Paul Ingendaay: Gebrauchsanweisung für Spanien

Eine informativ-unterhaltsame Plauderei über spanische Themen

Rezension von Knud Böhle

Paul Ingendaay (Journalist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler) teilt in flüssiger Diktion einiges davon mit, was er im spanischen Alltag und auf Reisen im Lande gesehen und erlebt, und was er darüber hinaus in Gesprächen mit Spaniern und Spanierinnen erfahren hat. Er kann aus dem Vollen schöpfen, zumal er fünfzehn Jahre Feuilletonkorrespondent der FAZ für die Iberische Halbinsel mit Sitz in Madrid war (bis 2016). Der Name der Reihe bei Piper «Gebrauchsanweisung» steht in augenzwinkerndem Kontrast zu der Ich-Form, in der Paul Ingendaay von persönlichen Begegnungen, Einschätzungen und Vorlieben erzählt. Das Buch ist ein Longseller. Die erste Auflage erschien 2002; 2011 gab es eine überarbeitete Fassung, und im Mai 2021 erschien nun die hier besprochene aktualisierte Neuausgabe.

Im Laufe der Plauderei werden, wie zu erwarten, nicht wenige der gängigen Spanien-Stereotype und ‑Topoi aufgerufen. Dazu gehören auch einige angenommene Eigenheiten der Spanier und Unterschiede zu den Deutschen («Ordnung – oder was man in Deutschland dafür hält – ist in diesem Land keine erwünschte Tugend», S. 82). Ab und zu werden dazu spanische Vokabeln eingestreut und erläutert, von denen einige mit typischen Formen spanischen Sozialverhaltens zu tun haben, wie z.B. die envidia sana, der gesunde Neid, bei dem jemand um etwas beneidet wird, das man ihm aber gleichwohl gönnt, vgl. S. 14). Ebenso wird an passenden Stellen auch auf Filmschaffende (z.B. Luis Buñuel, Carlos Saura, Pedro Almodóvar) und Schriftsteller wie Rafael Chirbes, Eduardo Mendoza oder Fernando Aramburu hingewiesen, denen nicht nur gemeinsam ist, dass sie auch in Deutschland bekannt sind, sondern dass ihre Werke sich um die spanische Gesellschaft und ihren notorischen Probleme drehen.

Von Hochzeiten ist die Rede, von Kindern und Müttern und deren «ungewöhnliche[r] Mischung aus allgemeiner Fürsorge und partikularer Gleichgültigkeit» (S. 81), von den Konventionen bei Vor- und Nachnamen, von der Religiosität der Spanier, deren «satte Mehrheit» inzwischen der «nicht praktizierende Katholik» darstelle (S. 101). Von den wunderbaren Kellnern wird gesprochen, von der Hotelkette der Paradores und ihrer Entstehung, vom Massentourismus und Benidorm, und von den weniger frequentierten Gegenden der Costa de la Luz und der Extremadura, die es dem Autor besonders angetan haben. Auch den „im völkerrechtlichen Sinn anachronistischen“ (S. 204) spanischen Exklaven in Nordafrika, Ceuta und Melilla, und der britischen Exklave Gibraltar wird ein Kapitel gewidmet. Es fehlen auch nicht die erwartbaren Klassiker wie Fußball, Semana Santa, Stierkampf, und für den Literaturfreund ein Muss, auch nicht der Don Quijote von Miguel de Cervantes: «Alles, wirklich alles aus Spaniens Goldenem Zeitalter ist angestaubt, also erklärungsbedürftig – nur dieser Roman voller Schönheit, Blödsinn, Rührung und Wahn nicht» (S. 76).

Eine Stärke dieses leichtfüßigen Reisebuchs liegt darin, dass es trotzdem gelingt, auch Probleme, die Spanien wirklich plagen, zum Thema zu machen. Das gilt für den Katalonienkonflikt, die ETA und den baskischen Nationalismus sowie seine problematische Bekämpfung staatlicherseits. Das trifft auch für den Themenkomplex Immobilienspekulation, Immobilienblase, Zwangsräumungen, Bankenkrise, Wirtschaftskrise und deren Folgen zu. Und das schließt auch die Aufarbeitung der Vergangenheit mit den ungezählten Massengräbern aus der Zeit der Franco-Diktatur ein. Es wird vermutet, dass noch 100.000 Opfer der franquistischen Repression in anonymen Massengräbern liegen. Die zivilgesellschaftliche Antwort auf dieses lange verdrängte Problem begann mit einer Person, mit Emilio Silva, der im Jahr 2000 seinen Großvater, der Anfang des Bürgerkriegs getötet worden war, exhumieren und würdig bestatten wollte. Daraus entstand mit der Zeit «eine Volksbewegung ohne Ideologie oder politische Agenda» (S. 123 f.). Ingendaay legt den Finger auch in eine andere Wunde: die unmenschliche Behandlung marokkanischer Arbeiter in der Landwirtschaft Andalusiens. Er war vor Ort und hat sich die Unterbringung der Arbeitskräfte angesehen. «Da wusste ich, dass es Tomaten und Gurken in der Provinz Almería besser haben als Menschen!» (S. 109 f.).

Das erste Kapitel, in dem der Autor unter anderem den Versuch unternimmt, den abgedankten König Juan Carlos I in Schutz zu nehmen, ist weniger gelungen. Selbst wenn der Autor meint, der König sei eben ein «Outdoor-Typ», der sich mit der Zeit im Amt gelangweilt (vgl. S. 13), und sich lieber Männersachen gewidmet habe, so wäre an dieser Stelle auch ein Hinweis auf die erheblichen finanziellen Unregelmäßigkeiten und Rechtsverstöße nötig gewesen, die dem König vorgeworfen werden. Außerdem darf man sich wundern, dass der Autor im Jahr 2021 noch die Ansicht vertritt, Juan Carlos I sei trotz allem «auf wundersame Weise der ‚König aller Spanier‘» (S. 14) geblieben. Neuere Umfragen sprechen eine deutlich andere Sprache.

Was erklärt die Attraktivität des Buches? An erster Stelle ist zu nennen, dass hier jemand von seinem persönlichen Standpunkt aus kenntnisreich und meinungsstark, aber nicht doktrinär, spricht. Egal wie viel oder wenig man selbst z.B. über den Stierkampf, den Quijote, die Semana Santa oder den Jugendstil in Barcelona wissen mag, bleibt es doch interessant zu erfahren, was ein bekannter Journalist und Spanien-Kenner darüber zu sagen hat. Dazu kommt, dass es Ingendaay häufig gelingt, Dinge sprachlich eingängig, präzise und direkt auf den Punkt zu bringen.

Weiterhin ist bemerkenswert, dass gekonnt mit hoch und tief gespielt wird: auf der einen Seite werden Zeichen bildungsbürgerlicher Gelehrsamkeit eingestreut, z.B. kurze Erwähnungen großer Autoren wie Rafael Sánchez Ferlosio oder Elias Canetti. Auf der anderen Seite werden z.B. Witze über die Leute aus Lepe, das spanische Pendant unserer Ostfriesenwitze, wiedergegeben. Hier und da wird auch Kurioses aus der High-Society eingeflochten: die Herzogin von Alba hatte das «verbriefte Recht, zu Pferd in die Kathedrale von Sevilla einreiten zu dürfen» (S. 49). Außerdem ist das Prinzip der Perlenschnur für die leichtgängige Lektüre wichtig. Damit ist gemeint, dass Themen nicht systematisch und erschöpfend kapitelweise abgehandelt, sondern wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht werden, wobei die Art und das Material der Perlen variiert.

Im Kapitel «Baumeister des Himmels» fängt der Erzähler zum Beispiel mit dem Nationalheiligen der Katalanen, Sant Jordi (Sankt Georg), an, dessen Gedenktag am 23. April ist, dann geht er weiter zum «Tag des Buches» in Barcelona (ebenfalls der 23.4.), stößt beim Flanieren auf Gaudí, den «Gestalter einer menschenfreundlichen Wohnkultur», schiebt einiges zu dessen Leben und Bauwerken ein, kommt von da zu den Nachteilen des Massentourismus für die Stadt und den Bemühungen der Bürgermeisterin Ada Colau, einen nachhaltigen Tourismus voranzubringen (S. 163), zu dem ja wieder ein Museumsbesuch gehören kann. So kann von da zum Maler Ramon Casas übergegangen werden: «keiner der Superberühmten», aber einer der «absoluten katalanischen Lieblingskünstler» (S. 164) des Autors. Gegen Ende des Kapitels gibt es dann noch einen Buchtipp zum katalanischen Jugendstil und zum Ausklang noch etwa Geplauder über den Charakter der Katalanen, die manche für die «Schwaben der Iberischen Halbinsel» halten.

Fazit: Die Lektüre hat sich gelohnt: ein paar Stunden gutes Infotainment, drei Orte Acorisa, Calanda, Seseña gegoogelt, zwei der im Text empfohlenen Bücher gleich antiquarisch bestellt ‒ und vorgemerkt, bei nächster Gelegenheit die Werke von Ramon Casas in Barcelona anzuschauen. Mehr Nutzen dürfte sich selten aus einer Gebrauchsanweisung ziehen lassen.


Paul Ingendaay: Gebrauchsanweisung für Spanien.
Aktualisierte Neuausgabe. München: Piper 2021,
ISBN: 978-3-492-27751-8

Martin Dahms: Spanien – ein Länderporträt

Spanien nicht nur für Anfänger

Rezension von Knud Böhle | 17.07.2019 (durchgesehen 02.08.2020)

Martin Dahms, Spanienkorrespondent einer Reihe deutschsprachiger Zeitungen, legte im Dezember 2018 die aktualisierte Neuauflage von „Spanien – ein Länderporträt“ vor, dessen Erstauflage 2011 erschienen war. Ein Buch dieser Art – weder Reiseführer noch politische Landeskunde – sollte Anfängern einen gut lesbaren Einstieg bieten, aber auch denen, die die Berichterstattung über Spanien regelmäßig verfolgen, noch neue Einsichten vermitteln. Um das zu erreichen, kombiniert Dahms verschiedene Zugänge und stilistische Mittel.

Zum einen greift er gängige Spanien-Topoi auf und hinterfragt sie. Was ist dran an Flamenco, Siesta, Stierkampf, spanischer Küche und den für typisch gehaltenen Sitten und Gebräuchen? Häufig werden die persönlichen Eindrücke durch Anekdotisches unterstützt. Zum anderen gelingt es Dahms, sowohl die neuere Geschichte als auch aktuelle soziale und politische Fragen in journalistischer Tonlage abzuhandeln. Dabei bringt er seine persönliche Meinung klar zum Ausdruck und spart nicht mit kritischen Einschätzungen. Für ihn steht z.B. außer Frage, dass die Franco-Diktatur bis 1959 nicht bloß eine autoritäre Herrschaftsform darstellte, sondern ein „terroristischer Staat“ war.

Die Beobachtung, dass den Spaniern weder in kleinem Kreis noch im politisch-öffentlichen Raum viel an einer produktiven Streitkultur gelegen sei, und sie nicht gut darin seien, Konsens zu erzielen, erscheint zunächst provokant. Mit Blick auf den Umgang der Parteien miteinander, etwa bei der Regierungsbildung, oder mit Blick auf die mangelnde Dialogbereitschaft im Katalonienkonflikt, kann man dieser These jedoch eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. Es spricht übrigens auch für dieses Länderporträt Spaniens, dass dieser Konflikt nicht ausgespart wird. Für Dahms geht es dabei im Kern nicht um Fragen des Völkerrechts, sondern um einen Konflikt zwischen zwei konkurrierenden politischen Ideologien, dem spanischen und dem katalanischen Nationalismus.

Ein weiteres inhaltliches und stilistisches Element ist die Vermittlung bestimmter Problemlagen über ihre Personalisierung. So erzählt uns Dahms von Emilio Silva, der seinen Großvater, ein Opfer der Franco-Diktatur, im Jahr 2000 exhumieren ließ. Wie viele andere auch, war auch dieser nach seiner Ermordung einfach in einem Massengrab verscharrt worden. Silva sollte dann alsbald mit anderen den „Verein zur Wiedererlangung des Historischen Gedächtnisses“ (ARMH = Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica“) gründen und entscheidend dazu beitragen, den „Pakt des Schweigens“ zu unterlaufen, und den Konsens in Frage zu stellen, nachdem der Übergang von der Diktatur zur Demokratie (die „transición“) als abgeschlossene Erfolgsgeschichte zu betrachten sei.

Die zweite Persönlichkeit, die Dahms besonders herausstellt, ist der Richter Baltasar Garzón, der international vor allem wegen seines Haftbefehls gegen Augusto Pinochet bekannt geworden war, in Spanien aber an vielen juristischen Fronten kämpfte: der Bekämpfung der Korruption, der Aufklärung der GAL-Affäre (staatlich zumindest tolerierte geheime Antiterrorkommandos gegen die ETA), der effektiven Bekämpfung des ETA-Umfelds und schließlich der Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen während der Franco-Diktatur – bis die spanische Justiz ihn deshalb zu Fall brachte. Das wirkliche Opfer des Garzón-Prozesses, daran lässt Dahms keinen Zweifel, war der spanische Rechtsstaat.

Ein vierter Baustein des Länderporträts sind gewissermaßen Antworten auf implizite Fragen vom Typ „Wie ist das denn bei den Spaniern?“ „Was ist ähnlich, was ist ganz anders als in Deutschland?“. Angesprochen werden u.a. die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zuwanderung, das Erziehungswesen, die Innovations- und Unternehmenskultur, der Stand bei den erneuerbaren Energien, die durch den Klimawandel sich verschärfende Frage der Verteilung der Wasserressourcen zwischen Nord und Süd, die politische Teilhabe der Regionen, die Krise der Monarchie, die politische Rolle der Kirche. Eine gute Orientierung bieten auch die Seiten zu der sich verändernden Medienlandschaft, die neben der Zeitungskrise auch durch Boulevardisierung und Krawallisierung gekennzeichnet ist. Auf seriöse Online-Zeitungen im Internet als Alternative wird hingewiesen.

Vielleicht muss sich der Autor von manchen die Frage gefallen lassen, wo denn das Positive bleibe. Dem beugt Dahms zwar schon in der Einleitung vor mit der Erklärung, dass er nur aus seinem persönlichen Blickwinkel schreibe und keine Liebesgeschichte schreiben wolle. Dabei kommt vielleicht die in Spanien durchaus beobachtbare, beeindruckende Veränderungskraft und Kreativität kollektiver Anstrengungen etwas zu kurz. Die Comisiones Obreras, jener sich während der Franco-Diktatur herausbildende Typ der Arbeitervertretung, deren Bedeutung für die Demokratisierung Spaniens durchaus mit der der Solidarność für Polen verglichen werden kann, wird gar nicht erwähnt. Auch die nach dem Platzen der Immobilienblase entstandene spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen und für Hypotheken-Opfer sowie die Entstehung zweier neuer Parteien (Podemos und Ciudadanos) als Antwort auf die Krise und die Korruption der beiden Altparteien PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) und PP (Spanische Volkspartei), wird nur am Rande behandelt.

Abschließend sei eine Bemerkung von Dahms aufgegriffen, der in Andrés Trapiello einen wichtigen spanischen, in Deutschland noch zu entdeckenden Schriftsteller sieht. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Daran anschliessend läßt sich sagen, dass ein Länderportrait durchaus gewinnen kann, wenn auf Literatur (in Übersetzung) aufmerksam gemacht wird, die gesellschaftliche Verhältnisse und Problemlagen anschaulich macht. Für Spanien leisten das etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, der Roman „Patria“ von Fernando Aramburu, der uns den Konflikt im Baskenland anhand zweier verwobener Familiengeschichten nahebringt, oder „Am Ufer“ von Rafael Chirbes, der uns die fatalen Folgen der geplatzten Immobilienblase am Beispiel eines kleinen Handwerksunternehmens drastisch vor Augen führt.

Kurzum: Ein Länderportrait wird nie allen Wünschen genügen können, aber Dahms ist es erstaunlich gut gelungen, ein Buch über Spanien für Anfänger und bereits gut Informierte (hier in der zweiten Auflage) vorzulegen.

Martin Dahms: Spanien – ein Länderporträt. Berlin 2018: Ch. Links Verlag, 2., aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-96289-048-3