Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten

Faktisches und Erdachtes in der Exil-Geschichte vom spanischen Kommunisten in der DDR und seiner Tochter

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Ein in der deutschen Öffentlichkeit wenig präsentes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte bildet den Aufhänger des erfolgreichen, preisgekrönten Romanerstlings, der 1981 in Madrid geborenen Schriftstellerin Aroa Moreno Durán: das Exil republikanischer, insbesondere kommunistischer Bürgerkriegsflücht­linge in der DDR. In Spanien erschien der Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, bereits 2017. Auf Deutsch ist er in der vorzüglichen Übersetzung von Marianne Gareis im Jahr 2022 erschienen.

Diese Buchbesprechung geht über den üblichen Rahmen einer Rezension hinaus, insofern gefragt wird, wie historische Fakten und Erdachtes im Roman ineinandergreifen und inwieweit der Roman selbst etwas beiträgt zum besseren Verständnis der Lebensbedingungen und Prägungen der spanischen Emigranten und ihrer Kinder. Da es inzwischen einen beachtlichen Stand an historischem Wissen zu den spanischen Asylsuchenden gibt, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der SBZ und dann in der DDR im Exil lebten (vgl. zur Literatur Abschnitt 7), kann eine Antwort auf diese Fragen versucht werden. Da die Autorin selbst in mehreren Interviews ihre intensive Recherchearbeit betont hat (vgl. Strode 2018; Alvite 2019; Whittemore 2021), ist bei ihr von einem reflektierten Umgang mit der Zeitgeschichte auszugehen. Bevor es um diese Fragestellung gehen kann, sind Inhalt und Struktur des Buches sowie das historische Wissen über das Exil in der DDR zu skizzieren.

2. Ein erster Überblick

Der Roman erzählt eine doppelte Exil-Geschichte: einer kleinen Zahl spanischer Republikaner, die meisten davon Kommunisten, die nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) fliehen mussten und nicht nach Franco-Spanien zurückkehren konnten, wurde in der DDR Asyl gewährt (für viele das zweite oder dritte Exil). Im Roman holt einer jener Kommunisten seine Frau aus Spanien nach und gründet kurz nach der Gründung der DDR in Ostberlin eine Familie. Zur Familie gehören zwei Töchter, Katia und Martina. Die erste wird 1950, die zweite 1953 geboren. Beide wachsen in der DDR auf. Katia, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, verlässt 1971 ihre Heimat ‒ «Republikflucht» in der Terminologie der DDR. Sie lässt ihr Land, Berlin, Fa­milie und Freunde zurück, um mit einem jungen Mann aus Backnang (bei Stuttgart) ein neues Le­ben zu beginnen. Damit beginnt die zweite Exil-Geschichte, diesmal als Ost-West-Geschichte. Westdeutschland wird Katia nicht zur neuen Heimat, sondern im Gegenteil zunehmend als Fremde und ungeliebtes Exil erlebt. Mit der Zeit führt das in eine Depres­sion. Land und Leute werden immer stärker abgelehnt und die verlorene Heimat wird im Gegenzug nostalgisch erinnert. Dazu kommt, dass ihre sich als heillos erweisende Entscheidung nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familie in der DDR verheerende Folgen hatte. Das muss sie erkennen als sie 1991, also nach der Wiedervereinigung, ihre Familie in Berlin aufsucht. Sie steht vor einem Scherbenhaufen. Was darauf folgt, bleibt offen, ein Neuanfang scheint nicht ganz ausge­schlossen.

Drei für Romane nicht untypische Fragenkomplexe spielen in dieser Erzählung eine gewisse Rolle: die ungewollten und unvorhersehbaren Folgen irreversibler Entscheidungen, die Verzahnung von großer Geschichte (spanischer Bürgerkrieg, Eiserner Vorhang, Kalter Krieg, Mauerbau, Wiederver­einigung) mit den Lebensläufen des Romanpersonals sowie der Komplex von Herkunft, Heimat, Fremde, Integration und Identität.

Das Buch besteht aus vier Teilen und einem kurzen nicht betitelten Vorspann. Die Überschriften lauten: Der Osten (Zeitraum 1956 – 1971), Niemandsland (1971), Drüben (1972 – 1990), Vaterland (1992). Die Teile sind weiter unterteilt in kurze Abschnitte jeweils versehen mit einer Überschrift, einer Ortsangabe und einer Jahreszahl.

Die Zeit von 1956 bis 1990 wird von Katia als Ich-Erzählerin dargeboten. Von der Art her wirkt es wie ein Aufschreiben der Erinnerungen zum Zweck der Selbstvergewisserung. Die Aufzeichnung richtet sich vom Gestus her folglich nicht an ein anonymes Publikum, sondern ist für sie selbst, und vielleicht noch für eine vertraute oder vertrauenswürdige Person, bestimmt. Das Ich erinnert, was die Erinnerungsübung hergibt, und das muss bekanntlich weder vollständig noch verlässlich sein. Die Ich-Er­zählerin reflektiert die Selektivität persönlicher Erinnerungen: «Zwischen Gefühl und Erinnern besteht eine elektronische Spannung […]. Je stärker das Gefühl, desto leichter bleibt ein Ereignis in Erinnerung. Das Gefühl ist der Filter…» (S. 50).

In dem erwähnten zweiseitigen Vorspann und im letzten Teil des Romans, Vaterland, ist es nicht die Ich-Erzählerin, sondern eine distanziertere Erzählstimme, die das Wort hat. Genauer: Es wird von Katias Handeln, Denken und Fühlen berichtet so als beobachte sie sich selbst von außen. Das könnte so interpretiert werden, dass die Autorin damit zeigen will, dass die Protagonistin am Ende der Geschichte zur Selbstdistanzierung in der Lage ist. Dem Romanende folgt eine Seite mit nur einem ein­zelnen Satz:

Mehr als dreißig Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer existieren auf der Welt immer noch mehr als fünfzehn Mauern, mit denen auf gewaltsame Weise versucht wird, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken. (S. 173)

Auf Seite 175 findet sich eine Dank überschriebene Passage, die an erster Stelle Mercedes Álvarez und Núria Quevedo gilt. Dieser Hinweis ist aufschlussreich, da es sich bei diesen beiden Frauen um in der DDR groß gewordene Töchter namhafter spa­nischer Kommunisten (Ángel Álvarez Fernández und José Quevedo) handelt. In einem langen Gespräch, das als Buch publiziert wurde, hatten die beiden Frauen schon im Jahr 2004 über ihr Leben und das ihrer jeweiligen Eltern Auskunft gegeben (Álva­rez und Quevedo 2004). Auch die Wissenschaft hat sich für sie als Interviewpartner interessiert (Drescher 2008, Denoyer 2011). Ohne die Begegnung mit diesen «Töchtern von Kommunisten» hätte es den vorliegenden Roman von Aroa Moreno Durán nicht gegeben.

3. Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen im Roman

Die Hauptperson und Ich-Erzählerin, Katia, wird in Ostberlin am 21. Februar 1950 geboren (S. 50 und S. 103). Die Erinnerung an die Geschehnisse von 1956 bis 1991 erfolgt weitgehend chronologisch. Nur hier und da fließen Informationen aus anderen Zeiten, von anderen Orten und über andere Personen ein.

Katias Eltern sind Spanier, die in Ostberlin in beengten Verhältnissen im Exil leben. Katia hat eine drei Jahre jüngere Schwester, Martina. Ihr Vater, Manuel, ist überzeugter, moskautreuer Kommu­nist, der der DDR dankbar für das gewährte Asyl ist. Vom Vater wird, was seine politische Haltung angeht, erinnert, dass er sich sehr aufregen konnte, wenn es um die deutsche Ostpolitik ging, die er ablehnte. Besonders echauffiert er sich als Willy Brandt 1970 den Friedensnobelpreis erhält. «Glaub mir, Isabel, das ist der Todesstoß für alles, an das wir glauben. Der Todesstoß, Isabel» (S. 60).

Isabel, der Mutter, liegt wenig an der Partei und Politik. Sie bringt ihren Kindern das Beten und das «mea cul­pa» bei (vgl. S. 56). Sie weigert sich Deutsch zu lernen, ist schlecht integriert, leidet viel und erlebt das Exil als Fremde. Auf Details zur Geschichte der Eltern, besonders des Vaters, wird später im ge­schichtlichen Kontext noch näher eingegangen.

Erfahrungen mit Kontrolle und Überwachung in der DDR und einer Atmosphäre, in der jedes Wort bedacht werden muss, weil eine latente Gefahr der Denunziation besteht, sind sehr präsent in den Erinnerungen Katias. Mit Vorbedacht werden in dem Roman auch Spuren gelegt, die sich dann später in Verbindung mit der Tätigkeit des Vaters als Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi bringen lassen. Zu einem Treffen der Familie mit DDR-kritischen Exilspaniern in Leipzig erinnert Katia: «Es war Papá der sagte, es reicht, Leute, wir müssen dieser Republik dankbar sein. Wir haben sie nie wiedergesehen» (S. 21). Ein weiteres Beispiel: Nach einer Begegnung in Begleitung ihres Vaters mit einem eigenwilligen spa­nischen Exilanten, der als Dozent an der Humboldt Universität lehrte, muss sie feststellen, dass die­ser schon wenig später nicht mehr an der Humboldt-Uni unterrichtete (S. 75).

Das Klima der Überwachung ist greifbar. Durchaus subtil wird auf die DDR als Überwachungsstaat auch in einer Szene hingewiesen, in der Katia im Unterricht unter der Bank in dem berühmten Roman von Anna Seghers «Das siebte Kreuz» liest. Als der Dozent sie darauf anspricht, was sie denn da lese, ist sie gerade an folgender Stelle des Romans:

Die Angst, die mit dem Gewissen nichts zu tun hat, die Angst der Armen, die Angst des Huhnes vor dem Geier, die Angst vor der Verfolgung des Staates. Diese uralte Angst, die besser angibt, wessen der Staat ist, als die Verfassungen und Geschichtsbücher (S. 46).

Ungeachtet dieser Wahrnehmung von Kontrolle und Überwachung, ist ihr zentraler Bezugspunkt ‒ vor dem Mauerbau und auch noch danach ‒ die kleine Familie, mit offenbar wenig Außenkontak­ten, weder zu Spaniern noch zu Deutschen. Die Familie ist ihr Heim. Ende der sechziger Jahre, An­fang der siebziger Jahre findet eine Öffnung statt. Katia hat zu studieren begonnen und hilft auch bei der Vorbereitung der Weltfestspiele der Jugend und Studenten mit. In diesem Kontext findet sie zudem eine gute Freundin, Julia, eine Kubanerin. Katia scheint auf einem guten Weg, sich in die DDR-Gesellschaft zu integrieren.

Im November 1969 taucht dann ein Student aus Westdeutschland in Ostberlin auf, Johannes aus Backnang, der sich für sie interessiert und sich auch in den nächsten zwei Jahren um sie bemüht. 1971 lässt Katia dann Familie, Studium und Freundin zurück und «macht rüber». Genauer: Bezahlte Fluchthelfer (finanziert von den Eltern Johan­nes‘) ermöglichen ihre Flucht über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik.

Katia tut sich mit der neuen Umgebung schwer, die zunehmend als feindliche Fremde empfunden wird. Gewissensbisse kommen dazu. Als sie um 1980 in einem Telefonat die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält, steigert sich ihr Leid noch weiter. Sie bereut ihre irreversible Entscheidung. Trotz schwäbischer Normerfüllung (Heirat, Haus, zwei Kinder, zwei Autos), entfernt sie sich zuneh­mend innerlich von dieser Umgebung, zieht sich mehr und mehr zurück, wird depressiv und initiativlos. Sie entwickelt eine starke Abneigung nicht nur gegen die bundesrepublikanische Gesell­schaft, sondern auch gegen Johannes, ihren Partner und Vater ihrer Kinder. Die DDR wird zuneh­mend nostalgisch als verlorene Heimat empfunden. Am 4. Oktober 1990 kommt es, gut von der Autorin gewählt, einen Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit zur Scheidung (S. 148).

Integration und Identitätsfindung sind gescheitert. Katia ist psychisch krank. Nur auf der Folie ihrer misslungenen Identitätsbildung, ihrer Schuldgefühle und Depression erscheinen die Schuldzuschrei­bungen an ihr persönliches Umfeld und die Gesellschaft der Bundesrepublik dem Rezensenten stimmig. Für ihre Hei­matlosigkeit und Depression findet die Ich-Erzählerin eindrückliche sprachliche Verdichtungen. Dazu einige Beispiele:

«Wenn der Krieg kalt war, dann war ich eisig» (S. 125).

Zur Nachricht vom Tode ihres Vaters schreibt sie « … diese Information, die mich wie ein schwerer Stein in einen dicken Morast hineinzog, in einen Kopf, der für immer wirr war, düster und schwarz» (S. 131).

Zum lustlosen Akt mit dem inzwischen ungeliebten Gatten wird erinnert: «Zwei Körper im Wider­streit. Johannes packte mich kraftvoll. Wir umarmten uns einige Minuten lang. Und dann ging alles ganz langsam. Zu langsam» (S. 133).

Zu Liebesverlust und Entfremdung von Johannes heißt es «[…] dass ich tief in meinem Inneren ei­nen Groll gegen Johannes hegte, weil er mich aus allem herausgerissen hatte, was mein Leben ge­wesen war» (S. 144).

Knapp und zugespitzt formuliert Katia ihre Desillusionierung: «Johannes, ich gebe alles für dich auf, Johannes, du hast mir alles genommen, Johannes, es gibt keine Grenzen, Johannes, Mauer» (S. 149).

Bei der Scheidung geht ihr (nostalgisch-pathetisch) durch den Kopf: «Ich war Kind eines antifa­schistischen Landes, eines Landes, das an die Befreiung glaubte, eines unter Druck gesetzten und verarmten, eines bäuerlichen und sicheren Landes, und irgendwie musste ich mich auflehnen und dieses andere Land verlassen» (S. 150). Es ist ihr bewusst, dass es sich um eine «wirre Gedankenkette» handelt, zumal es zu dem Zeitpunkt das eine Land, die DDR, schon nicht mehr gibt.

Nach dem Mauerfall 1989 dauert es noch zwei Jahre bis sie ihre Mutter und Schwester auf­sucht. 1991 kommt es zum Finale in Berlin: Wir erfahren, was seit Katias Weggang vor 20 Jahren alles passiert ist, wovon sie nichts wusste. Ihre Mutter hat ihren Weggang nie verkraftet und däm­mert jetzt im Rollstuhl dahin, betreut von Martina. Ihr Vater wurde offenbar kurz nach und wegen ihrer Flucht verhaftet und starb nach langer Haft (nicht vor 1981 jedenfalls) als verzweifelter lini­entreuer Kommunist in einem Gefängnis der DDR. Stasi-Akten über ihren Vater belegen, dass die­ser seit 1962 als Informeller Mitarbeiter der Stasi andere Exilspanier bespitzelte.

Die Geschichte endet im Jahr 1991. Das letzte Wort des Romans ist Pojechali. Dieses russische Wort war bereits einmal vorgekommen als Katia die DDR verließ: «Pojechali, sagte ich mir, los geht‘s. Wie der Kosmonaut Juri Gagarin an Bord der Wostok I ging ich fort, ohne zu wissen, dass ich, wie er, Gott auch nicht finden würde dort drüben» (S. 86). Wofür dieses Wort des Aufbruchs am Ende des Romans steht, ist nicht sicher: vielleicht für einen Neuanfang. Nimmt man den ersten Satz des Romanvorspanns dazu, «Ka­tia Ziegler nimmt die Kappe des Füllfederhalters ab, mit dem sie alle wichtigen Dokumente ihres Lebens unterschrieben hat» (S. 9), dann könnte das bedeuten, dass der erste Schritt des Neuanfangs im Aufschreiben ihrer Erinnerungen liegt.

Nachdem der Gang der Handlung soweit bekannt ist, soll als Nächstes der Stand der Geschichtswissenschaft zum Thema der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR kurz vorgestellt werden.

4. Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR – ein Destillat

Erst kurz nach der Jahrtausendwende setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema ein (Heine 2001). Es folgte eine beachtliche Zahl an akademischen Arbeiten. Bereits 2012 ist ein Stand der Forschung erreicht, der ein Gesamtbild von den Exilspaniern in der DDR erlaubt. Die Schwerpunkte und Fragestellungen der Arbeiten sind unterschiedlich, wie es auch in Detailfragen Unterschiede gibt. Dennoch kann von einem Gesamtbild ausgegangen werden, das allgemein geteilt wird.

Es ist zunächst wichtig, zwei Gruppen von Exilspaniern im Zeitraum 1945-1956 zu unterscheiden: Die erste Gruppe bilden die Spanier, die sich nach dem Ende der Naziherrschaft 1945 in der SBZ und dem Ostsektor Berlins befanden, die fast alle «im Spanischen Bürgerkrieg Soldaten der Repu­blik» gewesen waren (Uhl 2004, S. 235). Dazu gehörten typischerweise auch die Spanier, die aus ihrem Exil in Frankreich zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht wurden und in der Regel für die Rüstungsindustrie hatten arbeiten müssen (zu den Zwangsarbeitern in den KZ-Außenlagern vgl. Meerwald 2022 und die Rezension dazu im Spanienecho). Diesem Personenkreis gestattete die So­wjetunion nach der Einnahme Berlins, zurück nach Frankreich oder in die Sowjetunion zu gehen oder eben in Berlin zu bleiben (Alted Vigil 2002, S. 143). Dieser Personenkreis wäre um weitere Elemente zu erweitern, etwa freiwillige Vertragsarbeiter aus Franco-Spanien oder pro-franquistische Spanier auf deutschem Boden. Die Schätzungen der Gruppengröße liegen bei 40-50 Personen (Ei­roa 2018, S. 145) bzw. einigen Dutzend (Kreienbrink 2005, S. 319).

Der Kern dieser Gruppe, der sich als republikanisch und kommunistisch verstand, formierte sich ab 1947 im Ausschuss der Spanisch-Republikanischen Emigration/Opfer des Faschismus, kurz ERE (Emigración Republicana Española) (Uhl 2004, S. 236). Nach Angaben dieser Organisation im Jahr 1948 zählte sie etwa 35 Personen (Kreienbrink 2005, S. 319). Die Leitung der Organisation lag zu­nächst bei José Quevedo. Der ERE wurde allerdings die Anerkennung seitens der SED und der spa­nischen KP verwehrt. Dolores Ibárruri, damals Generalsekretärin der KP Spaniens, ließ wis­sen, wie es in einem oft zitierten Brief an Wilhelm Pieck (Vorsitzender der SED) vom 9.9.1947 heißt: «[…] Sogar solche, die in Konzentrationslagern waren und nicht nach Frankreich mit allen anderen gefahren sind, muss man mit Vorsicht behandeln. Jedenfalls, wir können keinen einzigen unter ihnen garantieren. Deswegen möchten wir Euch bitten, solche Spanier nicht zu benutzen, da sie politisch überhaupt nicht zuverlässig sind» (zitiert hier nach Poutrous 2004, S. 364). Die ERE wurde dann 1949 aufgelöst. Es wurde den Mitgliedern dieser Gruppe danach verwehrt, in die PCE (Partido Comunista de España) oder die SED einzutreten, aber es wurde auch kein Mitglied dieser Gruppe aus der DDR ausgewiesen (Drescher 2008, S. 36).

Die zweite Gruppe spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge kam 1950 in die DDR als Folge der vom französischen Staat im September 1950 angeordneten Polizeiaktion namens «Opération Boléro-Paprika», die gegen Mitglieder ausländischer kommunistischer Parteien, vor allem der spanischen KP gerichtet war. 292 Personen aus zwölf Nationen wurden festgesetzt, darunter 251 Spanier. Im Kalten Krieg wur­den die spanischen Kommunisten nicht mehr als antifranquistische Opposition geschätzt, sondern als stalinistische fünfte Kolonne betrachtet. «Schlussendlich wurden infolge der ‚Operation Bolero-Paprika‘ 176 Spanier verhaftet und die Mehrheit in Korsika oder Algerien unter Hausarrest gestellt. 33 von ihnen wurden jedoch vom Innenministerium über Straßburg sofort in die DDR ausgewiesen. Einige Monate später erfolgte die Familienzusammenführung in Dresden» (Denoyer 2011, S. 98). Die Operation Bolero-Paprika ist mehrfach beschrieben worden (Heine 2001, Poutrous 2004, Uhl 2004, Kreienbrink 2005, Drescher 2008; besonders ausführlich in Denoyer 2017, S. 29-100; Eiroa 2018 befasst sich mit dem Exil spanischer Kommunisten in der DDR und in den anderen sozialisti­schen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang).

Im Mai 1951 wurden für das Kollektiv (ein Ausdruck, den sowohl PCE als auch SED verwendeten) in Dresden 85 Personen nachgewiesen: 31 Männer, 21 Frauen, 33 Kinder/Jugendliche. Diese Spanier wurden grob gesprochen gut in der DDR behandelt, bekamen Arbeit und Wohnung und wurden als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Die vergleichsweise gute Behandlung dieser kommunisti­schen Exilanten ist auch mit Blick auf die Legitimation der DDR und ihren Gründungsmythos als antifaschistischer Staat zu sehen. Der Kampf deutscher Kommunisten in den internationalen Briga­den und die bemerkenswerten Karrieren ehemaliger deutscher Spanienkämpfer in der Politik der DDR und nun die Aufnahme der aus Frankreich ausgewiesenen ehemaligen Waffenbrüder in der DDR, gehören in dasselbe Narrativ (ausführlich dazu Uhl 2004). Denoyer spricht in diesem Zusam­menhang davon, dass die «Spanier von der DDR-Führung teils in erheblichem Maße instrumentali­siert [wurden], um aus ihrer Präsenz eine gewisse Legitimation sowie einen Prestigegewinn sowohl auf internationaler Ebene als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung ableiten zu können» (Denoyer 2011, S. 102).

Gleichwohl wurden auch diese ExilspanierInnen überwacht und kontrolliert, von der KP Spaniens, der SED und je nachdem wurde auch noch das Ministerium für Staatssicher­heit eingeschaltet. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Mitglieder des Dresdner Kollektivs auch «von ihren eigenen Leuten streng überwacht» wurden (Uhl 2004, S. 243). In Dresden bestand das größte Kollektiv kommunistischer Exilspanier. Daneben gab es aber auch ein kleineres Kollektiv in Ber­lin (Chmielorz 2016). 1960 wurde ein drittes Kollektiv in Leipzig gegründet (Denoyer und Fa­raldo 2011, S. 194), das hier weniger interessiert, weil es dort nicht mehr um Bürgerkriegsflüchtlin­ge geht, sondern vor allem um Studenten, «die in Spanien aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen hatten» (Kreienbrink 2005, S. 324).

Bis 1968 kann von einer engen Zusammenarbeit von PCE und SED gesprochen werden. Nach dem Prager Frühling und dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei verschlech­tern sich die Beziehungen zwischen der inzwischen eurokommunistischen PCE und der moskau­treuen SED (vgl. dazu Denoyer und Faraldo 2011, S. 190-197). Dieser Konflikt führte innerhalb der PCE zu Spannungen, Parteiausschlüssen und Neugründungen. Er spaltete auch die Kollektive der Exilspanier in Dresden und Berlin, wobei die meisten Mitglieder weiterhin die prosowjetische Li­nie vertraten und die offizielle Parteilinie Santiago Carrillos verurteilen. Diese Auseinandersetzung erschwerte das Zusammenleben in den Kollektiven (Denoyer und Faraldo 2011, S. 194 f.). Die eine Seite redete nicht mehr mit der anderen und man ging sich aus dem Weg (Drescher 2008, S. 63-68 und für das Berliner Kollektiv Chmielorz 2016). Das MfS kontrollierte und beobachtete die Mitglieder der Kollektive auch mit Hilfe spanischer Informeller Mitarbeiter (Denoyer und Faral­do 2011, S. 96). «Die endgültige Distanzierung zwischen der SED und der PCE erfolgte im Jahr 1973, als die Regierung der DDR mit dem franquistischen Spanien diplomatische Beziehungen auf­nahm» (Denoyer und Faraldo 2011, S. 197).

5. Geschichte im Roman und Geschichtswissenschaft

5.1 Was wir üben den Vater erfahren

Besonders viel weiß Katia nicht über ihren Vater: «Papá erzählte uns nichts, weil auch niemand fragte» (S. 105). Ein paar Eckdaten zur Familiengeschichte liefert die Mutter anlässlich des 18. Ge­burtstags ihrer Tochter (im Buch S. 102-105). 1936 ging der Vater im Spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger in die Berge, um für die Zweite Spanische Republik und gegen die Aufständischen zu kämpfen. Im Sommer 1937 taucht er für drei Tage wieder im Dorf auf; es wird geheiratet. «In unserer Familiengeschichte folgt dann, dass mein Vater 1938 Spanien verließ und nach Moskau ging». Dort wurde er «ein kleiner Provinzkommissar» (was immer das sein mag, KB). 1946 verlässt er die UdSSR und zieht in die SBZ nach Dresden und beginnt dort Deutsch zu lernen. Katias Mutter folgt 1946, das franquistische Spanien unter abenteuerlichen Bedingungen hinter sich lassend, ihrem Mann ins Exil. Die Eltern fanden «in Dresden zusammen, in einer kleinen Gemeinschaft von Spaniern». Sie bekommen Woh­nung und Arbeit durch die Partei. Katias Mutter wollte dann, dass «Papá von der Partei abrückte» und so zog das Paar nach Berlin. Dort kommt Katia 1950 zur Welt und drei Jahre später ihre Schwester Martina. In dem Hinweis auf die «Familiengeschichte» schwingt durchaus die Möglichkeit mit, dass nicht alles stimmen muss, was von Katias Mutter tra­diert wird.

Aus der Literatur zum Exil spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der Sowjetunion ist bekannt, dass am Ende des Bürgerkriegs März/April 1939 (nicht 1938) etwa 1.000 meist der PCE zugehörige oder nahestehende Spanier in der Sowjetunion aufgenommen wurden. Das Gros dieser Flüchtlinge konn­te erst nach dem Tod Stalins die UdSSR verlassen. In einem schmalen Zeitfenster um das Jahr 1946 wurde allerdings einigen Spaniern erlaubt, nach Frankreich oder Lateinamerika zu gehen (Alted 2002, S. 131, 138 f., 143 und Lister 2005, S. 301). Hinweise, dass sich irgendeiner aus diesem Per­sonenkreis in die SBZ begeben hätte, finden sich nicht.

Mit Blick auf die Literatur mutet es sehr unwahrscheinlich an, dass ein Mitglied der KP Spaniens, das acht Jahre in der UdSSR verbracht hat und kein Deutsch sprach, sich 1946, also noch vor der Gründung der DDR, entscheidet nach Dresden zu gehen. Das Exil-Kollektiv der spanischen Kom­munisten in Dresden, auf das angespielt wird, gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht; es entstand erst als Folge der Operation Bolero-Paprika in den Jahren 1950/51. Auch die Entscheidung, einem Wunsch der Ehefrau folgend, von Dresden nach Berlin überzusiedeln, weil sie die Nähe ihres Gat­ten zur Partei nicht schätzte, unterstellt einen Grad an Entscheidungsfreiheit der einzelnen Person, der eher unwahrscheinlich ist. Ein einfacher Wechsel des Wohnsitzes ohne das Plazet von SED und PCE ist schwer vorstellbar. Es wird im Roman auch keine Verbindung zwischen dem Um­zug von Dresden nach Berlin und dem kleinen Kollektiv spanischer Kommunisten, das es in Berlin ab 1950/51 gab, hergestellt.

Moreno Durán hat demnach eine höchst untypische, wenn nicht sogar unmögliche, Biografie des Vaters konstruiert. Informationen über Exilspanier, die schon vor der Gründung der DDR auf deut­schem Boden lebten und derer, die 1950/51 mit der Operation Bolero nach Dresden kamen, werden vermischt. Dabei wäre es ein Leichtes für die Autorin gewesen, den Vater mit einer historisch be­trachtet realistischeren Biografie auszustatten, z.B. als Bürgerkriegsflüchtling, der nach einem ers­ten Exil in der UdSSR (1939-1946) im Jahr 1946 nach Frankreich gekommen wäre, um dann als Folge der Operation Bolero 1950 in die DDR abgeschoben zu werden – mit dem Nachzug der Ehe­frau im folgenden Jahr.

5.2 Der Auftritt von José Quevedo als Dozent De Vega im Roman

Eine besondere Beachtung, um den Umgang der Autorin mit der Geschichte zu verstehen, verdient die Person des Spanisch-Lektors De Vega an der Humboldt Universität Berlin (Kapitel 10, S. 72-75), über den zu erfahren ist, dass er auf Seiten der spanischen Republik stand, aus Franco-Spanien flüchtete und eine Buchhandlung in Berlin aufmachte ‒ und zwar schon zur Zeit des Nationalsozia­lismus ‒, und in dieser Buchhandlung ein Bild von Franco aufgehängt hatte, um die Nazis zu täu­schen. Bald nach der Begegnung (im Jahr 1971) mit Katia und ihrem Vater, von dem der Leser spä­ter erfährt, dass er andere Exilspanier observierte, lehrt De Vega nicht mehr an der Universität.

In der Person dieses Dozenten steckt viel von jenem José Quevedo, den die Historiker kennen (vgl. z.B. Uhl 2004, S. 236f., Drescher 2008, S. 37) und über dessen Leben seine Tochter Núria Quevedo schon 2004 ausführlich und faszinierend im Gespräch mit Mercedes Álavrez berichtet hat (Álvarez und Quevedo 2004). José Quevedo ist als Leiter der 1947 gegründeten Vereinigung republikanischer und kommunistischer Emigranten ERE (s.o) bekannt. Er war in Spanien Mitglied der PCE und ein loyal zur Republik stehender Be­rufssoldat der Luftwaffe. 1939 musste er aus Spanien fliehen, durchlief verschiedene französische Internierungslager und arbeitete dann von 1941 bis 1945 in Berlin in der deutschen Rüstungsindus­trie (wie viele aus Frankreich deportierte bzw. über die Organisation Todt angeworbene Bürger­kriegsflüchtlinge). In seiner Bleibe in Berlin hatte er über seinem Bett ein Foto Francos angebracht. Nach dem II. Weltkrieg, genauer 1952, holte er seine Frau und die Tochter Núria aus Spanien nach. Da hatte er schon die «Internationale Buchhandlung Quevedo» aufgemacht. An der Humboldt Uni­versität unterrichtete er auf Vermittlung des großen Romanisten Werner Krauss (dem Hans Ulrich Gumbrecht 2002 ein sehr einfühlsames und berührendes Denkmal gesetzt hat). Bis 1954 unterrich­tete Quevedo an der HU. Dann wurde aber ein neuer Spanischlehrer aus Dresden angefordert und nach Drescher ist «durchaus an einen erzwungenen Rückzug Quevedos zu denken» (Drescher 2008, S. 115). In einem Feature des Deutschlandfunks über das Ostberliner Kollektiv der Exilspanier (Chmielorz 2016) wird übrigens die Anforderung eines neuen Spanisch-Dozenten 1954 bestätigt.

Die Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur und den Erinnerungen Núria Quevedos an ihren Vater, sind frappierend: Vom Dozenten De Vega heißt es im Roman, er «prahlte damit, dass er vom größ­ten spanischen Dichter aller Zeiten abstamme, Lope de Vega» (S.73). Núria Quevedo über ihren Va­ter: «Mein Vater hat immer davon geträumt, Nachkomme des Don Francisco zu sein» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 33). Angespielt wird hier auf die spanischen Barockdichter Félix Lope de Vega und Francisco de Quevedo.

Konfrontiert mit der Empörung des linientreuen Kommunisten wegen seines eigenwilligen Lebens­wegs, antwortet De Vega «Wollen Sie mir etwas über das Leben erzählen? Überleben nenne ich es» (S. 74). Núria Quevedo konfrontiert damit, dass ihr Vater für die Nazis arbeitete, antwortet «Um das Leben zu retten, versuchte man alles, klar» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 25).

Unter dem Aspekt der geschichtlichen Plausibilität ist die Geschichte des Herrn de Vega höchst un­wahrscheinlich. Wie sollte ein republikanischer Bürgerkriegsflüchtling, den es nach Nazi-Deutsch­land verschlagen hatte, in Kriegszeiten in Berlin eine Buchhandlung aufmachen können, und diese danach bis mindestens in die siebziger Jahre in der DDR weiterführen? Die typische Verwendung spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Nazi-Deutschland war ihr Einsatz als Vertrags- oder Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie.

Es gibt ein verborgenes intertextuelles Spiel zwischen dem Roman und den Erinnerungen von Núria Quevedo und Mercedes Álvarez. In die Figur des Dozenten De Vega sind, wie gezeigt, sicht­bar Informationen über José Quevedo eingeflossen. Auch in der Ausstaffierung der Mitglieder der Kleinfamilie von Vater, Mutter, Katia und Schwester Martina finden sich zahlreiche Versatzstücke aus den Erinnerungen der beiden wirklichen Töchter von Kommunisten. In Abwandlung des bekannten Satzes «Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig» sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen bei Moreno Durán also keines­wegs zufällig. Nur sind die Lebensläufe, die sie aus dem vorhandenen Material unterschiedlicher Flüchtlingsschicksale konstruiert hat, in einigen Punkten nicht belastbar. Die meisten Leserinnen und Lesern dürften sich an den kleinen histori­schen Ungereimtheiten nicht stören.

5.3 Katias mangelndes politisches Interesse

Zeitgeschichte wird im Roman weitgehend dadurch ausgeklammert, dass die Protagonistin als un­politisch gezeichnet wird. Das wird besonders deutlich daran, dass der Konflikt zwischen den mos­kautreuen Kommunisten und der KP Spaniens unter der Führung Santiago Carrillos, die einen euro­kommunistischen Kurs verfolgte, und der die Exilspanier in der DDR seit dem Ende der 60iger Jahre in zwei Lager spaltete, in Dresden wie in Berlin, nirgends aufscheint (s.o.). Selbst der Ein­marsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968, der von der PCE verurteilt und von der SED mitgetragen wurde, und der den bestehenden Konflikt unter den Exilanten noch verschärfte, findet keinen Eingang in den Roman, obwohl die Protagonistin zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt ist, mit anderen Jugendli­chen zusammen kommt und in Berlin studiert. Was sie 1971 beschäftigt, sind die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, an deren Vorbereitung sie mitmacht. Dass diese nicht 1971 wie im Roman angegeben, sondern erst 1973 stattfanden, ist für den Gang der Erzählung nicht entscheidend.

Dem Konflikt zwischen SED und PCE um das Jahr 1973, als die DDR das Francoregime diploma­tisch anerkannte, wird keine Beachtung geschenkt. Auch die Demonstrationen in der Bundesrepublik gegen das Regime in Spanien in seiner brutalen Endphase, werden nicht wahrgenommen. Depressiv und zurückgezogen in der schwäbischen Provinz, wird die Bun­desrepublik der 70er und 80er Jahre von der Protagonistin in den Klischee der 50iger-Jahre er­lebt: Hausbau, Auto, Kinder, bis zum Umfallen arbeitender Ehemann, der vor dem Fernseher abends seine Biere trinkt, die Frau ans Haus gefesselt. Die Wahrnehmung der politischen Veränderungen und der Wirklichkeit sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wirkt merkwürdig beschränkt und getrübt.

5.4 Katias Identitätsproblem

Das Thema der schwierigen Identitätsfindung der Kinder der spanischen Kommunisten in der DDR wurde in der Literatur untersucht (Denoyer 2011, 2017): Min­destens zwei Identitätsquellen spielten üblicherweise eine Rolle: die eine, welche die Eltern an ihre Kinder weiter­gaben, und die andere die das Aufnahmeland anbot (Denoyer 2011, S. 106). Häufig war es aber auch noch ein Drittland, Frankreich oder Russland z.B., das eine Rolle spielte. Gerade die komplexen Biografien von Mercedes Álvarez und Núria Quevedo zeigen eindrucksvoll, dass die Exilerfahrung der Töchter von Kommunisten auch neuartige, komplexe, gelingende Identitäten hervorbringen kann.

Interessant in der Studie von Denoyer ist zudem der Befund der starken Bedeutung der DDR und die Bindung daran: «Nicht zuletzt haben die Kinder der Exilanten eine besondere, weil dauerhafte Beziehung zur DDR entwickelt. Auch wenn sie die Schwächen des ostdeutschen Re­gimes durchaus erkennen und den dort herrschenden Mangel an Freiheit verurteilen, verteidigen sie bis heute das untergegangene Land […]» (Denoyer 2011, S. 108). Denoyer schreibt weiter: «Für die zweite Generation der Spanier in der DDR geriet das politische Exil [da­her] zu einer strukturierenden biografischen Erfahrung, in der dem National- und Identitätsgefühl sowie den Beziehungen mit der Ursprungs- und der Aufnahmegesellschaft ein besonderes Gewicht zukam» (Denoyer 2011, S. 109).

Ähnliches lässt sich auch für die Hauptfigur des Romans behaupten. Bezogen auf ihre Kindheit und Jugend in der DDR kann von einer «strukturierenden biografischen Erfahrung» gesprochen werden. In späteren Jahren ist ihr Bezugspunkt indes ein anderer: Es sind die enttäuschenden Erfahrungen in der Bundesrepublik, die zu einer wachsenden Ab­lehnung der Lebensverhältnisse dort und zu einer nostalgischen Aufwertung der DDR führen.

Es bleibt zu fragen, welche Rolle Spanien als über die Eltern vermittelte «Ursprungsgesellschaft» für die Identitätsbildung der Hauptfigur spielt. Dass Katia aus einer spanischen Migrantenfamilie in der DDR stammt, spielt für ihr Unglück und Leid im Roman vordergründig kaum eine Rolle. Es zieht sie nicht nach Spanien und sie versucht auch nicht, Kontakt mit ihren Verwandten in Spanien herzustellen. 1989 betritt sie erstmals in ihrem Leben spanischen Boden. Eine von ihrem Ehemann, Johannes, ohne ihr Wissen geplante und durchgesetzte Reise nach Spanien, wird zum Fiasko. Der erzwungene Besuch des Heimatorts ihrer Eltern, Dos Aguas, wird abrupt abgebrochen. Spanien ist für sie keine mögliche Heimat und erst recht kein Sehnsuchtsort. Mit ihrer Lebensgeschichte und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern scheint sie im heutigen Spanien nichts verloren zu haben. Für dieses Gefühl dürften hauptsächlich ihre von Scham und Schuldgefühlen geprägten Identitätsprobleme verantwortlich sein. Dass Spanien sich nach Franco als Monarchie konstituierte und die politische Aufarbeitung des Unrechts, das an den Republikanern verübt wurde, zu der Zeit (1989) praktisch nicht stattfand, dürfte dagegen weniger relevant für Katias Nicht-Zugehörigkeitsgefühl sein.

Katia stellt nicht nur einen untypi­schen, sondern einen höchst unwahrscheinlichen Fall einer Exilspanierin der zweiten Generation dar. Ihr Identitätskonflikt ist vorwiegend innerdeutsch: BRD = Fremde vs. DDR = Heimat. Sie ist so wenig politisch bewußt, dass sie nicht ein­mal die Errungenschaften der DDR bezüglich einer fortschrittlichen Frauenrolle verteidigt. Auch die kommunis­tischen Werte ihres Vaters führen sie nicht dazu, sich politisch zu orientieren oder gar zu organisie­ren. Was bleibt, ist eine unreife junge Frau, die wegen einer emotionalen Beziehung von der DDR in die BRD übersiedelt, von der Beziehung wie vom Leben im Westen enttäuscht wird, dort fremd bleibt, depressiv wird und sich nach der alten Heimat sehnt.

Es ist dem Rezensenten nicht bekannt, dass je eine Tochter eines der wenigen spanischen Kommunisten im DDR-Exil in die BRD ging, und dass je ein linientreuer spanischer Kommunist zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde (und schließlich sogar im Gefängnis umkam), weil seine volljährige Tochter in die Bundesrepublik geflohen war. Hätte es solch eine Geschichte wirklich gegeben, wäre sie den Exilspaniern kaum verborgen geblieben und mithin bekannt.

6. Schlussbetrachtung

Es bleibt festzuhalten, dass Moreno Durán mit ihrem Roman auf ein spannendes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte aufmerksam macht: das Leben spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge und deren Kinder in der DDR. Das sprachliche Vermögen der Autorin, mit weni­gen Worten, kurzen prägnanten Sätzen, poetischen Verdichtungen, originellen Vergleichen, Gegenschnitten, Andeutungen und Leerstellen, der Leserschaft Situationen, Stimmungen und Befindlichkeiten nahezubringen, ist ihre Stärke. Darum lassen sich viele zunächst gerne auf den Roman ein und verfolgen, wie sich die Hauptperson anekdotenreich, farbig und in ihrem eigenwilligen Schreibstil an ihre Jahre in der DDR von 1956 bis 1971 erinnert. Der Teil, der in der Bundesrepublik spielt, fällt dann deutlich ab.

Die Zeit von 1971 bis 1991, die in der BRD spielt, ist eine bleierne Zeit. Nur unter der Annahme ei­ner sich steigernden Depression der Hauptperson, einer gelähmten Handlungsfähigkeit und einer Weltwahrnehmung der Wirklichkeit durch den Schleier des psychischen Leids, will dem Rezensenten dieser Teil als glaubhaft vorkommen. Die Depression zusammen mit dem Desinteresse der Hauptperson an politischen Entwicklungen hüben und drüben und die geringe Bedeutung, die Spanien für ihre Identität spielt, reduzieren diesen Teil auf eine künstliche Konstruktion von Ost-Hei­mat – West-Fremde. Raffiniert daran ist in gewisser Weise, dass die Hauptperson das Schicksal ihrer Mutter wie­derholt, die die DDR als Fremde erlebte, sich nicht integrierte und nicht integrieren wollte. Katia wäre demnach viel mehr die Tochter ihrer unglücklichen Mutter als die ihres kommunistischen Vaters. Die Parallele geht soweit, dass sich die fatale Entscheidung der in Spanien lebenden Mutter, ihrem Mann in die DDR zu folgen, in der fatalen Entscheidung ihrer Tochter, ihrem späteren Mann Johannes in die BRD zu folgen, wiederholt. Fremde und Leid bei Mutter und Tochter hüben wie drüben. Der einen erfriert das Herz in der DDR, der anderen in der BRD.

Die Betrachtung des Verhältnisses von Fakten und Ausgedachtem in der Erzählung hat ergeben, dass die Autorin es nicht darauf anlegt, entgegen der Erwartung des Rezensenten, ihre Romankonstruktion mit den bekannten historischen Fakten und der Lebenswirklichkeit der Exilspanier der ersten und zweiten Generation bestmöglich in Deckung zu bringen und dadurch das Verständnis für deren Lebensläufe und Schicksale zu vertiefen. Im Gegenteil, es wird einiges getan, um die Wirklichkeit auf Abstand zu halten. Die gewählte DDR-BRD-Konstellation ist zunächst (bis zum Beweis des Gegenteils) eine Kopfgeburt, reine Fiktion. Das wichtigste Mittel, die Wirklichkeit außen vor zu lassen, findet sich dabei in der psychologischen Ausstattung der Hauptperson nach ihrer Übersiedlung in die BRD, die geradezu darauf ausgerichtet scheint, die Wirklichkeit nicht klar zu sehen: wegen ihrer Unreife, ihrem Desinteresse am politischen Geschehen, ihrer Initiativlosigkeit und vor allem wegen ihrer Depression.

Viel mehr als in dem Roman erfährt man in dem Gespräch zwischen Mercedes Álavrez und Núria Quevedo (2004) über die Töchter von spanischen Kommunisten in der DDR. Das Buch, das daraus entstanden ist, würde der Rezensent gerne ins Spanische übersetzt sehen. Zu begrüßen wäre außerdem eine fundierte historische Arbeit zu den republikanischen Flüchtlingen, die sich 1945, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bereits in Deutschland befanden und später in der DDR lebten. Das abenteuerliche Leben des José Quevedo verdiente dabei eine eigene Darstellung.

7. Literatur

  • Alted Vigil, Alicia: Los exilios en la España contemporánea. In: Ayer (Asociación de Historia Contemporánea), 2002, No. 47, S. 129-154
  • Álvarez, Mercedes und Quevedo, Núria: Ilejanía – Unferne: die Nähe des Vergessenen. Ein Gespräch. BasisDruck: Berlin 2004
  • Alvite, Maite im Interview mit Aroa Moreno Durán. Diario de Ibiza vom 13. März 2019
  • Chmielorz, Rilo: Operation Bolero. Das spanische Kollektiv in Ost-Berlin. Manuskript zur Sendung im Deutschlandfunk vom 10.5.2016 (19:15-20:00)
  • Denoyer, Aurélie: Les réfugiés politiques espagnols en RDA. In: Trajectoires 3 | 2009
  • Denoyer, Aurélie: Integration und Identität. Die spanischen politischen Flüchtlinge in der DDR. In: Kim Christian Priemel (Hg.): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in die DDR 1945 – 1990. Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung: Dresden 2011, S. 98-112
  • Denoyer, Aurélie: Exil als Heimat. Die spanischen kommunistischen Flüchtlinge in der DDR. Individuelle Lebensläufe, Kollektivgeschichte. Dissertationsprojekt. In: The International Newsletter of Communist Studies XVIII, (2012), no. 25 . S. 40-43
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Trajectoires individuelles, histoire collective. In: Trajectoires 6 | 2012 
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Presses universitaires de Rennes: Rennes 2017; online verfügbar; diese Publikation beruht auf der Dissertation von 2012
  • Denoyer, Aurélie und Faraldo, José M.: »Es war sehr schwer nach 1968 als Eurokommunistin«. Emigration, Opposition und die Beziehungen zwischen der Partido Comunista de España und der SED. In: Arnd Bauerkämper und Francesco Di Palma (Hg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968–1989). Ch. Links Verlag: Berlin 2011, S. 186-202
  • Drescher, Johanna: Asyl in der DDR. Spanisch-kommunistische Emigration in Dresden (1950-1975). vdm-Verlag: Saarbrücken 2008
  • Eiroa, Matilde: Españoles tras el Telón de Acero: El exilio republicano y comunista en la Europa socialista. Marcial Pons Ediciones de Historia: Madrid 2018
  • Gumbrecht, Hans Ulrich: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Hanser Verlag: München 2002
  • Heine, Hartmut: El exilio republicano en Alemania Oriental (República Democrática Alemana-RDA). In: Migraciones y Exilios, 2-2001, S. 111-121
  • Kreienbrink, Alexander: Der Umgang mit Flüchtlingen in der DDR am Beispiel der spanischen ‚politischen Emigranten‘. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 317-344
  • Lister, Enrique: Vorgeschichte und Voraussetzungen der Ansiedlung der spanischen kommunistischen Emigranten in Osteuropa. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 289-316
  • Meerwald, Johannes: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Wallstein Verlag: Göttingen 2022
  • Poutrus, Patrice G.: Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 11. Jg. (2004), S. 355-378
  • Strode, Sara im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: El papel amarillo (blog de críticas literarias) vom 23. Juli 2018
  • Uhl, Michael: Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR. Dietz: Bonn 2004.
  • Whittemore, Katie im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: H for History Blog vom 8. Februar 2021

Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. btb Verlag: München 2022, ISBN 978-3-442-75904-0

Jordi Amat: El hijo del chófer | Der Sohn des Chauffeurs

Über Alfons Quintà und ein katalanisches Kapitel der Universalgeschichte der Niedertracht

Rezension von Knud Böhle

1. Ein Buch, das an der Zeit ist

Es ist eher unwahrscheinlich, dass das literarische Sachbuch (no ficción literaria, S. 251), das Jordi Amat im November 2020 veröffentlicht hat, jemals ins Deutsche übersetzt wird. Das ist bedauerlich, weil auch in Deutschland viele, die weder spanische noch katalanische Bücher le­sen können, gerne mehr über Entwicklungen in Katalonien und den politischen Katalanismus (katalanischen Nationalismus) wüssten.

Jordi Amat ist einer der besten Kenner der katalanischen Kultur und der politischen Entwicklun­gen in der Region. Er ist von daher ein idealer Führer durch das national-katalanische Laby­rinth, ein Subsystem des spanischen Labyrinths (vgl. S. 194). Offenkundig war eine spannend geschriebene, faktenreiche Arbeit zu diesem Themenkomplex in aufklärerischer Absicht (vgl. dazu das Nach­wort des Autors S. 249-252) in Spanien an der Zeit. In wenigen Monaten brachte es das Buch in beiden Sprachen (Spanisch und Katalanisch) auf sechs (Stand 4.3.2021) bzw. zehn Auflagen (Stand 13.4.2021). Die Medienreso­nanz war außerordentlich. Die etwa zwanzig Besprechungen, die ich mir angesehen habe, waren positiv, manche sogar überschwänglich. Auf negative Kritiken bin ich noch nicht gestoßen. Ge­lobt wird allenthalben die schriftstellerische Qualität und mindestens ebenso die intelligente Analyse der jüngsten Geschichte Kataloniens (besonders der transición, des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nach Francos Tod). Hervorzuheben ist auch die intensive Recherchear­beit, die das Buch erst ermöglichte. In einer Rezension wird von etwa 70 Interviews gesprochen, die Jordi Amat führte und etwa 600 Dokumenten, die für das Buchprojekt herangezogen wurden (vgl. Carles Geli in: El País vom 11.11.2020). In dem Buch treten weit mehr als 100 namentlich genannte Personen auf.

2. Worum genau geht es in dem Buch?

Der Titel des Buches «Der Sohn des Chauffeurs» sagt zunächst noch nicht viel. In der katalani­schen Ausgabe kommt ein erläuternder Untertitel dazu: «Die geheimen Fäden der Macht: Auf­stieg und Fall des Alfons Quintà». Auf den Spuren eines ebenso ehrgeizigen wie psychopathi­schen katalanischen Journalisten, und sagen wir es gleich, auch Mörders, schlägt Jordi Amat eine Schneise durch die neuere Geschichte des politischen Katalanismus, die auch eine Geschichte der Macht ist: politischer, ökonomischer und nicht zuletzt auch von Medienmacht (die vierte Macht neben Exekutive, Legislative und Judikative). Jordi Amat nimmt seine Leser bei der Hand und führt sie durch das katalani­sche Labyrinth vorbei an Regierungspalästen, Banketagen, Chefredaktionen und Kloaken der Macht. Das ansonsten unentwirrbare Netz aus zahllosen Kommunikationen und Aktionen – solcher die im Licht der Öffentlichkeit stattfinden und solcher, die dieses Licht gerade scheuen – wird in eine kriminalistisch angelegte, detailreiche Erzählung überführt, die an wichtigen Stationen der katalanischen Po­litik in die Tiefe geht. Da es sich um eine Geschichte von Machtverhältnissen handelt, spielen sich viele Ereignisse außerhalb des Rechts, der Wahrheit und der Öffentlichkeit ab, und sind folglich wie bei jedem Kriminalfall zunächst intransparent. Jordi Amat geht investigativ vor, wie ein Detektiv, der aus Zeugenaussagen und Indizienbeweisen eine komplexe Geschichte rekonstruiert.

Alfons Quintà war ein knappes Jahrzehnt lang ein äußerst einflussreicher Journalist und Medi­enmacher in Spanien. Sein Lebensweg, die Biografie einer infamen Person, und die schmutzigen Seiten einer national-katalanischen Episode werden in dem Buch ineinander verwoben. In ge­wisser Weise schlüpft der auktoriale Erzähler Jordi Amat in die Rolle eines Meisterdetektivs vom Typ Hercule Poirot, der nach abgeschlossener Untersuchung dem staunenden Publikum er­läutert, wie die Puzzlestücke zusammenpassen. Überlegungen zur Macht allgemein und zur Me­dienmacht im Besonderen stehen im Zentrum des Erklärungsansatzes. Erstens: Macht lässt sich als die Herstellung erwünschter Wirkungen definieren (S. 24). Da muss es weder legal noch transparent zugehen. Zweitens: Medien sind die vierte Macht und erfüllen als solche eine demo­kratische Funktion. Der Theorie nach sind sie unabhängig, in der Praxis aber nicht (vgl. S. 111). Interesse, Instrumentalisierung und Korruption kommen ins Spiel: Welcher wirtschaftlichen oder politischen Macht nützt die Veröffentlichung einer bestimmten Nachricht? Wer ist daran in­teressiert, dass eine bestimmte Nachricht unterdrückt wird? Wer liefert mit welchem Interesse Informationen an welche Medien? Dazu kommt die generelle Überlegung, dass sich die politi­sche Macht dessen bewusst ist, dass sie Medien benötigt, die ihr Trachten nach politischer und kulturel­ler Hegemonie unterstützen.

3. Die Protagonisten der Geschichte: Alfons Quintà und Jordi Pujol

Es treten auf: Alfons Quintà (1943-2016), der Sohn des Chauffeurs; Jordi Pujol (*1930), der Sohn eines Bankiers; die vierte Macht (Hörfunk, Presse, Fernsehen) mit El País und TV3 in herausgehobe­ner Stellung; die Banca Catalana als Inbegriff der ökonomischen Macht; die politische Macht mit den Regierungen in Madrid und der regionalen Regierung in Katalonien (Generali­tat) als Kraftzentren. Dazu kommen zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten (Hintermänner, Strohmänner, Intellektuelle, graue Eminenzen, Staatsmänner etc.). Der Glutkern der Geschichte ist der Fall Banca Catalana, den Alfons Quintà skandalisieren und den Jordi Pujol unter dem Ra­dar der Öffentlichkeit halten will. Hier soll nicht der gesamte Inhalt des vielschichtigen und vielfädigen Buches wiedergegeben werden, aber einige Worte zu den beiden Protagonisten Quintà und Pujol und zum Fall Banca Catalana sind nötig, um das Machtknäuel anzudeuten, um dessen Entwirrung es Amat geht.

Alfons Quintà kam aus kleinen Verhältnissen, erlebte eine unglückliche Kindheit, in der nicht allein die Schläge des Vaters Verletzungen und Narben hinterließen. Er durchlebte eine turbulente Jugend, erst als Halbstarker und etwas später als Linksradikaler. Seine journalistische Laufbahn beginnt Mitte der 60er Jahre mit Arbeiten für Associated Press, Le Monde und die New York Times. Seinen ersten Zeitungsartikel in Spanien veröffentlichte er 1969.

Das Pfund, mit dem er wuchern konnte, waren seine Kontakte zum konservativen Katalanismus, die über seinen Vater vermittelt waren, der es vom Handlungsreisenden in Sachen Textil zum Chauffeur, Sekretär und Vertrauten des katalanischen Schriftstellers Josep Pla gebracht hatte. Übrigens ist Pla als Schriftsteller in Deutschland kein Unbekannter. Neben einigen Erzählungen wurden die bekannten Bücher Enge Straße (Ammann Verlag), Das graue Heft (Suhrkamp Verlag) sowie die Künstlerbiografien über Dalí und Gaudí (Berenberg Verlag) übersetzt.

Josep Pla war das Zentrum einer Art politischer Tafelrunde einflussreicher Leute, die an der Stär­kung der Position Kataloniens in Spanien interessiert waren. Amat spricht in Anspielung auf die Tafelrunde des Königs Artus vom «Camelot de Pla». Was da verhandelt und unternommen wur­de, bekommt auch Alfons Quintà mit, und vor allem nützt ihm dieses Elite-Netzwerk bei seiner Karriere. In der eindrücklichen Beschreibung dieser Tafelrunde, findet sich auch eine für die Machtanalyse Amats wichtige Einsicht, die aus dem Kreis selbst kommt: Diktaturen korrumpieren alles, insbesondere lange andauernde Diktaturen. Man kann sie nur von innen bekämpfen, und das wiederum verlangt ein doppeltes Spiel, oder mit einem anderen Ausdruck: es gab viel Antifranquismus im Franquismus (vgl. S. 29f).

Quintà machte sich einen Namen bei Radio Barcelona als Direktor des ersten Nachrichtenpro­gramms auf Katalanisch (Dietari), das ab 1974 gesendet wurde. Es gelang ihm dann der Karriere­sprung zum Katalonien-Korrespondenten der Tageszeitung El País (1976). 1981 endete seine Karriere bei El País unfreiwillig (aber mit einer hohen Abfindung). Seine nächste prestigeträchtige Aufgabe war der Aufbau des ersten öffentlich-recht­lichen Fernsehsenders Kataloniens, TV3, ab Juni 1981. Dort verlor er seinen Posten als Direk­tor im Juni 1984. Wiederum erhält er eine hohe Abfindung. Nach seiner Entlassung zog er sich einige Jahre zurück, wurde dann wieder als Journalist und Medienmacher tätig, aber die Erfolge früherer Zeiten blieben aus.

Schlagzeilen machte er erst wieder, nachdem er sich mit derselben Schusswaffe das Le­ben nahm, mit der er zuvor seine Frau umgebracht hatte. Seine Frau lebte zu dem Zeit­punkt nicht mehr mit ihm zusammen, kümmerte sich aber um ihn nach einer Herzoperation. Diese scheußliche Tat bildete den Schlusspunkt eines wenig erbaulichen Lebenswegs. Quintà wird als gewalttätig, übergriffig, frauenfeindlich, aggressiv, sexistisch, ty­rannisch, gefräßig, maßlos, nachtragend, erpresserisch, rachsüchtig und autoritär beschrieben. Es sind diese Eigenschaften, so lesen wir, die seine Beziehungen zu Frauen ebenso wie seine Karriere immer wieder zerstört haben. Jordi Amat spart nicht mit oft geradezu absurden und grotesken Beispielen aus Quintàs Privat- und Berufsleben. Selbst nach seinem Tod hat anscheinend niemand ein gutes Wort für ihn übrig gehabt. Wir müssen uns Quintà nicht als ei­nen glücklichen Menschen vorstellen.

Jordi Pujol ist als öffentliche Person freilich viel be­kannter als Quintà. Er kam aus der katholisch-katalanischen Opposition gegen Franco. 1974 gründete er die bürgerlich-katalanistische Partei Convergència Democràtica de Catalunya. 1980 wurde er zum Präsidenten der Generalitat (Regierungschef Kataloniens) gewählt und löste damit seinen Vorgänger im Amt, Josep Tarradellas, ab, der für einen moderaten und konzilianten Katala­nismus stand. Pujol war dann ohne Unterbrechung bis 2003 Regierungschef. Er prägte eine ganze Ära, bekannt als pujolismo, in der das katalanische «nation building» (hacer país) als das alles überwölbende Vorhaben gelten kann. Ab 1984 bekam der pujolismo einen stark popu­listischen Zug: der Zentralstaat wurde zum Gegner erklärt, Politik wurde moralisiert und emotiona­lisiert, und viele Katalanen wurden mobilisiert (S. 173). Jordi Pujol begegnet uns außer­dem als ein wenig erfolgreicher Medienunternehmer, der erst mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TV3 (von Alfons Quintà aufgebaut) das bekam, was er als mediale Unterstüt­zung seiner politischen Macht anstrebte. Von 1980 bis 1986 musste er sich auch darum kümmern, dass der Fall Banca Catalana seine politischen Ambitionen nicht zerstörte. In der Banca Catala­na steckte das Vermögen des Vaters, das dieser während der Franco-Diktatur, teilweise durch il­legale Geschäfte, erworben hatte. Er selbst war in leitender Funktion in der Bank tätig.

4. Der Fall Banca Catalana als Lehrstück

Die Banca Catalana geriet Ende 1979 in finanzielle Schwierigkeiten, was damals nur wenige wussten. Alfons Quintà und ein Kollege berichteten darüber in El País am 29. April 1980 in ei­nem ersten Artikel einer als Dreiteiler angelegten kleinen Serie. «Ökonomische Schwierigkeiten der Bankengruppe von Jordi Pujol» lautete der Titel des ersten Teils, der in dem Buch in Gänze wiedergegeben wird (S. 100-105). Der gut recherchierte und informierte Text hatte das Potenzial, dem Ruf der Bank, ihren Aktionären und Einlegern sowie dem Ansehen des Politikers Pujol, der gerade die erste Regionalwahl in Katalonien gewonnen hatte, zu schaden. Ein fundierter Artikel dieser Art konnte nicht ohne geheime Informationen von Gegnern Pujols geschrieben, und nicht ohne die Zustimmung des damaligen Chefredakteurs von El País, Luis Cebrián, veröffent­licht werden. Die Banca Catalana intervenierte bei Cebrián, zuerst vermittelt über die spanische Zentralbank und später in einem direkten Gespräch mit den Herausgebern der Tageszeitung. Ce­brián sagte zu, einstweilen keine weiteren Folgen des geplanten Dreiteilers zu publizieren. Die geplanten Artikel erschienen auch nicht, aber die kritische Berichterstattung über die Banca Catalana wurde in kleineren Portionen noch bis Ende 1981 fortgesetzt. Erst als die Pläne von El País ge­reift waren, eine katalanische Ausgabe der Zeitung herauszugeben, musste Quintà seine Attacken einstellen. Seine Ambition, Chef der katalanischen Ausgabe von El País zu werden, wurde frustriert. Dies machte sich Jordi Pujol zu Nutze, der nun dem bis dato entschiedenen Anti-Pujolisten Quintà anbot, Direktor des ersten öffentlich-rechtlichen katalanischen Fern­sehsenders zu werden. Der nahm an, baute den Sender auf, und gleichzeitig verstummte mit dem Wechsel ins Lager der Pujolisten seine Kritik an der Banca Catalana.

Die Kritik an der Banca Catalana flammte aber 1984 an anderer Stelle wieder auf, als sich der spanische Generalstaatsanwalt mit dem Fall zu befassen begann. Die konkrete Untersuchung der Vorwürfe gegen die Banca Catalana wurde vorschriftsmäßig von zwei zuständigen Staatsanwäl­ten in Barcelona durchgeführt. Diese kamen zu der Auffassung, dass ein Strafverfahren gegen die Banca Catalana zu eröffnen sei, bei dem es unter anderem auch um die persönliche Bereiche­rung einiger Insider, darunter Jordi Pujol, zu gehen habe, die – während die Bank auf die Insol­venz zusteuerte – auf Kosten der Einleger und Steuerzahler, noch Vermögen für sich privat bei­seite geschafft hätten. El País erhielt entsprechende Informationen und berichtete unverzüglich darüber.

Und nun passierte etwas höchst Unwahrscheinliches: Jordi Pujol, der bei den Wahlen in Katalonien vom 29.4.1984 die absolute Mehrheit erlangt hatte, ging zum Gegenangriff über und drehte den Spieß um. Derjenige, der auf die Anklagebank sollte, klagte an und stellte sich und Katalonien als Opfer einer Kampagne des Zentralstaats, der sozialistischen Regierung und der die Regierung stützenden Medien dar. Das gipfelte am 30. Mai 1984 in einer Rede (selbstverständlich in Katalanisch) auf einer gut vorberei­teten Massenkundgebung anlässlich seiner Einsetzung als Präsident: «Ich möchte etwas klarstel­len: Die Madrider Regierung, genauer gesagt die Zentralregierung, hat ein unwürdiges Spiel getrieben, und von nun an, wenn jemand über Ethik und faires Spiel spricht, werden wir es sein» (vgl. S. 177). Diese Rede kann als Wendepunkt zum populistischen Katalanismus angesehen werden, der mit dem Opfer-Narrativ, einfachen Feindbildern und emotionalisierter Politik ein­hergeht (vgl. S. 173).

Es gab auch danach durchaus noch Journalisten, die sich für den Fall der Banca Catalana inter­essierten. Diese wurden, wie in dem Buch an einem Beispiel verdeutlicht wird, in ihrer Arbeit behindert. Die Ergebnisse ihrer Recherchen erschienen erst nach erheblicher Verzögerung im Sommer 1985. Zudem war der veröffentlichte Text ohne Wissen der Autoren um entscheidende Passagen gekürzt worden. Die politi­sche Großwetterlage hatte sich verändert. In Madrid regierten die Sozialisten mit absoluter Mehr­heit. Felipe González war Ministerpräsident: felipismo in Madrid, pujolismo in Barcelona. Der Chefredakteur von El País liess im Oktober 1985 seine Mitarbeiter in Katalonien wissen, dass das Thema Banca Catalana nicht weiter verfolgt werden müsse. Die Staatsanwälte aus Barcelo­na, die noch mit dem Fall betraut waren, gerieten unter Druck. Im September 1986 trafen sich González und Pujol persönlich. Die Sache sollte beigelegt werden, um die Stabilität der neuen staatlichen Ordnung nicht zu gefährden – auf Kosten der Informations- und Pressefreiheit sowie der Rechtsstaatlichkeit. Eine Woche nach dem Gespräch trat der Generalstaatsanwalt zurück, möglicherweise um seiner Entlassung zuvor zu kommen (S. 191). Und im November 1986 beschloss die Mehrheit der in Barcelona zuständigen Richter (der Audien­cia Territorial de Barcelona), das Verfahren gegen Banca Catalana erst gar nicht zu eröffnen. Wir erinnern uns an die Ausgangsthese Amats, Macht als das Erreichen erwünschter Wirkungen zu verstehen. Quod erat demonstrandum.

4. Einsichten, Hypothesen, Schlussgedanken

Als wichtigste Einsichten über den politischen Katalanismus nehme ich aus dem Buch mit, dass er lange Zeit weder links noch separatistisch, sondern vorwiegend bürgerlich, liberal und kon­servativ war. In der Ära Pujol, die in der transición beginnt und im pujolismo ihre Fortsetzung findet, wurde der katalanische Nationalismus im Sinne eines «nation building» (hacer país), un­terstützt von Medien wie TV3, massiv vorangetrieben. Eine Alternative zu Pujol im postfranquistischen Katalonien hätte Josep Tarradellas, der Präsident der Generalitat im Exil (1954-1977) und von 1977 bis 1979 Präsident der Generalitat, sein können. Dieser Option fehlte es indes an der nötigen parteipolitischen Unterstützung. Bereits nach wenigen Jahren der Präsi­dentschaft Pujols gab es im Zusammenhang mit dem Fall der Banca Catalana einen populisti­schen Schub im katalanischen Nationalismus, der für das Verständnis der heutigen politischen Situation in Katalonien wichtig ist.

Das Buch legt auch nahe, mehr auf die Gesamtkonstellation Spanien-Katalonien zu schauen. Zum Beispiel wurde das Start­kapital der Banca Catalana im korrupten Franquismus erworben, und die Bank war Teil des spanischen Finanzsystems und wurde deshalb von der Zentralbank gestützt, als sie in finan­zielle Schwierigkeiten geriet. Ein anderes Beispiel: die franquistische Regierung konnte Ende der 50er Jahre bei der Entwicklung des für das Überleben des Regimes so wichtigen Sta­bilisierungsplans katalanische Experten wie Joan Sardà (Mitarbeiter von Tarradellas auf republikanischer Seite während des Bürgerkriegs) und Fabián Estapè einbinden. Beide gehörten zur Tafelrunde Josep Plas. Und wir erfahren auch, dass dieser katalanische Schriftsteller eine Zeit lang für einen der franquistischen Ge­heimdienste tätig war (öffentlich gemacht von Alfons Quintà).

Es gab viel Franquismus im Anti­franquismus oder auch umgekehrt viel Antifranquismus im Franquismus. Da Franco nicht ange­treten war, die Interessen der reichen und wohlhabenden Klassen zu beschneiden, gab es Raum für solche Ambivalenz. Eine genaue Untersuchung der reichen und einflussreichen Familien Kataloniens und Spani­ens generell, würde vermutlich einiges zum Verständnis der Funktionsweise der Diktatur und zur politischen Kultur in der Zeit danach beitra­gen können. Für die Verlierer im Bürgerkrieg gab es bekanntermassen keine vergleichbaren Möglichkeiten sich zu arrangieren: viele wurden noch nach dem Ende des Bürgerkriegs, wenn nicht gar getötet, verfolgt, verhaftet, gefoltert, zu Zwangsarbeit gezwungen, sozial ausgegrenzt und benachteiligt.

Das Buch legt auch den Gedanken nahe, dass gerade eine lang andauernde Diktatur dieser Art, die Kor­ruption selbst nach ihrem Ende noch zu begünstigen scheint. Machtausübung qua informeller, intransparenter und illegaler Einflussnahme ist der springende Punkt. Am Fall der Banca Cata­lana hat Jordi Amat die vielfältigen Wege der Einflussnahme exemplarisch aufgezeigt. Meister­lich führt er die Ambivalenz der Medien vor, die als vierte Macht eine Säule der Demokratie sein sollen, gleichzeitig aber auch stets Gefahr laufen, als Arm der Macht und der Mächtigen in­strumentalisiert und missbraucht zu werden. Der Lebensweg des zeitweise mächtigen, letztlich aber auch korrumpierbaren und ausnutzbaren Alfons Quintà passt dazu. Dem Le­bensweg des Journalisten Quintà zu folgen, der Ende der sechziger Jahre klein anfängt (Tele/eXpress), groß rauskommt, und wieder klein endet (Diari de Girona), bedeutet gleichzeitig, der Mediengeschichte in Katalonien und der Konkurrenz der Medienunternehmen in Katalonien und Madrid während der transición zu folgen. Auf diese Ebene des Buches einzugehen, wie auf einige andere Ebenen mehr, ginge über die Absicht dieser Rezension, auf ein lehrreiches und spannendes Buch zur neuesten Geschichte Kataloniens und Spaniens hinzuweisen, hinaus.


Jordi Amat: El hijo del chófer. Barcelona: Tusquets Editores 2020 (10.11.2020), ISBN 978849066871

Jordi Amat: El fill del xofer. Els fils secrets del poder: ascens i caiguda d‘ Alfons Quintà. Barcelona: Edici­ons 62 2020 (11. November 2020); Übersetzer: Ricard Vela, ISBN 8429778942

Beide Texte sind auch als e-book erhältlich, die spanische Fassung gibt es auch als Hörbuch gelesen von Pere Molina.