in den Roman, obwohl die Protagonistin zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt ist, mit anderen Jugendli­chen zusammen kommt und in Berlin studiert. Was sie 1971 beschäftigt, sind die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, an deren Vorbereitung sie mitmacht. Dass diese nicht 1971 wie im Roman angegeben, sondern erst 1973 stattfanden, ist für den Gang der Erzählung nicht entscheidend.

Dem Konflikt zwischen SED und PCE um das Jahr 1973, als die DDR das Francoregime diploma­tisch anerkannte, wird keine Beachtung geschenkt. Auch die Demonstrationen in der Bundesrepublik gegen das Regime in Spanien in seiner brutalen Endphase, werden nicht wahrgenommen. Depressiv und zurückgezogen in der schwäbischen Provinz, wird die Bun­desrepublik der 70er und 80er Jahre von der Protagonistin in den Klischee der 50iger-Jahre er­lebt: Hausbau, Auto, Kinder, bis zum Umfallen arbeitender Ehemann, der vor dem Fernseher abends seine Biere trinkt, die Frau ans Haus gefesselt. Die Wahrnehmung der politischen Veränderungen und der Wirklichkeit sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wirkt merkwürdig beschränkt und getrübt.

5.4 Katias Identitätsproblem

Das Thema der schwierigen Identitätsfindung der Kinder der spanischen Kommunisten in der DDR wurde in der Literatur untersucht (Denoyer 2011, 2017): Min­destens zwei Identitätsquellen spielten üblicherweise eine Rolle: die eine, welche die Eltern an ihre Kinder weiter­gaben, und die andere die das Aufnahmeland anbot (Denoyer 2011, S. 106). Häufig war es aber auch noch ein Drittland, Frankreich oder Russland z.B., das eine Rolle spielte. Gerade die komplexen Biografien von Mercedes Álvarez und Núria Quevedo zeigen eindrucksvoll, dass die Exilerfahrung der Töchter von Kommunisten auch neuartige, komplexe, gelingende Identitäten hervorbringen kann.

Interessant in der Studie von Denoyer ist zudem der Befund der starken Bedeutung der DDR und die Bindung daran: «Nicht zuletzt haben die Kinder der Exilanten eine besondere, weil dauerhafte Beziehung zur DDR entwickelt. Auch wenn sie die Schwächen des ostdeutschen Re­gimes durchaus erkennen und den dort herrschenden Mangel an Freiheit verurteilen, verteidigen sie bis heute das untergegangene Land […]» (Denoyer 2011, S. 108). Denoyer schreibt weiter: «Für die zweite Generation der Spanier in der DDR geriet das politische Exil [da­her] zu einer strukturierenden biografischen Erfahrung, in der dem National- und Identitätsgefühl sowie den Beziehungen mit der Ursprungs- und der Aufnahmegesellschaft ein besonderes Gewicht zukam» (Denoyer 2011, S. 109).

Ähnliches lässt sich auch für die Hauptfigur des Romans behaupten. Bezogen auf ihre Kindheit und Jugend in der DDR kann von einer «strukturierenden biografischen Erfahrung» gesprochen werden. In späteren Jahren ist ihr Bezugspunkt indes ein anderer: Es sind die enttäuschenden Erfahrungen in der Bundesrepublik, die zu einer wachsenden Ab­lehnung der Lebensverhältnisse dort und zu einer nostalgischen Aufwertung der DDR führen.

Es bleibt zu fragen, welche Rolle Spanien als über die Eltern vermittelte «Ursprungsgesellschaft» für die Identitätsbildung der Hauptfigur spielt. Dass Katia aus einer spanischen Migrantenfamilie in der DDR stammt, spielt für ihr Unglück und Leid im Roman vordergründig kaum eine Rolle. Es zieht sie nicht nach Spanien und sie versucht auch nicht, Kontakt mit ihren Verwandten in Spanien herzustellen. 1989 betritt sie erstmals in ihrem Leben spanischen Boden. Eine von ihrem Ehemann, Johannes, ohne ihr Wissen geplante und durchgesetzte Reise nach Spanien, wird zum Fiasko. Der erzwungene Besuch des Heimatorts ihrer Eltern, Dos Aguas, wird abrupt abgebrochen. Spanien ist für sie keine mögliche Heimat und erst recht kein Sehnsuchtsort. Mit ihrer Lebensgeschichte und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern scheint sie im heutigen Spanien nichts verloren zu haben. Für dieses Gefühl dürften hauptsächlich ihre von Scham und Schuldgefühlen geprägten Identitätsprobleme verantwortlich sein. Dass Spanien sich nach Franco als Monarchie konstituierte und die politische Aufarbeitung des Unrechts, das an den Republikanern verübt wurde, zu der Zeit (1989) praktisch nicht stattfand, dürfte dagegen weniger relevant für Katias Nicht-Zugehörigkeitsgefühl sein.

Katia stellt nicht nur einen untypi­schen, sondern einen höchst unwahrscheinlichen Fall einer Exilspanierin der zweiten Generation dar. Ihr Identitätskonflikt ist vorwiegend innerdeutsch: BRD = Fremde vs. DDR = Heimat. Sie ist so wenig politisch bewußt, dass sie nicht ein­mal die Errungenschaften der DDR bezüglich einer fortschrittlichen Frauenrolle verteidigt. Auch die kommunis­tischen Werte ihres Vaters führen sie nicht dazu, sich politisch zu orientieren oder gar zu organisie­ren. Was bleibt, ist eine unreife junge Frau, die wegen einer emotionalen Beziehung von der DDR in die BRD übersiedelt, von der Beziehung wie vom Leben im Westen enttäuscht wird, dort fremd bleibt, depressiv wird und sich nach der alten Heimat sehnt.

Es ist dem Rezensenten nicht bekannt, dass je eine Tochter eines der wenigen spanischen Kommunisten im DDR-Exil in die BRD ging, und dass je ein linientreuer spanischer Kommunist zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde (und schließlich sogar im Gefängnis umkam), weil seine volljährige Tochter in die Bundesrepublik geflohen war. Hätte es solch eine Geschichte wirklich gegeben, wäre sie den Exilspaniern kaum verborgen geblieben und mithin bekannt.

6. Schlussbetrachtung

Es bleibt festzuhalten, dass Moreno Durán mit ihrem Roman auf ein spannendes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte aufmerksam macht: das Leben spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge und deren Kinder in der DDR. Das sprachliche Vermögen der Autorin, mit weni­gen Worten, kurzen prägnanten Sätzen, poetischen Verdichtungen, originellen Vergleichen, Gegenschnitten, Andeutungen und Leerstellen, der Leserschaft Situationen, Stimmungen und Befindlichkeiten nahezubringen, ist ihre Stärke. Darum lassen sich viele zunächst gerne auf den Roman ein und verfolgen, wie sich die Hauptperson anekdotenreich, farbig und in ihrem eigenwilligen Schreibstil an ihre Jahre in der DDR von 1956 bis 1971 erinnert. Der Teil, der in der Bundesrepublik spielt, fällt dann deutlich ab.

Die Zeit von 1971 bis 1991, die in der BRD spielt, ist eine bleierne Zeit. Nur unter der Annahme ei­ner sich steigernden Depression der Hauptperson, einer gelähmten Handlungsfähigkeit und einer Weltwahrnehmung der Wirklichkeit durch den Schleier des psychischen Leids, will dem Rezensenten dieser Teil als glaubhaft vorkommen. Die Depression zusammen mit dem Desinteresse der Hauptperson an politischen Entwicklungen hüben und drüben und die geringe Bedeutung, die Spanien für ihre Identität spielt, reduzieren diesen Teil auf eine künstliche Konstruktion von Ost-Hei­mat – West-Fremde. Raffiniert daran ist in gewisser Weise, dass die Hauptperson das Schicksal ihrer Mutter wie­derholt, die die DDR als Fremde erlebte, sich nicht integrierte und nicht integrieren wollte. Katia wäre demnach viel mehr die Tochter ihrer unglücklichen Mutter als die ihres kommunistischen Vaters. Die Parallele geht soweit, dass sich die fatale Entscheidung der in Spanien lebenden Mutter, ihrem Mann in die DDR zu folgen, in der fatalen Entscheidung ihrer Tochter, ihrem späteren Mann Johannes in die BRD zu folgen, wiederholt. Fremde und Leid bei Mutter und Tochter hüben wie drüben. Der einen erfriert das Herz in der DDR, der anderen in der BRD.

Die Betrachtung des Verhältnisses von Fakten und Ausgedachtem in der Erzählung hat ergeben, dass die Autorin es nicht darauf anlegt, entgegen der Erwartung des Rezensenten, ihre Romankonstruktion mit den bekannten historischen Fakten und der Lebenswirklichkeit der Exilspanier der ersten und zweiten Generation bestmöglich in Deckung zu bringen und dadurch das Verständnis für deren Lebensläufe und Schicksale zu vertiefen. Im Gegenteil, es wird einiges getan, um die Wirklichkeit auf Abstand zu halten. Die gewählte DDR-BRD-Konstellation ist zunächst (bis zum Beweis des Gegenteils) eine Kopfgeburt, reine Fiktion. Das wichtigste Mittel, die Wirklichkeit außen vor zu lassen, findet sich dabei in der psychologischen Ausstattung der Hauptperson nach ihrer Übersiedlung in die BRD, die geradezu darauf ausgerichtet scheint, die Wirklichkeit nicht klar zu sehen: wegen ihrer Unreife, ihrem Desinteresse am politischen Geschehen, ihrer Initiativlosigkeit und vor allem wegen ihrer Depression.

Viel mehr als in dem Roman erfährt man in dem Gespräch zwischen Mercedes Álavrez und Núria Quevedo (2004) über die Töchter von spanischen Kommunisten in der DDR. Das Buch, das daraus entstanden ist, würde der Rezensent gerne ins Spanische übersetzt sehen. Zu begrüßen wäre außerdem eine fundierte historische Arbeit zu den republikanischen Flüchtlingen, die sich 1945, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bereits in Deutschland befanden und später in der DDR lebten. Das abenteuerliche Leben des José Quevedo verdiente dabei eine eigene Darstellung.

7. Literatur

  • Alted Vigil, Alicia: Los exilios en la España contemporánea. In: Ayer (Asociación de Historia Contemporánea), 2002, No. 47, S. 129-154
  • Álvarez, Mercedes und Quevedo, Núria: Ilejanía – Unferne: die Nähe des Vergessenen. Ein Gespräch. BasisDruck: Berlin 2004
  • Alvite, Maite im Interview mit Aroa Moreno Durán. Diario de Ibiza vom 13. März 2019
  • Chmielorz, Rilo: Operation Bolero. Das spanische Kollektiv in Ost-Berlin. Manuskript zur Sendung im Deutschlandfunk vom 10.5.2016 (19:15-20:00)
  • Denoyer, Aurélie: Les réfugiés politiques espagnols en RDA. In: Trajectoires 3 | 2009
  • Denoyer, Aurélie: Integration und Identität. Die spanischen politischen Flüchtlinge in der DDR. In: Kim Christian Priemel (Hg.): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in die DDR 1945 – 1990. Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung: Dresden 2011, S. 98-112
  • Denoyer, Aurélie: Exil als Heimat. Die spanischen kommunistischen Flüchtlinge in der DDR. Individuelle Lebensläufe, Kollektivgeschichte. Dissertationsprojekt. In: The International Newsletter of Communist Studies XVIII, (2012), no. 25 . S. 40-43
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Trajectoires individuelles, histoire collective. In: Trajectoires 6 | 2012 
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Presses universitaires de Rennes: Rennes 2017; online verfügbar; diese Publikation beruht auf der Dissertation von 2012
  • Denoyer, Aurélie und Faraldo, José M.: »Es war sehr schwer nach 1968 als Eurokommunistin«. Emigration, Opposition und die Beziehungen zwischen der Partido Comunista de España und der SED. In: Arnd Bauerkämper und Francesco Di Palma (Hg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968–1989). Ch. Links Verlag: Berlin 2011, S. 186-202
  • Drescher, Johanna: Asyl in der DDR. Spanisch-kommunistische Emigration in Dresden (1950-1975). vdm-Verlag: Saarbrücken 2008
  • Eiroa, Matilde: Españoles tras el Telón de Acero: El exilio republicano y comunista en la Europa socialista. Marcial Pons Ediciones de Historia: Madrid 2018
  • Gumbrecht, Hans Ulrich: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Hanser Verlag: München 2002
  • Heine, Hartmut: El exilio republicano en Alemania Oriental (República Democrática Alemana-RDA). In: Migraciones y Exilios, 2-2001, S. 111-121
  • Kreienbrink, Alexander: Der Umgang mit Flüchtlingen in der DDR am Beispiel der spanischen ‚politischen Emigranten‘. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 317-344
  • Lister, Enrique: Vorgeschichte und Voraussetzungen der Ansiedlung der spanischen kommunistischen Emigranten in Osteuropa. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 289-316
  • Meerwald, Johannes: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Wallstein Verlag: Göttingen 2022
  • Poutrus, Patrice G.: Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 11. Jg. (2004), S. 355-378
  • Strode, Sara im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: El papel amarillo (blog de críticas literarias) vom 23. Juli 2018
  • Uhl, Michael: Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR. Dietz: Bonn 2004.
  • Whittemore, Katie im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: H for History Blog vom 8. Februar 2021

Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. btb Verlag: München 2022, ISBN 978-3-442-75904-0

Manuel Chaves Nogales: Ifni, Spaniens letztes koloniales Abenteuer

Reportage eines Meistererzählers, der dabei war

Rezension von Knud Böhle

Worum es geht

Der kupido Verlag hat sich vorgenommen, die Werke von Manuel Chaves Nogales (*Sevilla, August 1897, †London, Mai 1944) in einer auf sechzehn Bände angelegten deutschsprachigen Ausgabe herauszugeben. Das vorliegende Buch »Ifni, Spaniens letztes koloniales Abenteuer«, ist als Band 2 der Abteilung 1: Reportagen und Journale angezeigt. Ungeachtet dieser Zählung, handelt es sich um den ersten Band der Werkausgabe, der das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Die Abteilung 2 soll das erzählerische Werk umfassen.

In dem Buch werden zwei Reportagen erstmals auf Deutsch veröffentlicht, die mit der spanischen Kolonialpolitik in Nordwestafrika zur Zeit der Zweiten Republik (1931-1939) zu tun haben. Ursprünglich waren die Reportagen als Artikelfolgen, mit zahlreichen Fotos angereichert, im Jahr 1934 in der Madrider Tageszeitung AHORA erschienen. Sie adressierte die republikanische bürgerliche Mitte und erzielte eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren. Manuel Chaves war Stellvertretender Direktor der besagten Zeitung. Als Publizist und Journalist war er damals prominent und hoch geschätzt. Er gehört zu den großen, lange Zeit weitgehend vergessenen, spanischen Autoren. Erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde er neu entdeckt. Heute ist er in Spanien weithin bekannt und berühmt. Seine Werke, die in unterschiedlichen Einzelausgaben und in zwei Gesamtausgaben auf dem Markt sind, werden gelesen und diskutiert.

In Deutschland ist der Autor noch kaum bekannt. Erst seit April 2022 findet sich ein Eintrag in der deutschen Wikipedia zu seinem Leben und Werk. Manuel Chaves gehört zur Extraklasse der »rasenden Reporter«, bei denen sich hoher Informationsgehalt mit außergewöhnlicher literarischer Qualität verbinden. Sein Stil ist geprägt von großer Klarheit der Sprache, Anschaulichkeit und originellen Vergleichen. Es schwingen mit: Witz, Augenzwinkern, Ironie und Understatement. Gelegentlich werden auch bloß Klischees bedient. Gleichzeitig sind die Reportagen durchzogen von spürbarer Empathie für Menschen, die das Schicksal gebeutelt hat. Die in der vorliegenden Besprechung verwendeten Zitate bieten Kostproben seines Stils.

In der ersten Reportage geht es um einen Fall bösartiger Desinformation. Monarchistisch und militaristisch gesinnte Kreise hatten das Gerücht verbreitet, es gäbe noch spanische Kriegsgefangene des Rif-Kriegs (1921-1926) in Marokko, die es zu befreien gelte. Die zweite, wesentlich umfangreichere Reportage handelt von der unblutigen und kampflosen Inbesitznahme der kleinen spanischen Kolonie namens Ifni.

Die erste Reportage wurde im Januar 1934 gedruckt, die zweite erschien in 13 Folgen in den Monaten April und Mai. Die beiden Reportagen aus Marokko sind nur lose verbunden. Die folgende Karte zeigt die kolonialen Besitzungen Spaniens und Frankreichs zu der Zeit.

Abb.1: Spanische Kolonial- und Protektoratsgebiete in Nordwestafrika, Ifni als kleine Enklave in Französisch-Marokko. Quelle: Wikimedia Commons

Zur Reportage über die »Gefangenen« des Rif-Krieges

In der Reportage vom Januar 1934 (9.-13.1.1934) sehen wir Manuel Chaves als investigativen Journalisten am Werk, der durch seine Recherchen ein immer wieder aufgewärmtes Gerücht als gezielte Desinformation entlarven will. Das Gerücht besagte, dass es noch immer um die 300 spanische Kriegsgefangene vor allem aus der Schlacht bei Annual gäbe, die es zu befreien gelte. Die Schlacht lag 1934 bereits mehr als 10 Jahre zurück. Damals, 1921, hatten sich im Norden Marokkos die Rif-Kabylen unter Abd el-Krim gegen die spanischen Kolonialherren erhoben und in jener Schlacht die spanische Armee verheerend geschlagen (ausführlicher dazu Reiner Tosstorff).

Seine Recherchen, die er in mehreren Artikeln an seine Zeitung kabelte, kamen zu dem Ergebnis, dass es in Marokko zwar eine ganze Reihe von Spaniern gab, die aus den unterschiedlichsten Gründen unter den Mauren lebten, etwa weil sie Abenteurer waren, den Kriegsdienst vermeiden wollten, aus dem spanischen Heer desertiert waren oder ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not verlassen hatten, aber keine Gefangenen.

Die Spanier die wir »retten« können, werden überwiegend freiwillige Auswanderer sein, Abenteurer, Entwurzelte, Leute, die ihre Heimat verloren haben, Herumirrende, die ihr Schicksal in die Hand nahmen, ihr Glück fanden und sich irgendeinem Stamm im Inland anschlossen – völlig zwanglos. Sie heimzubringen würde ihnen übel mitspielen, sie wollen nicht »gerettet« werden (S. 29).

Das Schüren von Hoffnungen bei denen, die noch Angehörige und Freunde vermissten, wurde als zynisches Manöver bloßgestellt. Man darf vermuten, dass mit dieser Kampagne die republikanischen Regierungen von rechten militaristischen Kräften unter Druck gesetzt werden sollten, vielleicht auch mit dem impliziten Vorwurf, dass der Republik das Schicksal seiner Soldaten nicht genug am Herzen liege. Jedenfalls war das Thema offenbar so virulent, dass sich nicht zuletzt aufgrund der Recherchen von Manuel Chaves das spanische Parlament (Cortes) damit beschäftigen musste.

Für die deutschen Leser dürfte der Reiz dieser Reportage, geschrieben für ein spanisches Publikum in einem bestimmten historischen Moment, wohl kaum in ihrem ursprünglichen Zweck, der Entlarvung einer bestimmten Desinformationskampagne aus dem antirepublikanischem Spektrum, liegen. Gefallen mag indes, wie der Autor die Ergebnisse seiner Recherchen temperamentvoll und scharfzüngig, mit Witz und Ironie ausbreitet und dabei die Absurdität des Gerüchts aufzeigen kann. Inhaltlich interessant sind noch heute die Einblicke in die unterschiedlichen Motive, die viele Spanier bewogen hatten, sich nach Marokko aufzumachen und dort niederzulassen.

Zur Reportage über die Besetzung von Ifni

Im April 1934, und damit beginnt die zweite Reportage, reist Manuel Chaves in Begleitung von zwei Piloten und einem Fotografen erneut nach Marokko, um von der Besetzung Ifnis zu berichten.

Kurz zur Vorgeschichte: Spanische Anrechte auf die Enklaven Ceuta, Melilla und Ifni gehen bis in die Zeit der Katholischen Könige zurück. 1859/60, nach dem Spanisch-Marokkanischen Krieg, wurden die spanischen Ansprüche erneuert. Marokko sprach Spanien im Vertrag von Wad-Ras unter anderem auch ein kleines, vage definiertes Gebiet zu, das sich später als Ifni konkretisieren sollte. In den Abkommen der Jahre 1904 und 1911 zwischen Frankreich und Spanien über die Aufteilung Marokkos, wurde dieser Anspruch Spaniens bestätigt. Versuche, Ifni einzunehmen, die alle scheiterten, gab es schon 1911, 1919 und 1925. Ein weiterer Versuch, der ebenfalls scheiterte, und der von Manuel Chaves kurz erwähnt wird, fand 1933, also schon zur Zeit der Zweiten Republik statt. Auf der Karte (Abb.1 ) sieht man die kleine spanische Enklave in Marokko – umgeben von Französisch-Marokko. Die Fläche Ifnis war als 60 Kilometer langer und 25 Kilometer breiter Streifen Land festgelegt worden. Ein zentrales Motiv für die Besetzung lässt sich im Druck der Kolonialmacht Frankreich auf Spanien finden. Frankreich wollte Ifni nicht länger als unkontrolliertes Gebiete dulden, das von einheimischen Aufständischen als Rückzugsraum genutzt werden konnte. Auf spanischer Seite dürften außerdem Erwartungen steigender wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung Westafrikas und nostalgische Träume einer absteigenden Kolonialmacht eine Rolle gespielt haben.

Zurück zur Reportage: Nach einem Zwischenstopp in Casablanca verliert das Flugzeug im Nebel die Orientierung und muss in der Gegend von Agadir notlanden, wobei das Fahrwerk zu Bruch geht. Nach der Bruchlandung kommen den Spaniern französische Soldaten zu Hilfe, die das Flugzeug abtransportieren. Manuel Chaves bleibt in Agadir, das zu Französisch-Marokko gehört, und versucht dort, die Weiterreise nach Ifni zu organisieren.

Er nutzt den erzwungenen Zwischenstopp einerseits dazu, die Frage nach den Kriegsgefangenen noch einmal vor Ort zu stellen. Soldaten spanischer Herkunft im französischen Militärdienst, mit denen er ins Gespräch kommt, versichern ihm, dass es auch auf französischem Gebiet keine spanischen Kriegsgefangenen gebe.

Zum anderen nutzt er den Aufenthalt, um Überlegungen über die feinen und weniger feinen Unterschiede zwischen französischer und spanischer Kolonialismuspraxis anzustellen. Dabei kann er auch die Frage, was die Spanier, die es nach Marokko verschlagen hatte, eigentlich dort machten, weiter erörtern. Er hält fest, dass sich die Franzosen bei ihrer Kolonisierung auf die Verwaltung der eroberten Gebiete beschränken, und fragt dann:

An wem bleibt also die Arbeit hängen? An den Spaniern, diesen unglückseligen Männern aus Oran, den genügsamen Andalusiern, den kühnen Levantinern, die sich – von der Heimat vergessen – auf den Routen Afrikas die Füße wund laufen und eine bewundernswerte Kolonisationsarbeit leisten, die ganz Frankreich mit Stolz erfüllt.
[…]
Ihrer Unternehmungslust verdanken viele Tausend spanische Schmiede, Schreiner und Maler die Arbeit, die wir ihnen nicht geben konnten, zudem schätzen die französischen Arbeitsvermittler ihre Fähigkeiten (S.68f.).

Nach dem Zwischenaufenthalt in Agadir, begibt sich Manuel Chaves auf schnellstem Weg nach Ifni. Da der Seeweg nach Ifni zu gefährlich und der Landweg durch französisches Gebiet noch nicht freigegeben ist, nimmt er schließlich ein Flugzeug, das ihn nach Kap Juby bringt, und von dort lässt er sich von einer Militärmaschine nach Ifni fliegen. Am 20. oder 21. April 1934 dürfte er dort eingetroffen sein. Die eigentliche Besitznahme des Territoriums hatte schon am 5. April begonnen.

Da sich die Landung der spanischen Truppen, die sich auf zwei Kriegsschiffen befanden, an der zerklüfteten Küste als schwierig erwiesen hatte, bestand die Einheit, die Ifni in Besitz nahm, einzig aus dem Oberst Oswaldo Capaz, seinem Adjutanten, dem Leutnant Emilio Lorenzi, und einem Matrosen. Sie wurden am Strand von etwa hundert Einheimischen erwartet, die sie in die Siedlung Sidi Ifni begleiteten (»drei oder vier Häuser, wenn man diese Schutzwälle ohne Dach denn Häuser nennen kann«, S. 70), und zu einem Begrüßungsessen eingeladen. Zu den Aktivitäten der ersten Tage der Inbesitznahme gehörte auch, die Steine von einem Platz am Rande der Siedlung wegzuräumen, um eine Landebahn für Flugzeuge zu schaffen. Ein Kabyle wird von Oberst Capaz zum »Chef des Aerodroms« (S. 73, 76) ernannt. Andere Kabylen werden zu Soldaten Spaniens erkoren, die dem Oberst direkt zugeordnet sind.

Da Manuel Chaves in dieser Phase der Besetzung Ifnis selbst nicht dabei war, verarbeitet er für die Schilderung der ersten Tage, das was er von Leutnant Lorenzi erfährt. Vielen Lesern wird es allerdings so vorkommen, als erführen sie alles aus erster Hand.

Als Manuel Chaves in Ifni ankommt, kann er beobachten, wie 70 kriegstüchtige Männer ausgewählt und zu einer einheimischen Schutztruppe geformt werden. Der Oberst motiviert diese »Bauerntruppe« (S. 93) damit, dass sie keine spanischen Söldner seien, sondern spanische Bürger, die fortan als »Guardia Civil« für den Schutz der Bevölkerung von Ifni zu sorgen hätten (S. 92f.).

Manuel Chaves ist von der Tatkraft des charismatischen Oberst außerordentlich angetan und vergleicht ihn mit Robinson:

Und Capaz, man muss es erwähnen, auch wenn es ihm nicht gefallen dürfte, hat sich mit der Kolonialisierung Ifnis so ans Werk gemacht, wie Robinson auf den Juan-Fernández-Inseln (S. 73).

In der Absicht, die Kolonisierung mitzuerleben, schließt sich Manuel Chaves mit Erlaubnis des Oberst der Truppe an, die den Auftrag hat, den südlichen Teil der Enklave zu besetzen. Nachdem die Kolonne an der Grenze zur französischen Zone Posten eingerichtet und die Flagge der spanischen Republik auf einigen der verfallenen Festungen gehisst hat, ist die Eroberung von Ifni abgeschlossen, »ohne dass ein einziger Schuss erforderlich gewesen wäre« (S. 97), und vor allem ohne die Unterstützung des größten Teils der Truppen, die nach wie vor nicht anlanden können und auf den beiden Kriegsschiffen vor der Küste festsitzen.

In der Hoffnung, dass die Spanier in Zukunft die Überfälle der Nomaden aus der Wüste verhindern würden, sind die Mitglieder der sesshaften Berberstämme bereit, ihre Gewehre abzuliefern. Auch die Nomaden müssen ihre Waffen künftig an der Grenze abgeben und bekommen sie erst bei der Rückkehr in die Wüste wieder ausgehändigt. Durch das Gewaltmonopol der Spanier, das klingt als Erwartung ebenfalls an, sollten sich auch Blutfehden zwischen den Stämmen besser einhegen lassen. Da Ifni spanisches Territorium ist, erhalten seine Bewohner auch die spanische Staatsbürgerschaft (in welchem Grad auch immer). Aus diesen Gründen können die sesshaften Stämme der Aït-ben-Amara, die auf dem Gebiet Ifnis siedeln, der Kolonialherrschaft offenbar etwas abgewinnen.

Abb. 2: Oswaldo Capaz, Manuel Chaves und möglicherweise Emilio Lorenzi in Ifni neben den von der einheimischen Bevölkerung abgegebenen Gewehren. Foto: Contreras, der für AHORA tätige Fotograf. Quelle: Webseite des spanischen Senders lasexta mit einem Beitrag vom 8.12.2020 über Chaves Nogales. In dem hier besprochenen Buch wird das Foto über zwei Seiten präsentiert, S. 106-107.

Manuel Chaves führt Gespräche, beobachtet und beschreibt dann in kleinen Geschichten mit anekdotischem Appeal Bräuche der Einheimischen, Formen der Gastfreundschaft, die politische Organisation der Kabylen, ihre Wirtschaftsweise, die Stellung der Frau, die Spannungen mit den Franzosen im Grenzgebiet, das Verhältnis der sesshaften Stämme zu den Nomaden; und immer wieder erzählt er auch von berührenden Schicksalen wie dem der »Bettler der Wüste«, wie der folgende Auszug exemplarisch zeigt.

Im Grenzgebiet von Ifni, die Soldaten haben ihr Nachtlager bereits aufgeschlagen, treibt ihn die Neugier in die Pilgerherberge:

Dort in einer Ecke sehr zusammenkauernd, in einer festen Umarmung eng umschlungen, lagern drei Männer, drei danteske Figuren, drei Ausgeburten eines Albtraums: Ein Greis, ein Mann und ein Kind, dürr wie ein Skelett, fast nackt, mit Gesichtszügen, welche Hunger und Unbarmherzigkeit zu Fratzen verzerrt haben, auf ewig leidend; einer von ihnen, der Mann, ist mit Blindheit geschlagen, mit dieser entsetzlichen Blindheit offener und beweglicher Augen; die anderen haben Augen wie Halluzinierende.

Sie sind »Bettler der Wüste«, werde ich informiert […] Ein wenig Fakir, ein wenig Bettler, und immer Geschichtenerzähler in einer Person, kreuzen diese erstaunlichen Kreaturen, die die menschlichen Bedürfnisse auf ein Minimum reduziert haben, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen überall in der Wüste auf, ganz unempfindlich gegen alles, gegen die Sonne, sogar den Hunger, Durst und Kälte. Irgendwann sterben sie einfach, und Dünen werden ihre ausgedörrten Knochen überspülen wie Wellen (S. 100f.).

Das Ziel der Reise des Journalisten geht aber über das Sammeln von Geschichten hinaus. Er will sich ein Urteil über die Besetzung Ifnis und die kolonialen Besitzungen Spaniens in Afrika bilden. Offensichtlich hatte sich Spanien ja erst, nachdem es seine umfangreichen überseeischen Besitzungen verloren hatte, dem lange verschmähten »kolonialen Überrest« in der Sahara zugewendet. Wie Manuel Chaves gleich eingangs seiner Zeitungsreportage süffisant anmerkt, verhält es sich dabei wie mit den wertvollen Dingen einer reichen Familie, die ausrangiert auf dem Dachboden verstauben bis die Familie verarmt und sich fragt, ob die Kinder nicht noch irgendetwas von diesem alten Gerümpel brauchen oder wenigstens versilbern könnten.

Und die Republik, dieses aufrechte Geschlecht der Mittelklasse, die sich den Luxus vergessener Kostbarkeiten auf dem Dachboden nicht leisten kann, findet nun diesen kolonialen Überrest
[…]
Das Leben ist hart; man muss aus allem seinen Nutzen ziehen und den unbrauchbaren Rest versilbern. Diese Abwägung, ob abgelegtes altes Gerümpel zu verwerten oder zu liquidieren ist, ist der wirkliche Kern unserer letzten kolonialen Unternehmung, die wir mit der Besetzung Ifnis in Angriff genommen haben. Die umsichtigen Gegner kolonialer Abenteuer mögen sich bitte nicht gleich aufregen (S. 59).

In den folgenden Wochen überzeugt sich der Journalist in den Gesprächen mit den Kaïds der Berberstämme davon, wie bereits angeführt, dass die Bewohner von Ifni die Anwesenheit der Spanier durchaus begrüßten. Und er kommt zu dem Ergebnis:

Ich weiß nur, dass wir, indem wir Spaniens Symbol gehisst haben, hier ein weit sichtbares Signal des Friedens gesetzt und die Hoffnung auf Wohlstand unter diesen armen, hungrigen Bauern Ifnis geweckt haben. Und das ist gut so (S. 110).

Es wäre falsch, Manuel Chaves deshalb gleich in die Ecke des paternalistischen Kolonialisten zu stellen. Seine Einstellung zum spanischen Kolonialismus und der Kolonialpolitik der Republik ist komplexer und ohne Frage ambivalent. Es versteht sich, dass er nicht zur anti-kolonialistischen politischen Linken gehört und nicht prinzipiell gegen jede Kolonialpolitik ist. Was er konkret in Ifni als Möglichkeit gesehen hat, hat ihm offenkundig gefallen.

Er bleibt jedoch weiterhin skeptisch und zweifelt stark daran, dass die spanische Politik und die spanische Administration in der Lage und willens wären, die Voraussetzungen einer auskömmlichen Entwicklung in ihrem Kolonialgebiet auf Dauer zu stellen. Ein Erfordenis für die Versorgung der Enklave wäre etwa die Einrichtung einer regelmäßigen und zuverlässigen Flugverbindung zwischen Spanien und der Kolonie; ein anderes Erfordernis wäre der Bau eines Hafens, was aufgrund der widrigen Bedingungen an dieser Küste extrem teuer wäre.

Er reflektiert außerdem, dass das Wohl und Wehe von Ifni mit der Befriedung der Westsahara zusammenhängt. Eine dauerhafte Befriedung dieses Gebiets würde aus seiner Sicht nur zu erreichten sein, wenn den Spaniern die »Unterwerfung der Nomadenfürsten« (S. 118) in der Westsahara gelänge. Dazu wäre es vorab nötig, eine Landverbindung durch französisches Protektoratsgebiet von Ifni nach Kap Juby herzustellen. Das wiederum setzte aber voraus, dass zuvor die Franzosen die Nomaden und Aufständischen in diesem Gebiet unter ihre Kontrolle brächten. Angesichts der zahlreichen Hindernisse und Unwägbarkeiten, bleibt es für Manuel Chaves weiterhin eine politische Option, sich von den kolonialen Unternehmungen in Marokko ganz zu verabschieden.

Die Antwort auf die Ausgangsfrage vom Beginn seiner Reise, nach dem Nutzen der Besetzung Ifnis für die spanische Republik, fällt am Ende wenig überzeugend aus. Auf seiner Expedition ins Innere der Kolonie hat er fruchtbare Landstriche gesehen, und verbindet damit Chancen gewinnbringender Kolonialisierung (S. 114). Diese »Flecken fruchtbarer Erde für Spanien zu retten« sei das einzige »wofür sich der ganze kolonialistische Aufwand, Ifni zu besetzen, vielleicht lohnt« (S. 114). Eine gründliche Erörterung anderer möglicher Vorteile der Kolonialisierung findet nicht statt. Nur hier und da scheinen, verstreut über die 13 Teile der Reportage, andere Zwecke und Nutzenaspekte auf (z.B. Bodenschätze, Fischereirechte, Absicherung der Kanarischen Inseln, Bedeutung für die Luftfahrt, für das Transportwesen oder der militärische Nutzen). Für diese Zurückhaltung mag sein Status als quasi embedded journalist, der für eine regierungsnahe Tageszeitung schreibt, eine gewisse Rolle gespielt haben. Vielmehr aber dürfte es mit einer unausgesprochenen Maxime seines Schreibens zu tun haben: nur über das zu schreiben, was er selbst gesehen und erlebt hat, und sich zu verbieten, es im Licht von Theorien, Ideologien und Strategien zu deuten. Augenzeugenschaft als Leitprinzip der Reportage und die darauf fußende Unmittelbarkeit der Berichterstattung tragen maßgeblich zur anhaltenden Frische dieses über 85 Jahre alten Textes bei.

Vorzüge und Mängel der Edition

Die Übersetzung trifft den richtigen Ton, und die Buchgestaltung würde, ohne wenn und aber, einen vorderen Platz unter den »schönsten Deutschen Büchern« verdienen. Da stimmt alles: von der Papierqualität, über den türkisen Halbleineneinband, das leuchtend blaue Lesebändchen, den Satz bis zum Layout mit ansprechender Integration des Fotomaterials.

Wenn der Verlag nur auf ein Publikum von intimen Kennern spanischer Geschichte und Literatur aus wäre, könnte die Besprechung hier mit einem Dank enden. Wäre das Ziel jedoch, ein breiteres deutsches Publikum zu erreichen, wäre ein historisch informierender und orientierenden Text wünschenswert, der Kontexte herstellte und erläuterte, was die Lektüre dieser alten Zeitungsreportagen heute inhaltlich noch lohnt. Die hochgestochene »Einführung zur ersten deutschen Ausgabe« (S. 7-15) des Frank Henseleit – Verleger, Herausgeber und Übersetzer des Buches –, leistet dies nicht. Zur Person des Manuel Chaves Nogales erfährt man zwar einiges, aber zum Kontext der zentralen Reportage, der Besetzung Ifnis, praktisch nichts. Es findet sich nicht einmal eine Karte des spanischen Kolonialgebiets in Nordwestafrika, der man Lage und Ausdehnung Ifnis entnehmen könnte.

Eine Frage, die sich heutigen Lesern und Leserinnen bei der Lektüre aufdrängt, ist zweifelsohne, was aus Ifni nach der Besetzung 1934 wurde. Diese Frage mag mit einschließen, was aus den Personen wurde, mit denen Manuel Chaves in Marokko zu tun hatte. Eine historisch gut informierte Einleitung (oder ein entsprechendes Nachwort) hätte deshalb nicht nur die Vorgeschichte der Besetzung von Ifni anzusprechen, sondern die Geschichte Ifnis von der Besetzung bis zur Gegenwart wenigstens in Umrissen aufzuzeigen.

Ein erstes Kapitel der Geschichte Ifnis als spanischer Kolonie nach 1934 weist auf das Ende der Zweiten Republik. Der von den in Afrika stationierten spanischen hohen Militärs, den Africanistas, maßgeblich organisierte Putsch gegen die Republik, und der vom Einsatz des Afrika-Heers (nach Schätzungen 80.000 Soldaten) maßgeblich beeinflusste Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939), gehören in dieses Kapitel.

In einem weiteren Kapitel wäre von der schleppenden Dekolonisierung Marokkos nach 1945 zu sprechen. 1957/58 kam es zum Ifni-Krieg, der im April 1958 durch ein Abkommen zwischen Spanien und Marokko beendet wurde. Der Kap Juby Streifen wurde damals unabhängig, die Kolonie Ifni wurde auf die Stadtregion Sidi Ifni reduziert. Die verkleinerte Kolonie und die Westsahara blieben jedoch weiter unter Spaniens Kontrolle. Ifni erhielt 1958 den Status einer spanischen Provinz. Das Franco-Regime begann nun in einer Art Angstblüte, wie das letzte Austreiben einer absterbenden Pflanze genannt wird, massiv in Ifni zu investieren. Erst auf internationalen Druck hin (UN-Resolution 1514 von 1960, UN-Resolution 2072 von 1965) trat Spanien Ifni am 30. Juni 1969 schließlich an Marokko ab. Bis zum Rückzug der Spanier aus der Westsahara dauerte es noch bis 1976. Der Konflikt um die Westsahara zwischen Marokko und den Sahrauis ist bekanntlich noch immer nicht gelöst. Die UNO sieht die Westsahara weiterhin als »nicht entkolonialisiertes Gebiet«.

Diese Wandlungen Ifnis und des spanischen Kolonialgebiets in Nordwestafrika zu kennen, verändert den Blick auf die Reportage über Ifni, das 1934 fast wie eine koloniale Idylle anmutete, und ist wichtig, um einen Gegenwartsbezug herzustellen.

Es gibt noch eine zweite Ebene, auf der eine historische Einbettung oder Kontextualisierung der Reportage der Lektüre zugute käme. Die Reportagen von Manuel Chaves sind inzwischen selbst historische Quellen und wären es wert, vom Stand der heutigen Geschichtswissenschaft aus beurteilt und erläutert zu werden. Stimmt alles, was uns der Reporter erzählt? Welche Informationen über die Besetzung Ifnis, über die Historiker heute verfügen, standen ihm damals noch nicht zur Verfügung? Welche Informationen ließ er bewusst außen vor, weil sie nicht zu seiner Art Reportage passten? Welches zum Verständnis von Anspielungen und Sottisen nötige Wissen konnte er 1934 bei seinen spanischen Lesern und Leserinnen voraussetzen?

Kurzum: Je mehr die Leser über die spanischen Kolonialpolitik und -geschichte erführen und je mehr sie an Informationen über die Vorgeschichte, die Besetzung und die weitere Entwicklung der kleinen Kolonie Ifni erhielten, um so lohnender dürfte die Lektüre der Reportage sein, und umso deutlicher würde auch die besondere Qualität des Meistererzählers Manuel Chaves Nogales hervortreten, der dabei war.

Literaturhinweise

Spanische Ausgaben der Reportagen

  • Manuel Chaves Nogales: Ifni, la última aventura colonial española. Almuzara: Córdoba 2012 [Diese Ausgabe basiert auf dem Text der 2001 veröffentlichten Werkausgabe, Band 1].
  • Manuel Chaves Nogales: Los desaparecidos en la catástrofe de Annual. In: Obra Completa, Band III (1931-1936), hrsg. v. Ignacio F. Garmendia, Barcelona: Libros del Asteroide, S. 433-449
  • Manuel Chaves Nogales: Nuestra última empresa colonial. In: Obra Completa, Band III (1931-1936), hrsg. v. Ignacio F. Garmendia, Barcelona: Libros del Asteroide, S. 451-525
  • Online: Die Biblioteca Digital Memoria de Madrid ist ein Onlineangebot, das es ermöglicht, die Originalreportagen von Chaves Nogales samt Bildmaterial wie sie in der Zeitung AHORA abgedruckt wurden, faksimiliert abzurufen. [zuletzt überprüft am 22.04.2022]

Geschichtliches zu Ifni und den spanischen Kolonien in Nordwestafrika

  • De Madariaga, María Rosa: Los moros que trajo Franco. Alianza Editorial: Madrid 2015
  • De la Mata, Javier Ramiro: Los prisioneros españoles cautivos de Abd-el-Krim: Un legado del desastre de Annual. In: Anales de Historia Contemporánea, Vol. 18 (2002), S. 343-354. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Doppelbauer, Max: Sidi Ifni. Spanische Kolonie vom 6. April 1934 bis 30. Juni 1969. In: europa ethnica, 2014, Bd. 71, S. 36-39
  • Hart, Montgomery David: The Ait Ba ‚Amran of Ifni: an ethnographic survey. In: Revue de l’Occident musulman et de la Méditerranée, n°15-16, 1973. Mélanges Le Tourneau. II., 1973, S. 61-74. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Martínez-Milán, Jesús: Sidi Ifni en el contexto del colonialismo español en el sur de Marruecos, 1912-1956. Hespéris tamuda / Université Mohammed V., Faculté des lettres et des sciences humaines. XLVI, 2011, S. 39-64. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Quintana-Navarro, Francisco: La ocupación de Ifni (1934): Acotaciones a un capítulo de la política africanista de la 2ª República. In: Víctor Morales Lezcano (coord.): II Aula Canarias y el Noroeste de África. Madrid, Cabildo Insular de Gran Canaria, 1988, S. 97-124. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Tosstorff, Reiner: Aufstand der Rifkabylen gegen die spanische Kolonialherrschaft. Ein Gespräch mit Reiner Tosstorff von Armin Osmanovic, Rosa Luxemburg Stiftung, 2021. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]

Manuel Chaves Nogales: Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer. Köln: Kupido Verlag 2021, ISBN 978-3-96675-035-6