Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten

Faktisches und Erdachtes in der Exil-Geschichte vom spanischen Kommunisten in der DDR und seiner Tochter

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Ein in der deutschen Öffentlichkeit wenig präsentes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte bildet den Aufhänger des erfolgreichen, preisgekrönten Romanerstlings, der 1981 in Madrid geborenen Schriftstellerin Aroa Moreno Durán: das Exil republikanischer, insbesondere kommunistischer Bürgerkriegsflücht­linge in der DDR. In Spanien erschien der Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, bereits 2017. Auf Deutsch ist er in der vorzüglichen Übersetzung von Marianne Gareis im Jahr 2022 erschienen.

Diese Buchbesprechung geht über den üblichen Rahmen einer Rezension hinaus, insofern gefragt wird, wie historische Fakten und Erdachtes im Roman ineinandergreifen und inwieweit der Roman selbst etwas beiträgt zum besseren Verständnis der Lebensbedingungen und Prägungen der spanischen Emigranten und ihrer Kinder. Da es inzwischen einen beachtlichen Stand an historischem Wissen zu den spanischen Asylsuchenden gibt, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der SBZ und dann in der DDR im Exil lebten (vgl. zur Literatur Abschnitt 7), kann eine Antwort auf diese Fragen versucht werden. Da die Autorin selbst in mehreren Interviews ihre intensive Recherchearbeit betont hat (vgl. Strode 2018; Alvite 2019; Whittemore 2021), ist bei ihr von einem reflektierten Umgang mit der Zeitgeschichte auszugehen. Bevor es um diese Fragestellung gehen kann, sind Inhalt und Struktur des Buches sowie das historische Wissen über das Exil in der DDR zu skizzieren.

2. Ein erster Überblick

Der Roman erzählt eine doppelte Exil-Geschichte: einer kleinen Zahl spanischer Republikaner, die meisten davon Kommunisten, die nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) fliehen mussten und nicht nach Franco-Spanien zurückkehren konnten, wurde in der DDR Asyl gewährt (für viele das zweite oder dritte Exil). Im Roman holt einer jener Kommunisten seine Frau aus Spanien nach und gründet kurz nach der Gründung der DDR in Ostberlin eine Familie. Zur Familie gehören zwei Töchter, Katia und Martina. Die erste wird 1950, die zweite 1953 geboren. Beide wachsen in der DDR auf. Katia, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, verlässt 1971 ihre Heimat ‒ «Republikflucht» in der Terminologie der DDR. Sie lässt ihr Land, Berlin, Fa­milie und Freunde zurück, um mit einem jungen Mann aus Backnang (bei Stuttgart) ein neues Le­ben zu beginnen. Damit beginnt die zweite Exil-Geschichte, diesmal als Ost-West-Geschichte. Westdeutschland wird Katia nicht zur neuen Heimat, sondern im Gegenteil zunehmend als Fremde und ungeliebtes Exil erlebt. Mit der Zeit führt das in eine Depres­sion. Land und Leute werden immer stärker abgelehnt und die verlorene Heimat wird im Gegenzug nostalgisch erinnert. Dazu kommt, dass ihre sich als heillos erweisende Entscheidung nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familie in der DDR verheerende Folgen hatte. Das muss sie erkennen als sie 1991, also nach der Wiedervereinigung, ihre Familie in Berlin aufsucht. Sie steht vor einem Scherbenhaufen. Was darauf folgt, bleibt offen, ein Neuanfang scheint nicht ganz ausge­schlossen.

Drei für Romane nicht untypische Fragenkomplexe spielen in dieser Erzählung eine gewisse Rolle: die ungewollten und unvorhersehbaren Folgen irreversibler Entscheidungen, die Verzahnung von großer Geschichte (spanischer Bürgerkrieg, Eiserner Vorhang, Kalter Krieg, Mauerbau, Wiederver­einigung) mit den Lebensläufen des Romanpersonals sowie der Komplex von Herkunft, Heimat, Fremde, Integration und Identität.

Das Buch besteht aus vier Teilen und einem kurzen nicht betitelten Vorspann. Die Überschriften lauten: Der Osten (Zeitraum 1956 – 1971), Niemandsland (1971), Drüben (1972 – 1990), Vaterland (1992). Die Teile sind weiter unterteilt in kurze Abschnitte jeweils versehen mit einer Überschrift, einer Ortsangabe und einer Jahreszahl.

Die Zeit von 1956 bis 1990 wird von Katia als Ich-Erzählerin dargeboten. Von der Art her wirkt es wie ein Aufschreiben der Erinnerungen zum Zweck der Selbstvergewisserung. Die Aufzeichnung richtet sich vom Gestus her folglich nicht an ein anonymes Publikum, sondern ist für sie selbst, und vielleicht noch für eine vertraute oder vertrauenswürdige Person, bestimmt. Das Ich erinnert, was die Erinnerungsübung hergibt, und das muss bekanntlich weder vollständig noch verlässlich sein. Die Ich-Er­zählerin reflektiert die Selektivität persönlicher Erinnerungen: «Zwischen Gefühl und Erinnern besteht eine elektronische Spannung […]. Je stärker das Gefühl, desto leichter bleibt ein Ereignis in Erinnerung. Das Gefühl ist der Filter…» (S. 50).

In dem erwähnten zweiseitigen Vorspann und im letzten Teil des Romans, Vaterland, ist es nicht die Ich-Erzählerin, sondern eine distanziertere Erzählstimme, die das Wort hat. Genauer: Es wird von Katias Handeln, Denken und Fühlen berichtet so als beobachte sie sich selbst von außen. Das könnte so interpretiert werden, dass die Autorin damit zeigen will, dass die Protagonistin am Ende der Geschichte zur Selbstdistanzierung in der Lage ist. Dem Romanende folgt eine Seite mit nur einem ein­zelnen Satz:

Mehr als dreißig Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer existieren auf der Welt immer noch mehr als fünfzehn Mauern, mit denen auf gewaltsame Weise versucht wird, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken. (S. 173)

Auf Seite 175 findet sich eine Dank überschriebene Passage, die an erster Stelle Mercedes Álvarez und Núria Quevedo gilt. Dieser Hinweis ist aufschlussreich, da es sich bei diesen beiden Frauen um in der DDR groß gewordene Töchter namhafter spa­nischer Kommunisten (Ángel Álvarez Fernández und José Quevedo) handelt. In einem langen Gespräch, das als Buch publiziert wurde, hatten die beiden Frauen schon im Jahr 2004 über ihr Leben und das ihrer jeweiligen Eltern Auskunft gegeben (Álva­rez und Quevedo 2004). Auch die Wissenschaft hat sich für sie als Interviewpartner interessiert (Drescher 2008, Denoyer 2011). Ohne die Begegnung mit diesen «Töchtern von Kommunisten» hätte es den vorliegenden Roman von Aroa Moreno Durán nicht gegeben.

3. Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen im Roman

Die Hauptperson und Ich-Erzählerin, Katia, wird in Ostberlin am 21. Februar 1950 geboren (S. 50 und S. 103). Die Erinnerung an die Geschehnisse von 1956 bis 1991 erfolgt weitgehend chronologisch. Nur hier und da fließen Informationen aus anderen Zeiten, von anderen Orten und über andere Personen ein.

Katias Eltern sind Spanier, die in Ostberlin in beengten Verhältnissen im Exil leben. Katia hat eine drei Jahre jüngere Schwester, Martina. Ihr Vater, Manuel, ist überzeugter, moskautreuer Kommu­nist, der der DDR dankbar für das gewährte Asyl ist. Vom Vater wird, was seine politische Haltung angeht, erinnert, dass er sich sehr aufregen konnte, wenn es um die deutsche Ostpolitik ging, die er ablehnte. Besonders echauffiert er sich als Willy Brandt 1970 den Friedensnobelpreis erhält. «Glaub mir, Isabel, das ist der Todesstoß für alles, an das wir glauben. Der Todesstoß, Isabel» (S. 60).

Isabel, der Mutter, liegt wenig an der Partei und Politik. Sie bringt ihren Kindern das Beten und das «mea cul­pa» bei (vgl. S. 56). Sie weigert sich Deutsch zu lernen, ist schlecht integriert, leidet viel und erlebt das Exil als Fremde. Auf Details zur Geschichte der Eltern, besonders des Vaters, wird später im ge­schichtlichen Kontext noch näher eingegangen.

Erfahrungen mit Kontrolle und Überwachung in der DDR und einer Atmosphäre, in der jedes Wort bedacht werden muss, weil eine latente Gefahr der Denunziation besteht, sind sehr präsent in den Erinnerungen Katias. Mit Vorbedacht werden in dem Roman auch Spuren gelegt, die sich dann später in Verbindung mit der Tätigkeit des Vaters als Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi bringen lassen. Zu einem Treffen der Familie mit DDR-kritischen Exilspaniern in Leipzig erinnert Katia: «Es war Papá der sagte, es reicht, Leute, wir müssen dieser Republik dankbar sein. Wir haben sie nie wiedergesehen» (S. 21). Ein weiteres Beispiel: Nach einer Begegnung in Begleitung ihres Vaters mit einem eigenwilligen spa­nischen Exilanten, der als Dozent an der Humboldt Universität lehrte, muss sie feststellen, dass die­ser schon wenig später nicht mehr an der Humboldt-Uni unterrichtete (S. 75).

Das Klima der Überwachung ist greifbar. Durchaus subtil wird auf die DDR als Überwachungsstaat auch in einer Szene hingewiesen, in der Katia im Unterricht unter der Bank in dem berühmten Roman von Anna Seghers «Das siebte Kreuz» liest. Als der Dozent sie darauf anspricht, was sie denn da lese, ist sie gerade an folgender Stelle des Romans:

Die Angst, die mit dem Gewissen nichts zu tun hat, die Angst der Armen, die Angst des Huhnes vor dem Geier, die Angst vor der Verfolgung des Staates. Diese uralte Angst, die besser angibt, wessen der Staat ist, als die Verfassungen und Geschichtsbücher (S. 46).

Ungeachtet dieser Wahrnehmung von Kontrolle und Überwachung, ist ihr zentraler Bezugspunkt ‒ vor dem Mauerbau und auch noch danach ‒ die kleine Familie, mit offenbar wenig Außenkontak­ten, weder zu Spaniern noch zu Deutschen. Die Familie ist ihr Heim. Ende der sechziger Jahre, An­fang der siebziger Jahre findet eine Öffnung statt. Katia hat zu studieren begonnen und hilft auch bei der Vorbereitung der Weltfestspiele der Jugend und Studenten mit. In diesem Kontext findet sie zudem eine gute Freundin, Julia, eine Kubanerin. Katia scheint auf einem guten Weg, sich in die DDR-Gesellschaft zu integrieren.

Im November 1969 taucht dann ein Student aus Westdeutschland in Ostberlin auf, Johannes aus Backnang, der sich für sie interessiert und sich auch in den nächsten zwei Jahren um sie bemüht. 1971 lässt Katia dann Familie, Studium und Freundin zurück und «macht rüber». Genauer: Bezahlte Fluchthelfer (finanziert von den Eltern Johan­nes‘) ermöglichen ihre Flucht über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik.

Katia tut sich mit der neuen Umgebung schwer, die zunehmend als feindliche Fremde empfunden wird. Gewissensbisse kommen dazu. Als sie um 1980 in einem Telefonat die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält, steigert sich ihr Leid noch weiter. Sie bereut ihre irreversible Entscheidung. Trotz schwäbischer Normerfüllung (Heirat, Haus, zwei Kinder, zwei Autos), entfernt sie sich zuneh­mend innerlich von dieser Umgebung, zieht sich mehr und mehr zurück, wird depressiv und initiativlos. Sie entwickelt eine starke Abneigung nicht nur gegen die bundesrepublikanische Gesell­schaft, sondern auch gegen Johannes, ihren Partner und Vater ihrer Kinder. Die DDR wird zuneh­mend nostalgisch als verlorene Heimat empfunden. Am 4. Oktober 1990 kommt es, gut von der Autorin gewählt, einen Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit zur Scheidung (S. 148).

Integration und Identitätsfindung sind gescheitert. Katia ist psychisch krank. Nur auf der Folie ihrer misslungenen Identitätsbildung, ihrer Schuldgefühle und Depression erscheinen die Schuldzuschrei­bungen an ihr persönliches Umfeld und die Gesellschaft der Bundesrepublik dem Rezensenten stimmig. Für ihre Hei­matlosigkeit und Depression findet die Ich-Erzählerin eindrückliche sprachliche Verdichtungen. Dazu einige Beispiele:

«Wenn der Krieg kalt war, dann war ich eisig» (S. 125).

Zur Nachricht vom Tode ihres Vaters schreibt sie « … diese Information, die mich wie ein schwerer Stein in einen dicken Morast hineinzog, in einen Kopf, der für immer wirr war, düster und schwarz» (S. 131).

Zum lustlosen Akt mit dem inzwischen ungeliebten Gatten wird erinnert: «Zwei Körper im Wider­streit. Johannes packte mich kraftvoll. Wir umarmten uns einige Minuten lang. Und dann ging alles ganz langsam. Zu langsam» (S. 133).

Zu Liebesverlust und Entfremdung von Johannes heißt es «[…] dass ich tief in meinem Inneren ei­nen Groll gegen Johannes hegte, weil er mich aus allem herausgerissen hatte, was mein Leben ge­wesen war» (S. 144).

Knapp und zugespitzt formuliert Katia ihre Desillusionierung: «Johannes, ich gebe alles für dich auf, Johannes, du hast mir alles genommen, Johannes, es gibt keine Grenzen, Johannes, Mauer» (S. 149).

Bei der Scheidung geht ihr (nostalgisch-pathetisch) durch den Kopf: «Ich war Kind eines antifa­schistischen Landes, eines Landes, das an die Befreiung glaubte, eines unter Druck gesetzten und verarmten, eines bäuerlichen und sicheren Landes, und irgendwie musste ich mich auflehnen und dieses andere Land verlassen» (S. 150). Es ist ihr bewusst, dass es sich um eine «wirre Gedankenkette» handelt, zumal es zu dem Zeitpunkt das eine Land, die DDR, schon nicht mehr gibt.

Nach dem Mauerfall 1989 dauert es noch zwei Jahre bis sie ihre Mutter und Schwester auf­sucht. 1991 kommt es zum Finale in Berlin: Wir erfahren, was seit Katias Weggang vor 20 Jahren alles passiert ist, wovon sie nichts wusste. Ihre Mutter hat ihren Weggang nie verkraftet und däm­mert jetzt im Rollstuhl dahin, betreut von Martina. Ihr Vater wurde offenbar kurz nach und wegen ihrer Flucht verhaftet und starb nach langer Haft (nicht vor 1981 jedenfalls) als verzweifelter lini­entreuer Kommunist in einem Gefängnis der DDR. Stasi-Akten über ihren Vater belegen, dass die­ser seit 1962 als Informeller Mitarbeiter der Stasi andere Exilspanier bespitzelte.

Die Geschichte endet im Jahr 1991. Das letzte Wort des Romans ist Pojechali. Dieses russische Wort war bereits einmal vorgekommen als Katia die DDR verließ: «Pojechali, sagte ich mir, los geht‘s. Wie der Kosmonaut Juri Gagarin an Bord der Wostok I ging ich fort, ohne zu wissen, dass ich, wie er, Gott auch nicht finden würde dort drüben» (S. 86). Wofür dieses Wort des Aufbruchs am Ende des Romans steht, ist nicht sicher: vielleicht für einen Neuanfang. Nimmt man den ersten Satz des Romanvorspanns dazu, «Ka­tia Ziegler nimmt die Kappe des Füllfederhalters ab, mit dem sie alle wichtigen Dokumente ihres Lebens unterschrieben hat» (S. 9), dann könnte das bedeuten, dass der erste Schritt des Neuanfangs im Aufschreiben ihrer Erinnerungen liegt.

Nachdem der Gang der Handlung soweit bekannt ist, soll als Nächstes der Stand der Geschichtswissenschaft zum Thema der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR kurz vorgestellt werden.

4. Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR – ein Destillat

Erst kurz nach der Jahrtausendwende setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema ein (Heine 2001). Es folgte eine beachtliche Zahl an akademischen Arbeiten. Bereits 2012 ist ein Stand der Forschung erreicht, der ein Gesamtbild von den Exilspaniern in der DDR erlaubt. Die Schwerpunkte und Fragestellungen der Arbeiten sind unterschiedlich, wie es auch in Detailfragen Unterschiede gibt. Dennoch kann von einem Gesamtbild ausgegangen werden, das allgemein geteilt wird.

Es ist zunächst wichtig, zwei Gruppen von Exilspaniern im Zeitraum 1945-1956 zu unterscheiden: Die erste Gruppe bilden die Spanier, die sich nach dem Ende der Naziherrschaft 1945 in der SBZ und dem Ostsektor Berlins befanden, die fast alle «im Spanischen Bürgerkrieg Soldaten der Repu­blik» gewesen waren (Uhl 2004, S. 235). Dazu gehörten typischerweise auch die Spanier, die aus ihrem Exil in Frankreich zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht wurden und in der Regel für die Rüstungsindustrie hatten arbeiten müssen (zu den Zwangsarbeitern in den KZ-Außenlagern vgl. Meerwald 2022 und die Rezension dazu im Spanienecho). Diesem Personenkreis gestattete die So­wjetunion nach der Einnahme Berlins, zurück nach Frankreich oder in die Sowjetunion zu gehen oder eben in Berlin zu bleiben (Alted Vigil 2002, S. 143). Dieser Personenkreis wäre um weitere Elemente zu erweitern, etwa freiwillige Vertragsarbeiter aus Franco-Spanien oder pro-franquistische Spanier auf deutschem Boden. Die Schätzungen der Gruppengröße liegen bei 40-50 Personen (Ei­roa 2018, S. 145) bzw. einigen Dutzend (Kreienbrink 2005, S. 319).

Der Kern dieser Gruppe, der sich als republikanisch und kommunistisch verstand, formierte sich ab 1947 im Ausschuss der Spanisch-Republikanischen Emigration/Opfer des Faschismus, kurz ERE (Emigración Republicana Española) (Uhl 2004, S. 236). Nach Angaben dieser Organisation im Jahr 1948 zählte sie etwa 35 Personen (Kreienbrink 2005, S. 319). Die Leitung der Organisation lag zu­nächst bei José Quevedo. Der ERE wurde allerdings die Anerkennung seitens der SED und der spa­nischen KP verwehrt. Dolores Ibárruri, damals Generalsekretärin der KP Spaniens, ließ wis­sen, wie es in einem oft zitierten Brief an Wilhelm Pieck (Vorsitzender der SED) vom 9.9.1947 heißt: «[…] Sogar solche, die in Konzentrationslagern waren und nicht nach Frankreich mit allen anderen gefahren sind, muss man mit Vorsicht behandeln. Jedenfalls, wir können keinen einzigen unter ihnen garantieren. Deswegen möchten wir Euch bitten, solche Spanier nicht zu benutzen, da sie politisch überhaupt nicht zuverlässig sind» (zitiert hier nach Poutrous 2004, S. 364). Die ERE wurde dann 1949 aufgelöst. Es wurde den Mitgliedern dieser Gruppe danach verwehrt, in die PCE (Partido Comunista de España) oder die SED einzutreten, aber es wurde auch kein Mitglied dieser Gruppe aus der DDR ausgewiesen (Drescher 2008, S. 36).

Die zweite Gruppe spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge kam 1950 in die DDR als Folge der vom französischen Staat im September 1950 angeordneten Polizeiaktion namens «Opération Boléro-Paprika», die gegen Mitglieder ausländischer kommunistischer Parteien, vor allem der spanischen KP gerichtet war. 292 Personen aus zwölf Nationen wurden festgesetzt, darunter 251 Spanier. Im Kalten Krieg wur­den die spanischen Kommunisten nicht mehr als antifranquistische Opposition geschätzt, sondern als stalinistische fünfte Kolonne betrachtet. «Schlussendlich wurden infolge der ‚Operation Bolero-Paprika‘ 176 Spanier verhaftet und die Mehrheit in Korsika oder Algerien unter Hausarrest gestellt. 33 von ihnen wurden jedoch vom Innenministerium über Straßburg sofort in die DDR ausgewiesen. Einige Monate später erfolgte die Familienzusammenführung in Dresden» (Denoyer 2011, S. 98). Die Operation Bolero-Paprika ist mehrfach beschrieben worden (Heine 2001, Poutrous 2004, Uhl 2004, Kreienbrink 2005, Drescher 2008; besonders ausführlich in Denoyer 2017, S. 29-100; Eiroa 2018 befasst sich mit dem Exil spanischer Kommunisten in der DDR und in den anderen sozialisti­schen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang).

Im Mai 1951 wurden für das Kollektiv (ein Ausdruck, den sowohl PCE als auch SED verwendeten) in Dresden 85 Personen nachgewiesen: 31 Männer, 21 Frauen, 33 Kinder/Jugendliche. Diese Spanier wurden grob gesprochen gut in der DDR behandelt, bekamen Arbeit und Wohnung und wurden als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Die vergleichsweise gute Behandlung dieser kommunisti­schen Exilanten ist auch mit Blick auf die Legitimation der DDR und ihren Gründungsmythos als antifaschistischer Staat zu sehen. Der Kampf deutscher Kommunisten in den internationalen Briga­den und die bemerkenswerten Karrieren ehemaliger deutscher Spanienkämpfer in der Politik der DDR und nun die Aufnahme der aus Frankreich ausgewiesenen ehemaligen Waffenbrüder in der DDR, gehören in dasselbe Narrativ (ausführlich dazu Uhl 2004). Denoyer spricht in diesem Zusam­menhang davon, dass die «Spanier von der DDR-Führung teils in erheblichem Maße instrumentali­siert [wurden], um aus ihrer Präsenz eine gewisse Legitimation sowie einen Prestigegewinn sowohl auf internationaler Ebene als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung ableiten zu können» (Denoyer 2011, S. 102).

Gleichwohl wurden auch diese ExilspanierInnen überwacht und kontrolliert, von der KP Spaniens, der SED und je nachdem wurde auch noch das Ministerium für Staatssicher­heit eingeschaltet. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Mitglieder des Dresdner Kollektivs auch «von ihren eigenen Leuten streng überwacht» wurden (Uhl 2004, S. 243). In Dresden bestand das größte Kollektiv kommunistischer Exilspanier. Daneben gab es aber auch ein kleineres Kollektiv in Ber­lin (Chmielorz 2016). 1960 wurde ein drittes Kollektiv in Leipzig gegründet (Denoyer und Fa­raldo 2011, S. 194), das hier weniger interessiert, weil es dort nicht mehr um Bürgerkriegsflüchtlin­ge geht, sondern vor allem um Studenten, «die in Spanien aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen hatten» (Kreienbrink 2005, S. 324).

Bis 1968 kann von einer engen Zusammenarbeit von PCE und SED gesprochen werden. Nach dem Prager Frühling und dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei verschlech­tern sich die Beziehungen zwischen der inzwischen eurokommunistischen PCE und der moskau­treuen SED (vgl. dazu Denoyer und Faraldo 2011, S. 190-197). Dieser Konflikt führte innerhalb der PCE zu Spannungen, Parteiausschlüssen und Neugründungen. Er spaltete auch die Kollektive der Exilspanier in Dresden und Berlin, wobei die meisten Mitglieder weiterhin die prosowjetische Li­nie vertraten und die offizielle Parteilinie Santiago Carrillos verurteilen. Diese Auseinandersetzung erschwerte das Zusammenleben in den Kollektiven (Denoyer und Faraldo 2011, S. 194 f.). Die eine Seite redete nicht mehr mit der anderen und man ging sich aus dem Weg (Drescher 2008, S. 63-68 und für das Berliner Kollektiv Chmielorz 2016). Das MfS kontrollierte und beobachtete die Mitglieder der Kollektive auch mit Hilfe spanischer Informeller Mitarbeiter (Denoyer und Faral­do 2011, S. 96). «Die endgültige Distanzierung zwischen der SED und der PCE erfolgte im Jahr 1973, als die Regierung der DDR mit dem franquistischen Spanien diplomatische Beziehungen auf­nahm» (Denoyer und Faraldo 2011, S. 197).

5. Geschichte im Roman und Geschichtswissenschaft

5.1 Was wir üben den Vater erfahren

Besonders viel weiß Katia nicht über ihren Vater: «Papá erzählte uns nichts, weil auch niemand fragte» (S. 105). Ein paar Eckdaten zur Familiengeschichte liefert die Mutter anlässlich des 18. Ge­burtstags ihrer Tochter (im Buch S. 102-105). 1936 ging der Vater im Spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger in die Berge, um für die Zweite Spanische Republik und gegen die Aufständischen zu kämpfen. Im Sommer 1937 taucht er für drei Tage wieder im Dorf auf; es wird geheiratet. «In unserer Familiengeschichte folgt dann, dass mein Vater 1938 Spanien verließ und nach Moskau ging». Dort wurde er «ein kleiner Provinzkommissar» (was immer das sein mag, KB). 1946 verlässt er die UdSSR und zieht in die SBZ nach Dresden und beginnt dort Deutsch zu lernen. Katias Mutter folgt 1946, das franquistische Spanien unter abenteuerlichen Bedingungen hinter sich lassend, ihrem Mann ins Exil. Die Eltern fanden «in Dresden zusammen, in einer kleinen Gemeinschaft von Spaniern». Sie bekommen Woh­nung und Arbeit durch die Partei. Katias Mutter wollte dann, dass «Papá von der Partei abrückte» und so zog das Paar nach Berlin. Dort kommt Katia 1950 zur Welt und drei Jahre später ihre Schwester Martina. In dem Hinweis auf die «Familiengeschichte» schwingt durchaus die Möglichkeit mit, dass nicht alles stimmen muss, was von Katias Mutter tra­diert wird.

Aus der Literatur zum Exil spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der Sowjetunion ist bekannt, dass am Ende des Bürgerkriegs März/April 1939 (nicht 1938) etwa 1.000 meist der PCE zugehörige oder nahestehende Spanier in der Sowjetunion aufgenommen wurden. Das Gros dieser Flüchtlinge konn­te erst nach dem Tod Stalins die UdSSR verlassen. In einem schmalen Zeitfenster um das Jahr 1946 wurde allerdings einigen Spaniern erlaubt, nach Frankreich oder Lateinamerika zu gehen (Alted 2002, S. 131, 138 f., 143 und Lister 2005, S. 301). Hinweise, dass sich irgendeiner aus diesem Per­sonenkreis in die SBZ begeben hätte, finden sich nicht.

Mit Blick auf die Literatur mutet es sehr unwahrscheinlich an, dass ein Mitglied der KP Spaniens, das acht Jahre in der UdSSR verbracht hat und kein Deutsch sprach, sich 1946, also noch vor der Gründung der DDR, entscheidet nach Dresden zu gehen. Das Exil-Kollektiv der spanischen Kom­munisten in Dresden, auf das angespielt wird, gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht; es entstand erst als Folge der Operation Bolero-Paprika in den Jahren 1950/51. Auch die Entscheidung, einem Wunsch der Ehefrau folgend, von Dresden nach Berlin überzusiedeln, weil sie die Nähe ihres Gat­ten zur Partei nicht schätzte, unterstellt einen Grad an Entscheidungsfreiheit der einzelnen Person, der eher unwahrscheinlich ist. Ein einfacher Wechsel des Wohnsitzes ohne das Plazet von SED und PCE ist schwer vorstellbar. Es wird im Roman auch keine Verbindung zwischen dem Um­zug von Dresden nach Berlin und dem kleinen Kollektiv spanischer Kommunisten, das es in Berlin ab 1950/51 gab, hergestellt.

Moreno Durán hat demnach eine höchst untypische, wenn nicht sogar unmögliche, Biografie des Vaters konstruiert. Informationen über Exilspanier, die schon vor der Gründung der DDR auf deut­schem Boden lebten und derer, die 1950/51 mit der Operation Bolero nach Dresden kamen, werden vermischt. Dabei wäre es ein Leichtes für die Autorin gewesen, den Vater mit einer historisch be­trachtet realistischeren Biografie auszustatten, z.B. als Bürgerkriegsflüchtling, der nach einem ers­ten Exil in der UdSSR (1939-1946) im Jahr 1946 nach Frankreich gekommen wäre, um dann als Folge der Operation Bolero 1950 in die DDR abgeschoben zu werden – mit dem Nachzug der Ehe­frau im folgenden Jahr.

5.2 Der Auftritt von José Quevedo als Dozent De Vega im Roman

Eine besondere Beachtung, um den Umgang der Autorin mit der Geschichte zu verstehen, verdient die Person des Spanisch-Lektors De Vega an der Humboldt Universität Berlin (Kapitel 10, S. 72-75), über den zu erfahren ist, dass er auf Seiten der spanischen Republik stand, aus Franco-Spanien flüchtete und eine Buchhandlung in Berlin aufmachte ‒ und zwar schon zur Zeit des Nationalsozia­lismus ‒, und in dieser Buchhandlung ein Bild von Franco aufgehängt hatte, um die Nazis zu täu­schen. Bald nach der Begegnung (im Jahr 1971) mit Katia und ihrem Vater, von dem der Leser spä­ter erfährt, dass er andere Exilspanier observierte, lehrt De Vega nicht mehr an der Universität.

In der Person dieses Dozenten steckt viel von jenem José Quevedo, den die Historiker kennen (vgl. z.B. Uhl 2004, S. 236f., Drescher 2008, S. 37) und über dessen Leben seine Tochter Núria Quevedo schon 2004 ausführlich und faszinierend im Gespräch mit Mercedes Álavrez berichtet hat (Álvarez und Quevedo 2004). José Quevedo ist als Leiter der 1947 gegründeten Vereinigung republikanischer und kommunistischer Emigranten ERE (s.o) bekannt. Er war in Spanien Mitglied der PCE und ein loyal zur Republik stehender Be­rufssoldat der Luftwaffe. 1939 musste er aus Spanien fliehen, durchlief verschiedene französische Internierungslager und arbeitete dann von 1941 bis 1945 in Berlin in der deutschen Rüstungsindus­trie (wie viele aus Frankreich deportierte bzw. über die Organisation Todt angeworbene Bürger­kriegsflüchtlinge). In seiner Bleibe in Berlin hatte er über seinem Bett ein Foto Francos angebracht. Nach dem II. Weltkrieg, genauer 1952, holte er seine Frau und die Tochter Núria aus Spanien nach. Da hatte er schon die «Internationale Buchhandlung Quevedo» aufgemacht. An der Humboldt Uni­versität unterrichtete er auf Vermittlung des großen Romanisten Werner Krauss (dem Hans Ulrich Gumbrecht 2002 ein sehr einfühlsames und berührendes Denkmal gesetzt hat). Bis 1954 unterrich­tete Quevedo an der HU. Dann wurde aber ein neuer Spanischlehrer aus Dresden angefordert und nach Drescher ist «durchaus an einen erzwungenen Rückzug Quevedos zu denken» (Drescher 2008, S. 115). In einem Feature des Deutschlandfunks über das Ostberliner Kollektiv der Exilspanier (Chmielorz 2016) wird übrigens die Anforderung eines neuen Spanisch-Dozenten 1954 bestätigt.

Die Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur und den Erinnerungen Núria Quevedos an ihren Vater, sind frappierend: Vom Dozenten De Vega heißt es im Roman, er «prahlte damit, dass er vom größ­ten spanischen Dichter aller Zeiten abstamme, Lope de Vega» (S.73). Núria Quevedo über ihren Va­ter: «Mein Vater hat immer davon geträumt, Nachkomme des Don Francisco zu sein» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 33). Angespielt wird hier auf die spanischen Barockdichter Félix Lope de Vega und Francisco de Quevedo.

Konfrontiert mit der Empörung des linientreuen Kommunisten wegen seines eigenwilligen Lebens­wegs, antwortet De Vega «Wollen Sie mir etwas über das Leben erzählen? Überleben nenne ich es» (S. 74). Núria Quevedo konfrontiert damit, dass ihr Vater für die Nazis arbeitete, antwortet «Um das Leben zu retten, versuchte man alles, klar» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 25).

Unter dem Aspekt der geschichtlichen Plausibilität ist die Geschichte des Herrn de Vega höchst un­wahrscheinlich. Wie sollte ein republikanischer Bürgerkriegsflüchtling, den es nach Nazi-Deutsch­land verschlagen hatte, in Kriegszeiten in Berlin eine Buchhandlung aufmachen können, und diese danach bis mindestens in die siebziger Jahre in der DDR weiterführen? Die typische Verwendung spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Nazi-Deutschland war ihr Einsatz als Vertrags- oder Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie.

Es gibt ein verborgenes intertextuelles Spiel zwischen dem Roman und den Erinnerungen von Núria Quevedo und Mercedes Álvarez. In die Figur des Dozenten De Vega sind, wie gezeigt, sicht­bar Informationen über José Quevedo eingeflossen. Auch in der Ausstaffierung der Mitglieder der Kleinfamilie von Vater, Mutter, Katia und Schwester Martina finden sich zahlreiche Versatzstücke aus den Erinnerungen der beiden wirklichen Töchter von Kommunisten. In Abwandlung des bekannten Satzes «Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig» sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen bei Moreno Durán also keines­wegs zufällig. Nur sind die Lebensläufe, die sie aus dem vorhandenen Material unterschiedlicher Flüchtlingsschicksale konstruiert hat, in einigen Punkten nicht belastbar. Die meisten Leserinnen und Lesern dürften sich an den kleinen histori­schen Ungereimtheiten nicht stören.

5.3 Katias mangelndes politisches Interesse

Zeitgeschichte wird im Roman weitgehend dadurch ausgeklammert, dass die Protagonistin als un­politisch gezeichnet wird. Das wird besonders deutlich daran, dass der Konflikt zwischen den mos­kautreuen Kommunisten und der KP Spaniens unter der Führung Santiago Carrillos, die einen euro­kommunistischen Kurs verfolgte, und der die Exilspanier in der DDR seit dem Ende der 60iger Jahre in zwei Lager spaltete, in Dresden wie in Berlin, nirgends aufscheint (s.o.). Selbst der Ein­marsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968, der von der PCE verurteilt und von der SED mitgetragen wurde, und der den bestehenden Konflikt unter den Exilanten noch verschärfte, findet keinen Eingang in den Roman, obwohl die Protagonistin zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt ist, mit anderen Jugendli­chen zusammen kommt und in Berlin studiert. Was sie 1971 beschäftigt, sind die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, an deren Vorbereitung sie mitmacht. Dass diese nicht 1971 wie im Roman angegeben, sondern erst 1973 stattfanden, ist für den Gang der Erzählung nicht entscheidend.

Dem Konflikt zwischen SED und PCE um das Jahr 1973, als die DDR das Francoregime diploma­tisch anerkannte, wird keine Beachtung geschenkt. Auch die Demonstrationen in der Bundesrepublik gegen das Regime in Spanien in seiner brutalen Endphase, werden nicht wahrgenommen. Depressiv und zurückgezogen in der schwäbischen Provinz, wird die Bun­desrepublik der 70er und 80er Jahre von der Protagonistin in den Klischee der 50iger-Jahre er­lebt: Hausbau, Auto, Kinder, bis zum Umfallen arbeitender Ehemann, der vor dem Fernseher abends seine Biere trinkt, die Frau ans Haus gefesselt. Die Wahrnehmung der politischen Veränderungen und der Wirklichkeit sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wirkt merkwürdig beschränkt und getrübt.

5.4 Katias Identitätsproblem

Das Thema der schwierigen Identitätsfindung der Kinder der spanischen Kommunisten in der DDR wurde in der Literatur untersucht (Denoyer 2011, 2017): Min­destens zwei Identitätsquellen spielten üblicherweise eine Rolle: die eine, welche die Eltern an ihre Kinder weiter­gaben, und die andere die das Aufnahmeland anbot (Denoyer 2011, S. 106). Häufig war es aber auch noch ein Drittland, Frankreich oder Russland z.B., das eine Rolle spielte. Gerade die komplexen Biografien von Mercedes Álvarez und Núria Quevedo zeigen eindrucksvoll, dass die Exilerfahrung der Töchter von Kommunisten auch neuartige, komplexe, gelingende Identitäten hervorbringen kann.

Interessant in der Studie von Denoyer ist zudem der Befund der starken Bedeutung der DDR und die Bindung daran: «Nicht zuletzt haben die Kinder der Exilanten eine besondere, weil dauerhafte Beziehung zur DDR entwickelt. Auch wenn sie die Schwächen des ostdeutschen Re­gimes durchaus erkennen und den dort herrschenden Mangel an Freiheit verurteilen, verteidigen sie bis heute das untergegangene Land […]» (Denoyer 2011, S. 108). Denoyer schreibt weiter: «Für die zweite Generation der Spanier in der DDR geriet das politische Exil [da­her] zu einer strukturierenden biografischen Erfahrung, in der dem National- und Identitätsgefühl sowie den Beziehungen mit der Ursprungs- und der Aufnahmegesellschaft ein besonderes Gewicht zukam» (Denoyer 2011, S. 109).

Ähnliches lässt sich auch für die Hauptfigur des Romans behaupten. Bezogen auf ihre Kindheit und Jugend in der DDR kann von einer «strukturierenden biografischen Erfahrung» gesprochen werden. In späteren Jahren ist ihr Bezugspunkt indes ein anderer: Es sind die enttäuschenden Erfahrungen in der Bundesrepublik, die zu einer wachsenden Ab­lehnung der Lebensverhältnisse dort und zu einer nostalgischen Aufwertung der DDR führen.

Es bleibt zu fragen, welche Rolle Spanien als über die Eltern vermittelte «Ursprungsgesellschaft» für die Identitätsbildung der Hauptfigur spielt. Dass Katia aus einer spanischen Migrantenfamilie in der DDR stammt, spielt für ihr Unglück und Leid im Roman vordergründig kaum eine Rolle. Es zieht sie nicht nach Spanien und sie versucht auch nicht, Kontakt mit ihren Verwandten in Spanien herzustellen. 1989 betritt sie erstmals in ihrem Leben spanischen Boden. Eine von ihrem Ehemann, Johannes, ohne ihr Wissen geplante und durchgesetzte Reise nach Spanien, wird zum Fiasko. Der erzwungene Besuch des Heimatorts ihrer Eltern, Dos Aguas, wird abrupt abgebrochen. Spanien ist für sie keine mögliche Heimat und erst recht kein Sehnsuchtsort. Mit ihrer Lebensgeschichte und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern scheint sie im heutigen Spanien nichts verloren zu haben. Für dieses Gefühl dürften hauptsächlich ihre von Scham und Schuldgefühlen geprägten Identitätsprobleme verantwortlich sein. Dass Spanien sich nach Franco als Monarchie konstituierte und die politische Aufarbeitung des Unrechts, das an den Republikanern verübt wurde, zu der Zeit (1989) praktisch nicht stattfand, dürfte dagegen weniger relevant für Katias Nicht-Zugehörigkeitsgefühl sein.

Katia stellt nicht nur einen untypi­schen, sondern einen höchst unwahrscheinlichen Fall einer Exilspanierin der zweiten Generation dar. Ihr Identitätskonflikt ist vorwiegend innerdeutsch: BRD = Fremde vs. DDR = Heimat. Sie ist so wenig politisch bewußt, dass sie nicht ein­mal die Errungenschaften der DDR bezüglich einer fortschrittlichen Frauenrolle verteidigt. Auch die kommunis­tischen Werte ihres Vaters führen sie nicht dazu, sich politisch zu orientieren oder gar zu organisie­ren. Was bleibt, ist eine unreife junge Frau, die wegen einer emotionalen Beziehung von der DDR in die BRD übersiedelt, von der Beziehung wie vom Leben im Westen enttäuscht wird, dort fremd bleibt, depressiv wird und sich nach der alten Heimat sehnt.

Es ist dem Rezensenten nicht bekannt, dass je eine Tochter eines der wenigen spanischen Kommunisten im DDR-Exil in die BRD ging, und dass je ein linientreuer spanischer Kommunist zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde (und schließlich sogar im Gefängnis umkam), weil seine volljährige Tochter in die Bundesrepublik geflohen war. Hätte es solch eine Geschichte wirklich gegeben, wäre sie den Exilspaniern kaum verborgen geblieben und mithin bekannt.

6. Schlussbetrachtung

Es bleibt festzuhalten, dass Moreno Durán mit ihrem Roman auf ein spannendes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte aufmerksam macht: das Leben spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge und deren Kinder in der DDR. Das sprachliche Vermögen der Autorin, mit weni­gen Worten, kurzen prägnanten Sätzen, poetischen Verdichtungen, originellen Vergleichen, Gegenschnitten, Andeutungen und Leerstellen, der Leserschaft Situationen, Stimmungen und Befindlichkeiten nahezubringen, ist ihre Stärke. Darum lassen sich viele zunächst gerne auf den Roman ein und verfolgen, wie sich die Hauptperson anekdotenreich, farbig und in ihrem eigenwilligen Schreibstil an ihre Jahre in der DDR von 1956 bis 1971 erinnert. Der Teil, der in der Bundesrepublik spielt, fällt dann deutlich ab.

Die Zeit von 1971 bis 1991, die in der BRD spielt, ist eine bleierne Zeit. Nur unter der Annahme ei­ner sich steigernden Depression der Hauptperson, einer gelähmten Handlungsfähigkeit und einer Weltwahrnehmung der Wirklichkeit durch den Schleier des psychischen Leids, will dem Rezensenten dieser Teil als glaubhaft vorkommen. Die Depression zusammen mit dem Desinteresse der Hauptperson an politischen Entwicklungen hüben und drüben und die geringe Bedeutung, die Spanien für ihre Identität spielt, reduzieren diesen Teil auf eine künstliche Konstruktion von Ost-Hei­mat – West-Fremde. Raffiniert daran ist in gewisser Weise, dass die Hauptperson das Schicksal ihrer Mutter wie­derholt, die die DDR als Fremde erlebte, sich nicht integrierte und nicht integrieren wollte. Katia wäre demnach viel mehr die Tochter ihrer unglücklichen Mutter als die ihres kommunistischen Vaters. Die Parallele geht soweit, dass sich die fatale Entscheidung der in Spanien lebenden Mutter, ihrem Mann in die DDR zu folgen, in der fatalen Entscheidung ihrer Tochter, ihrem späteren Mann Johannes in die BRD zu folgen, wiederholt. Fremde und Leid bei Mutter und Tochter hüben wie drüben. Der einen erfriert das Herz in der DDR, der anderen in der BRD.

Die Betrachtung des Verhältnisses von Fakten und Ausgedachtem in der Erzählung hat ergeben, dass die Autorin es nicht darauf anlegt, entgegen der Erwartung des Rezensenten, ihre Romankonstruktion mit den bekannten historischen Fakten und der Lebenswirklichkeit der Exilspanier der ersten und zweiten Generation bestmöglich in Deckung zu bringen und dadurch das Verständnis für deren Lebensläufe und Schicksale zu vertiefen. Im Gegenteil, es wird einiges getan, um die Wirklichkeit auf Abstand zu halten. Die gewählte DDR-BRD-Konstellation ist zunächst (bis zum Beweis des Gegenteils) eine Kopfgeburt, reine Fiktion. Das wichtigste Mittel, die Wirklichkeit außen vor zu lassen, findet sich dabei in der psychologischen Ausstattung der Hauptperson nach ihrer Übersiedlung in die BRD, die geradezu darauf ausgerichtet scheint, die Wirklichkeit nicht klar zu sehen: wegen ihrer Unreife, ihrem Desinteresse am politischen Geschehen, ihrer Initiativlosigkeit und vor allem wegen ihrer Depression.

Viel mehr als in dem Roman erfährt man in dem Gespräch zwischen Mercedes Álavrez und Núria Quevedo (2004) über die Töchter von spanischen Kommunisten in der DDR. Das Buch, das daraus entstanden ist, würde der Rezensent gerne ins Spanische übersetzt sehen. Zu begrüßen wäre außerdem eine fundierte historische Arbeit zu den republikanischen Flüchtlingen, die sich 1945, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bereits in Deutschland befanden und später in der DDR lebten. Das abenteuerliche Leben des José Quevedo verdiente dabei eine eigene Darstellung.

Hinweis einer Leserin vom 2. April 2023: In der Tat gibt es bereits seit 2012 die gewünschte spanische Fassung des Buchs: Mercedes Álvarez y Nuria Quevedo: Ilejanía. La cercanía de lo olvidado (un diálogo sobre el exilio). Muséu del Pueblu d’Asturies und Ayuntamientu de Xixón: Gijón 2012; ISBN 978-84-96906-33-4. Eine pdf-Version des Buches ist ebenfalls verfügbar.

7. Literatur

  • Alted Vigil, Alicia: Los exilios en la España contemporánea. In: Ayer (Asociación de Historia Contemporánea), 2002, No. 47, S. 129-154
  • Álvarez, Mercedes und Quevedo, Núria: Ilejanía – Unferne: die Nähe des Vergessenen. Ein Gespräch. BasisDruck: Berlin 2004
  • Alvite, Maite im Interview mit Aroa Moreno Durán. Diario de Ibiza vom 13. März 2019
  • Chmielorz, Rilo: Operation Bolero. Das spanische Kollektiv in Ost-Berlin. Manuskript zur Sendung im Deutschlandfunk vom 10.5.2016 (19:15-20:00)
  • Denoyer, Aurélie: Les réfugiés politiques espagnols en RDA. In: Trajectoires 3 | 2009
  • Denoyer, Aurélie: Integration und Identität. Die spanischen politischen Flüchtlinge in der DDR. In: Kim Christian Priemel (Hg.): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in die DDR 1945 – 1990. Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung: Dresden 2011, S. 98-112
  • Denoyer, Aurélie: Exil als Heimat. Die spanischen kommunistischen Flüchtlinge in der DDR. Individuelle Lebensläufe, Kollektivgeschichte. Dissertationsprojekt. In: The International Newsletter of Communist Studies XVIII, (2012), no. 25 . S. 40-43
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Trajectoires individuelles, histoire collective. In: Trajectoires 6 | 2012 
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Presses universitaires de Rennes: Rennes 2017; online verfügbar; diese Publikation beruht auf der Dissertation von 2012
  • Denoyer, Aurélie und Faraldo, José M.: »Es war sehr schwer nach 1968 als Eurokommunistin«. Emigration, Opposition und die Beziehungen zwischen der Partido Comunista de España und der SED. In: Arnd Bauerkämper und Francesco Di Palma (Hg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968–1989). Ch. Links Verlag: Berlin 2011, S. 186-202
  • Drescher, Johanna: Asyl in der DDR. Spanisch-kommunistische Emigration in Dresden (1950-1975). vdm-Verlag: Saarbrücken 2008
  • Eiroa, Matilde: Españoles tras el Telón de Acero: El exilio republicano y comunista en la Europa socialista. Marcial Pons Ediciones de Historia: Madrid 2018
  • Gumbrecht, Hans Ulrich: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Hanser Verlag: München 2002
  • Heine, Hartmut: El exilio republicano en Alemania Oriental (República Democrática Alemana-RDA). In: Migraciones y Exilios, 2-2001, S. 111-121
  • Kreienbrink, Alexander: Der Umgang mit Flüchtlingen in der DDR am Beispiel der spanischen ‚politischen Emigranten‘. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 317-344
  • Lister, Enrique: Vorgeschichte und Voraussetzungen der Ansiedlung der spanischen kommunistischen Emigranten in Osteuropa. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 289-316
  • Meerwald, Johannes: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Wallstein Verlag: Göttingen 2022
  • Poutrus, Patrice G.: Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 11. Jg. (2004), S. 355-378
  • Strode, Sara im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: El papel amarillo (blog de críticas literarias) vom 23. Juli 2018
  • Uhl, Michael: Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR. Dietz: Bonn 2004.
  • Whittemore, Katie im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: H for History Blog vom 8. Februar 2021

Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. btb Verlag: München 2022, ISBN 978-3-442-75904-0



Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau | Presos españoles en Dachau

Un aporte a la representación histórica de una epopeya casi olvidada

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 02.11.2022), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 18.11.2022)

1. Introducción

Johannes Meerwald es el autor de la primera monografía en lengua alemana sobre los españoles encarcelados en el campo de concentración de Dachau. La obra ha sido publicada en octubre de 2022 por Wallstein Verlag, en la «Serie pequeña» del Instituto Fritz Bauer. El libro es una versión revisada de su tesis de máster, que recibió en 2021 el premio de investigación Stanislav Zámecník del Comité International de Dachau (CID). El estudio se basa en una ambiciosa exploración de los archivos españoles y alemanes, así como en el examen de la literatura científica secundaria, de las memorias publicadas por prisioneros españoles de Dachau, y por prisioneros de otras naciones que aportan datos sobre los presos españoles.

2. Una primera ojeada

Antes de entrar en detalles sobre la obra, conviene exponer brevemente, a partir del material aportado por Meerwald, las etapas de la odisea y los hechos históricos más destacables. Al menos 659 de los españoles que huyeron a Francia al final de la Guerra Civil fueron deportados al campo de concentración de Dachau (p. 105). Dachau era un campo de hombres. Para las pocas mujeres españolas que llegaron a Dachau, este campo constituyó tan solo una breve etapa, de camino hacia otro campo de concentración (cf. p. 50 y ss.). Un total de 130 españoles murieron en Dachau. A fines de abril de 1945, el campo de concentración fue liberado por las tropas estadounidenses (ver p. 107).

Da comienzo esta odisea con la salida de aproximadamente medio millón de mujeres, niños y hombres, huidos a Francia ante el avance victorioso de las tropas de Franco. Para sugerir la magnitud del éxodo puede señalarse que, a finales de 1939, todavía quedaban unos 200.000 exiliados españoles en suelo francés, muchos de ellos recluidos, en lamentables condiciones, en los campos de internamiento del sur de Francia (cf. p. 15). A los hombres capacitados para la lucha armada se les brindaba una oportunidad para salir de los campos, la de ponerse a disposición del ejército francés. Las opciones eran: incorporarse a la Legión Extranjera, a los RMVE (Régiments de Marche de Volontaires Étrangers), o a las CTE (Compagnies de Travailleurs Étrangers).

Los españoles presos en el campo de concentración de Dachau entre 1940 y 1943 eran en su mayoría prisioneros de guerra capturados a raíz de la derrota de Francia por la Wehrmacht alemana. La mayor parte de ellos había participado anteriormente, entre 1939 y 1940, en la defensa de la Tercera República francesa. Unos 50.000 españoles, se estima, fueron desplegados para reforzar la línea Maginot (ver p. 16).

En cuanto a los quinientos españoles, aproximadamente, que fueron deportados en 1944 a Dachau, en su mayoría pertenecen a la resistencia contra el régimen de Vichy y contra la ocupación alemana. Procedentes de cárceles francesas, campos de internamiento y campos de concentración franceses, fueron trasladados al campo de Dachau y su satélite Allach, para ser subsecuentemente usados como trabajadores forzados en la industria armamentística alemana (ver p. 40). Por supuesto, constituyen solo una pequeña fracción de las personas españolas que, activas en la Resistencia, terminaron deportadas en los campos nazis.

Tras la liberación de los campos de concentración en 1945, muchos de los españoles supervivientes regresaron nuevamente al exilio en Francia, ya que el régimen franquista no fue derrocado por los Aliados al final de la Segunda Guerra Mundial, siendo incluso cada vez más reconocido internacionalmente durante el transcurso de la Guerra Fría. Para la mayoría de los exprisioneros de los campos de concentración, regresar a España conllevaba un riesgo elevado de ser nuevamente perseguidos, encarcelados o incluso asesinados. Por su parte, el estado francés prestó «en general poca atención a la crítica situación de los supervivientes españoles» (p. 90). El apoyo estatal a los exprisioneros de los campos de concentración se limitó a quienes habían luchado previamente con el ejército francés. Los combatientes de la Resistencia que sobrevivieron al campo de concentración de Dachau se vieron excluidos de las subvenciones gubernamentales (p. 95). Para muchos, el exilio forzado solo terminó con la muerte del dictador en 1975. Entre tanto, ya han ido muriendo todos los españoles, testigos supervivientes del campo de concentración de Dachau (p. 109).

3. Algunos detalles y algunas cuestiones abiertas

3.1 Deportación al campo de concentración de Mauthausen y traslado de algunos prisioneros a Dachau

La pérdida de la guerra contra Alemania supuso a Francia más de un millón de prisioneros de guerra. La mayoría de ellos fueron destinados a trabajos forzados. Los prisioneros de guerra españoles, por su parte, fueron deportados al campo de concentración de Mauthausen-Gusen. Las condiciones del trabajo forzado, la mala alimentación, la violencia de los guardianes, encuadrados en las SS, y la práctica deliberada de asesinatos se confabularon para que pocos de ellos pudieran sobrevivir el internamiento. Hasta finales de 1941 habían sido llevados 7.200 españoles a este complejo de campos de concentración, de los cuales, casi dos terceras partes habían muerto a finales de 1943 (cf. p. 17 y ss.). Un número relativamente pequeño de prisioneros españoles fue trasladado desde Mauthausen-Gusen entre 1940 y 1943 al campo de Dachau.

Algunas preguntas en torno a este escenario, planteadas por Meerwald, no han sido completamente resueltas aún por la investigación. ¿Por qué los prisioneros de guerra españoles no fueron tratados como tales, según derecho de guerra, sino deportados a Mauthausen como apátridas? ¿Por qué todos los prisioneros de guerra españoles fueron deportados a Mauthausen? ¿Cuáles fueron los motivos del traslado de presos españoles desde Mauthausen a Dachau? Hay una hipótesis plausible para la primera pregunta: uno de los objetivos de Franco era la aniquilación de los españoles republicanos, tanto en el interior como en el extranjero; incluso tras la victoria en la Guerra Civil, el dictador no desistió de este propósito. A sus cálculos le convenía la deportación de prisioneros de guerra españoles a campos de concentración alemanes. En ese momento, la Alemania nazi todavía esperaba que España luchara a su lado en la Segunda Guerra Mundial. Pero la investigación actual no ha conseguido poner totalmente en claro cuál fue el acuerdo entre ambas dictaduras sobre cómo tratar a los españoles prisioneros en Alemania (cf. p. 17).

3.2 Trabajos forzados, disolución de los campos de concentración, y detención en Francia

En el apogeo de la guerra, el trabajo forzado fue adquiriendo cada vez más importancia para la industria armamentista alemana, y ello se reflejó también en los campos de concentración. Meerwald ve en Albert Speer la «fuerza impulsora tras el radical giro economicista del sistema de campos de concentración, iniciado en 1942» (p. 54). En el curso de esta reorientación, el «rojo español» (Rotspanier en alemán), políticamente peligroso, pasó a ser considerado un útil trabajador forzoso (ver p. 106). El interés por gestionar esta mano de obra conllevó ciertas mejoras en la manutención de los presos.

No pocos de los españoles residentes por entonces en Francia se negaban a enrolarse en las brigadas de trabajo del régimen de Vichy, los Groupements de travailleurs étrangers, o en la OT, la Organización Todt. Prefirieron pasar a la clandestinidad y participar activamente en la resistencia contra el régimen de Vichy y los ocupantes alemanes (ver p. 38 y ss.). En caso de ser capturados, generalmente eran enviados a campos y prisiones franceses.

En el curso de varias mortíferas expediciones, en 1944, fueron transportados en tren, junto a muchos otros presos, a Alemania. En el desplazamiento desde el campo de concentración francés Royallieu a Dachau, del 29 de junio de 1944, el tristemente famoso train de la mort, 984 de los 2.162 deportados (entre ellos, 65 españoles) encontraron la muerte (cf. pp. 43-45). Al deseo de racionalizar la economía de guerra se contraponía, manifiestamente, una inhumana voluntad aniquiladora. Ante un transporte de presos tal como es documentado por Meerwald, ciertamente cabe dudar de que su finalidad principal fuese el aprovisionamiento con trabajadores forzados de la industria bélica. Dado el ineluctable avance de los Aliados, parece haber pasado a un primer plano el objetivo de disolver los campos y prisiones, sin tener en cuenta el coste en vida humana.

3.3 Sobre las condiciones de supervivencia de los presos españoles en Dachau

Meerwald también explora las condiciones de supervivencia de los prisioneros españoles en Dachau. Tres factores mejoraron la situación: en primer lugar, el apoyo y solidaridad de los numerosos interbrigadistas ―voluntarios que habían luchado del lado de la Segunda República Española en la Guerra Civil en las Brigadas Internacionales― fue de excepcional importancia. Al igual que los españoles presos en Dachau, los brigadistas fueron catalogados como «españoles rojos». Para trazar una imagen completa de la situación de los españoles en Dachau, hubiera sido de gran interés contar con más información sobre el número y la composición política y social de los interbrigadistas recluidos en el campo, dada su capital importancia para los presos españoles.

En segundo lugar, los españoles lograron establecer una red secreta de comunicación y ayuda en el campo de concentración. El médico de presos Vicente Parra Bordetas fue de extraordinaria importancia para esta red, en su condición de médico, que le permitió salvar muchas vidas, y como cabeza de la red (ver p. 72).

En tercer lugar, «se esfumaron las diferencias» entre las distintas organizaciones políticas (comunistas estalinistas, marxistas antiestalinistas, socialistas, anarcosindicalistas) dentro del campo de concentración (ver p. 63). No está claro en este punto qué peso relativo tenían los diferentes grupos. Dado que la República Española fue apoyada no solo por fuerzas revolucionarias de izquierda, sino también por partidarios de la democracia burguesa y por militares leales, sería apropiado discutir hasta qué punto las posiciones republicanas no izquierdistas tuvieron presencia entre los presos de campos de concentración.

3.4 Exilio

Después de la reclusión, durante el exilio en Francia, la mencionada unidad se rompió de nuevo. Ello se refleja en la gran cantidad de asociaciones de sobrevivientes que se fundaron en el exilio. La FEDIP (Federación Española de Deportados e Internados Políticos) fue la asociación más potente. Los comunistas españoles crearon su propia asociación, que hubo de hacer frente a la línea oficial del PCE (Partido Comunista de España), desde el exilio en Moscú, que acusaba a los supervivientes de los campos de concentración de haber colaborado con los alemanes (cf. p. 94).

En contraste, presenta Meerwald un benigno pasaje de la historia del exilio, que tiene lugar en Múnich. No todos los presos españoles fueron a Francia tras su liberación. Hubo algunos que terminaron en Múnich. Allí residía en el Palacio Municipal de Nymphenburg la princesa española María de la Paz de Borbón y Borbón (casada con Luis Fernando de Baviera), de inclinaciones filantrópicas y caritativas. Algunos supervivientes españoles de Dachau acudieron a ella con una petición de socorro, que les fue concedida. A cambio, los «españoles rojos» repararon el palacio, dañado por las bombas, y «encontraron un nuevo hogar nada menos que en la residencia muniquesa de la familia Wittelsbach» (p. 85). Con la muerte de la infanta, a los 84 años, termina esta memorable historia el 3 de diciembre de 1946.

4. Resumen: contra el olvido

El libro llena un vacío en la investigación sobre los campos de concentración nazis y proporciona una pieza adicional de la historia acerca de las víctimas de la dictadura franquista, que sufrieron la fuga, los campos de internamiento, el trabajo forzado, el campo de Dachau y el exilio. El conocimiento de los hechos históricos y las anotaciones personales de los exprisioneros del campo de concentración se entrelazan en la obra de tal manera que se evita recluir a los prisioneros en un papel de meras víctimas. Por un lado, esto se consigue gracias a mencionar, siempre que es posible, los nombres de los presos y dar relieve a «las voces de los perseguidos» (p. 14) por medio de citas a propósito. A ello se suma el hecho de que se abarque toda la epopeya de los presos, incluyendo la historia antes y después del encarcelamiento en el campo de concentración. Todo ello contribuye a caracterizar a los presos como personas activas que hicieron una importante contribución a la defensa de la Tercera República francesa y a la resistencia contra las dictaduras que los oprimían.

Meerwald escribe con objetividad y detalle. Quizá justamente porque el autor prescinde del heroísmo y victimismo es por lo que esta historia nos sigue tocando hoy en día y haciendo aflorar algo no acabado ni resuelto. Traer a la memoria, con criterio histórico, un episodio casi olvidado del «siglo de los campos» (Zygmunt Bauman) es abrir vías de conexión con el presente. Esto es lo que consigue Meerwald con su estudio.


Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Reihe: Kleine Reihe zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; Bd. 4. Wallstein Verlag: Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5320-6 (Oktober 2022) [Presos españoles en Dachau. Guerra Civil, campo de concentración y exilio. Serie pequeña sobre la historia y efectos del holocausto. Vol. 4. Gotinga: Wallstein Verlag 2022, ISBN 978-3-8353-5320-6 (octubre de 2022)]

Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil

Ein Beitrag zur historischen Vergegenwärtigung einer fast vergessenen Odyssee

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Johannes Meerwald hat die erste deutschsprachige Monographie zu den im KZ Dachau inhaftierten Spaniern vorgelegt. Die Arbeit ist im Oktober 2022 im Wallstein Verlag, in der «Kleinen Reihe» des Fritz Bauer Instituts, erschienen. Das Buch ist die überarbeitete Fassung seiner Masterarbeit, die 2021 mit dem Stanislav Zámecník-Studienpreis des Comité International de Dachau (CID) ausgezeichnet worden war. Die Studie beruht auf intensiver Arbeit in den einschlägigen spanischen und deutschen Archiven, einer Auswertung der wissenschaftlichen Sekundärliteratur sowie der publizierten Erinnerungen der spanischen Häftlinge und anderer KZ-Häftlinge, die sich zu den Spaniern im KZ geäußert haben.

2. Ein erster Überblick

Bevor auf Details der Arbeit eingegangen wird, werden zunächst auf Basis des von Meerwald ausgebreiteten Materials die Etappen der Odyssee und die relevanten historischen Ereignisse in knapper Form angesprochen: Mindestens 659 der am Ende des spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich geflohenen Spanier wurden in das KZ Dachau deportiert (S. 105). Dachau war ein Männerlager. Für die Spanierinnen, die nach Dachau kamen, war dieses KZ nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg in ein anderes KZ (vgl. S. 50f.). Insgesamt starben 130 Spanier im KZ Dachau. Ende April 1945 wurde das KZ von US-amerikanischen Truppen befreit (vgl. S. 107).

Am Anfang der Odyssee stand die Flucht von geschätzt einer halben Million Frauen, Kindern und Männern vor den im Bürgerkrieg siegreichen Truppen Francos nach Frankreich. Ende 1939 befanden sich, um die Größenordnung zu verdeutlichen, noch etwa 200.000 Spanierinnen und Spanier im französischen Exil ‒ viele davon waren unter erbärmlichen Bedingungen in Internierungslagern im Süden Frankreichs untergebracht (vgl. S. 15). Den wehrfähigen Männer eröffnete sich die Möglichkeit, sich der französischen Armee zur Verfügung zu stellen, um den Lagern zu entkommen. Die Optionen waren: Eintritt in die Fremdenlegion, in die RMVE (Régiments de Marche de Volontaires Étrangers) oder in die CTE (Compagnies de Travailleurs Étrangers).

Die Spanier, die zwischen 1940 und 1943 im KZ-Dachau inhaftiert wurden, gehörten überwiegend zu den Kriegsgefangen nach dem Sieg der Deutschen Wehrmacht über Frankreich. In der Mehrzahl hatten sie in den Jahren 1939 und 1940 zur Verteidigung der Dritten Französischen Republik beigetragen. An der Befestigung der Maginot-Linie kamen geschätzt 50.000 Spanier zum Einsatz (vgl. S. 16).

Die circa 500 Spanier, die 1944 nach Dachau deportiert wurden, sind in ihrer Mehrzahl dem Widerstand gegen das Vichy-Regime und gegen die deutsche Besatzung zuzurechnen. Sie wurden aus französischen Gefängnissen, Internierungslagern und französischen KZs in das KZ Dachau und das Außenlager Allach verschleppt, wo sie dann als Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie eingesetzt wurden (vgl. S. 40). Sie machen selbstverständlich nur einen kleinen Teil der spanischen Frauen und Männer aus, die im Widerstand aktiv waren und in nationalsozialistische Konzentrationslager deportiert wurden.

Nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 schloss sich für viele der überlebenden Spanier erneut eine Zeit des Exils in Frankreich an, da das Franco-Regime von den Alliierten am Ende des II. Weltkriegs nicht gestürzt wurde und im Zuge des Kalten Krieges international sogar zunehmend aufgewertet wurde. Eine Rückkehr nach Spanien war für die meisten der ehemaligen KZ-Häftlinge mit einem hohen Risiko verbunden, erneut verfolgt, inhaftiert oder sogar ermordet zu werden. Der französische Staat seinerseits schenkte der «Notlage der spanischen Überlebenden insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit» (S. 90). Die staatliche Unterstützung ehemaliger KZ-Häftlinge beschränkte sich auf die, die zuvor für die französische Armee tätig gewesen waren. Die Widerstandskämpfer, die das KZ Dachau überlebten, waren von staatlichen Zuwendungen ausgeschlossen (S. 95). Für viele endete das erzwungene Exil erst mit dem Tod des Diktators im Jahre 1975. Inzwischen sind alle spanischen Zeitzeugen, die das KZ Dachau überlebten, verstorben (S. 109).

3. Einige Details und einige offene Fragen

3.1 Verschleppung in das KZ Mauthausen und Verlegung einiger Häftlinge nach Dachau

Der gegen Deutschland verlorene Krieg bedeutete weit mehr als eine Million französische Kriegsgefangene. Die meisten davon wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Die spanischen Kriegsgefangenen hingegen wurden in den KZ-Komplex Mauthausen-Gusen deportiert. Die Bedingungen der Zwangsarbeit, die schlechte Versorgung, die Gewalttätigkeit der SS-Aufseher und gezielte Mordaktionen sind dafür verantwortlich, dass so wenige Menschen das Lager überlebten. Bis Ende 1941 wurden 7.200 Spanier in diesen KZ-Komplex verschleppt, von denen bis Ende 1943 beinahe zwei Drittel verstarben (vgl. S. 17f.). Eine vergleichsweise kleine Anzahl spanischer Häftlinge wurde zwischen 1940 und 1943 aus Mauthausen-Gusen in das KZ Dachau verlegt.

Einige Fragen in diesem Zusammenhang, die Meerwald anspricht, sind in der Forschung noch nicht ganz geklärt. Warum wurden die spanischen Kriegsgefangenen nicht entsprechend dem Kriegsgefangenenrecht behandelt, sondern als Staatenlose nach Mauthausen deportiert? Warum wurden alle spanischen Kriegsgefangenen nach Mauthausen deportiert? Was waren die Gründe, spanische Häftlinge von Mauthausen nach Dachau zu verlegen? Für die erste Frage gibt es eine plausible Annahme: Die Vernichtung republikanischer Spanier im Inland und im Ausland war ein Ziel Francos, das er auch nach dem Sieg im Bürgerkrieg weiter verfolgte. Die Verschleppung der spanischen Kriegsgefangenen in deutsche KZs entsprach diesem Interesse. Zu dem Zeitpunkt erwartete Nazi-Deutschland noch, Spanien würde an seiner Seite in den Zweiten Weltkrieg eintreten. Wie genau der Verständigungsprozess zwischen den Diktaturen über den Umgang mit den Spaniern in deutscher Kriegsgefangenschaft ablief, ist wissenschaftlich noch nicht gänzlich geklärt (vgl. S. 17.).

3.2 Zwangsarbeit und Auflösung der Lager und Gefängnisse in Frankreich

Auf dem Höhepunkt des Krieges wurde Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie immer wichtiger, und das hatte auch Auswirkungen auf die KZs. Meerwald sieht Albert Speer als «treibende Kraft hinter der seit 1942 radikal betriebenen Ökonomisierung des KZ-Systems» (S. 54). Im Zuge dieser Neuausrichtung wurde der politisch gefährliche «Rotspanier» zum nützlichen Zwangsarbeiter umgedeutet (vgl. S. 106). Das Interesse am Erhalt der Arbeitskraft brachte eine gewisse Verbesserung der Versorgung der Häftlinge mit sich.

Nicht wenige Spanierinnen und Spanier, die sich zu diesem Zeitpunkt in Frankreich aufhielten, wollten weder in den Arbeitsbrigaden des Vichy-Regimes, den Groupements de travailleurs étrangers, arbeiten, noch für die OT, die Organisation Todt. Sie zogen es vor, in den Untergrund zu gehen und im Widerstand gegen das Vichy-Regime und die deutschen Besatzer aktiv zu werden (vgl. S. 38f.). Wurden sie gefasst, kamen sie in der Regel in französische Lager und Gefängnisse.

In mehreren mörderischen Transporten wurden sie (mit vielen anderen) 1944 mit Zügen nach Deutschland verschleppt. Bei dem Transport aus dem französischen KZ Royallieu nach Dachau am 29.6.1944, dem traurig berühmten train de la mort, kamen von den 2.162 Deportierten (darunter 65 Spanier) 984 während des Transports um (vgl. S. 43-45). Der Rationalisierungswille der Kriegswirtschaft wurde offenkundig durch menschenverachtenden Vernichtungswillen konterkariert. Es kann bezweifelt werden, dass die bei Meerwald dokumentierten Transporte noch primär der Zufuhr von Zwangsarbeitern für die Rüstungsindustrie dienten. Angesichts des unabweisbaren Vorrückens der Alliierten war die Auflösung der Lager und Gefängnisse, ohne Rücksicht auf Menschenleben, womöglich zum vorrangigen Ziel geworden.

3.3 Zu den Überlebensbedingungen der spanischen Häftlinge in Dachau

Meerwald geht auch auf die Überlebensbedingungen der spanischen Häftlinge in Dachau ein. Drei Faktoren verbesserten die Lage: von außerordentlicher Bedeutung war erstens die Unterstützung und Solidarität der zahlreichen Interbrigadisten, also der Freiwilligen, die an der Seite der II. Spanischen Republik im Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden gekämpft hatten. Die Interbrigadisten wurden ebenso wie die Spanier im KZ Dachau als «Rotspanier» kategorisiert. Zusätzliche Informationen zur Anzahl sowie der politischen und sozialen Zusammensetzung der für die Spanier so wichtigen Interbrigadisten im KZ Dachau zu erhalten, wären für das Gesamtbild der Lage der Spanier im KZ Dachau durchaus interesssant gewesen.

Den Spaniern gelang es zweitens im KZ, ein geheimes Kommunikations- und Hilfsnetzwerk zu unterhalten. Der Häftlingsarzt Vicente Parra Bordetas war von außerordentlicher Bedeutung für dieses Netzwerk – als Arzt, der viele Leben retten konnte, und als Kopf des Netzwerks (vgl. S. 72).

Drittens «verflüchtigten sich die Differenzen» der unterschiedlichen politischen Organisationen (stalinistische Kommunisten, antistalinistische Marxisten, Sozialisten, Anarcho-Syndikalisten) im KZ (vgl. S. 63). Unklar bleibt an dieser Stelle, wie groß die einzelnen Gruppen jeweils waren. Da die spanische Republik nicht nur von revolutionären, linken Kräften verteidigt wurde, sondern auch von Anhängern bürgerlicher Positionen und von loyalen Militärs, wäre eine Erörterung der Frage, inwieweit auch nicht-linke republikanische Positionen unter den KZ-Häftlingen vertreten waren, durchaus sinnvoll.

3.4 Exil

Nach der Haft, im französischen Exil, löste sich die angesprochene Einigkeit wieder auf. Das spiegelt sich in der Vielzahl der Überlebendenverbände, die im Exil gegründet wurden. Die FEDIP (Federación Española de Deportados e Internados Políticos) war der stärkste der Verbände. Die spanischen Kommunisten gründeten einen eigenen Verband, der sich mit der Linie des PCE (Partido Comunista de España) im Moskauer Exil auseinandersetzen musste, die den Überlebenden der KZs unterstellte, mit den Deutschen kollaboriert zu haben (vgl. S. 94).

Eine dem gegenüber versöhnliche Exil-Geschichte, die Meerwald aufgreift, spielt in München. Nicht alle befreiten spanischen Häftlinge gingen nach Frankreich. Einige verschlug es auch nach München. Dort im Nymphenburger Stadtschloss residierte damals die philanthropisch und karitativ eingestellte spanische Prinzessin María de la Paz von Bourbón und zu Borbón (verheiratet mit Ludwig Ferdinand von Bayern). Einige spanische Überlebende des KZ Dachau gingen auf sie zu mit der Bitte um Unterstützung, die ihnen auch gewährt wurde. Im Gegenzug reparierten die «Rotspanier» das bombengeschädigte Stadtschloss und fanden «ausgerechnet in der Münchener Residenz der Wittelsbacher eine neue Heimat» (S. 85). Nach dem Tod der 84-jährigen Infantin am 3.12.1946 endet diese denkwürdige Geschichte (vgl. S. 84-86).

4. Fazit ‒ Gegen das Vergessen

Das Buch füllt eine Lücke in der Forschung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und liefert einen weiteren Mosaikstein für die historische Erinnerung an die Opfer der Franco-Diktatur, die Flucht, Internierungslager, Zwangsarbeit, KZ Dachau und Exil erlitten. Geschichtliches Faktenwissen und persönliche Aufzeichnungen der ehemaligen KZ-Häftlinge werden in der Arbeit so verwoben, dass einer Reduzierung der Häftlinge auf eine reine Opferrolle entgegengewirkt wird. Das gelingt zum einen dadurch, dass die Namen der Häftlinge nach Möglichkeit genannt werden und «den Stimmen der Verfolgten» (S. 14) über entsprechende Zitate Präsenz verschafft wird. Das gelingt zum anderen dadurch, dass die gesamte Odyssee betrachtet wird samt Vor- und Nachgeschichte der Haft im KZ. Das unterstützt die Charakterisierung der Häftlinge als handelnde Personen, die Erhebliches zur Verteidigung der III. Französischen Republik und im Widerstand gegen die sie bedrängenden Diktaturen geleistet haben.

Meerwald schreibt sachlich und detailreich. Vielleicht liegt es gerade daran, dass er auf Heroismus und Victimismo verzichtet, dass diese Geschichte heute noch berührt und als noch nicht abgegolten deutlich wird. Eine fast vergessene Episode aus dem «Jahrhundert der Lager» (Zygmunt Bauman) historisch zu vergegenwärtigen, bedeutet Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart zu eröffnen. Das leistet Meerwald mit der vorliegenden Studie.


Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Reihe: Kleine Reihe zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; Bd. 4. Wallstein Verlag: Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5320-6 (Oktober 2022)



Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus ― Crisis de relaciones. Una historia emocional del separatismo catalán


Un libro de fácil comprensión sobre un problema difícil de comprender

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 19.10.2021), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 29.09.2022)

Entender a los catalanistas

Para quienes, de forma desprejuiciada, se interesan en Alemania por la política, no resulta fácil entender el nacionalismo catalán y su objetivo de fundar un nuevo estado nacional segregándose de España. Sobre la comprensión de lo foráneo pesa una dificultad añadida, el hecho de que en Alemania no existe actualmente ningún problema real de nacionalidades ni hay movimientos independentistas. De ahí la ausencia en Alemania de partidos políticos relevantes que pongan en cuestión los fundamentos de la constitución y, con ello, la estructura del estado. El texto publicado por la editorial Wallstein de la historiadora Birgit Aschmann, profesora en la Universidad Humboldt de Berlín, se propone hacer accesible a un público amplio el nacionalismo catalán y, específicamente, su radicalización como movimiento independentista a partir de aproximadamente 2010.

La increíble curva de crecimiento del separatismo catalán

En 1976, el primer año tras la muerte de Franco, solo un dos por ciento de los catalanes apoyaban la independencia (cf. p. 159). En el referéndum constitucional de 1978, que otorgó a nacionalidades y regiones el derecho a la autonomía, participó el 68 % de los catalanes y de ellos 90,5 % votaron a favor de la nueva constitución. Cuatro décadas más tarde, el panorama es radicalmente diferente: el presidente de gobierno de la comunidad autónoma de Cataluña, Carles Puigdemont, anunció el 10 de octubre de 2017: «Cataluña se constituye en un estado independiente en forma de república» (cf. p. 230). Es cierto que, segundos más tarde, esta declaración unilateral de independencia quedó suspendida. Pero el 27 de octubre del mismo año fue sometida a votación la declaración de independencia en el parlamento autonómico catalán, la Generalitat. La mayoría de los diputados, por entonces en manos de los separatistas, era favorable: del total de 135 diputados en el parlamento, 72 eran independentistas. En la votación celebrada el 27 de octubre, hubo 70 votos válidos pro independencia.

El proceso constitucional de un nuevo estado nacional, la República Catalana, previsto tras esta declaración unilateral de independencia, no llegó a activarse de facto. El mismo día, el gobierno catalán fue depuesto, el parlamento fue disuelto y se estableció una administración judicial basada en el artículo 155 de la constitución española. Paralelamente, se convocaron nuevas elecciones para la comunidad autónoma. Pocos días después se dictaron órdenes de detención para los principales protagonistas del movimiento independentista. Tras las elecciones del 21 de diciembre de 2017 hubo que esperar al 14 de mayo de 2018 para que se formara un nuevo gobierno en Cataluña y concluyera la administración judicial.

En aquellas fechas los partidos favorables a la independencia de Cataluña tenían una ajustada mayoría en el parlamento catalán. Ello no significa automáticamente que contaran con el respaldo de una mayoría de la población. El sistema de voto y la participación electoral deben ser tenidos en cuenta para interpretar los datos. En 2017, una mayoría separatista de escaños no se correspondía con una mayoría de votos.

A tenor de los resultados hubiera podido establecerse tras las últimas elecciones del 14 de febrero de 2021 una coalición de gobierno izquierdista, específicamente socialdemócrata. Pero ello iba contra los intereses de la mayoría separatista en el parlamento, que se aferraba al proyecto político de la independencia. En el seno de los partidos de gobierno coexistían entonces distintas opiniones sobre cómo acceder al objetivo de la independencia de Cataluña, a corto plazo o más bien a medio y largo plazo; y sobre la cuestión de si la declaración unilateral de independencia seguía siendo una opción política. Parecían existir también entre los nacionalistas catalanes separatistas no genuinos, para quienes la petición de independencia era un medio estratético para forzar al estado central a sentarse a la mesa, consiguiendo un estatus especial y ventajoso para Cataluña dentro del estado autonómico.

Desde el punto de vista jurídico se distingue a veces entre separación y secesión, consistiendo la primera en una aceptación por parte del estado central de la escisión (por ejemplo, a raíz de un referéndum legal), mientras que la segunda implica la no aceptación por el estado central de la división, como es el caso en la declaración unilateral de independencia de Cataluña en 2017. Por añadidura, un estado nuevo originado por el segundo tipo de escisión tendría comparativamente pocas oportunidades de conseguir el reconocimiento internacional.

El dinamismo del procés visto a través de la historia de las emociones

La pregunta central del libro es cómo pudo pasarse de un catalanismo político relativamente poco virulento, al menos hasta el año 2006, a este inverosímil robustecimiento del nacionalismo catalán. ¿Cómo pudo ocurrir que la construcción y profundización de la autonomía (autonomismo) dejara de ser el objetivo compartido por amplios sectores del catalanismo político, para ceder su lugar a un nuevo horizonte de expectativas, la separación de España y la fundación de un estado propio?

Para entender mejor la dinámica del procés, se esfuerza Aschmann en seguir los giros y mutaciones del catalanismo político desde sus comienzos hasta la actual situación a finales de 2020. Lo peculiar de su análisis, también si se compara con los numerosos estudios españoles acerca del procés, es la perspectiva de su investigación, centrada en la historia de las emociones (cf. pp. 15 y 160). Consecuentemente, su atención se dirige a fenómenos como la política emocional entendida como medio de dominación e instrumento de poder, a la lógica inherente a las emociones, y a la dialéctica entre construcción emocional de la comunidad y exclusión social. En la dinámica del proceso juegan un papel destacado las expectativas, decepciones, temores e ira, indignación y resentimientos.

El reciente nacionalismo catalán es percibido pues, no como un peculiar movimiento territorial, socialmente singular, sino que es puesto en el contexto más amplio de una cultura de las emociones que en las dos últimas décadas registra una apreciable transformación, caracterizada por una creciente intensificación emocional de política y sociedad. Esta transformación es entendida ―remitiendo al sociólogo An­dreas Reckwitz ― como signo de la modernidad tardía, vinculándola a fenómenos como el nacionalismo y populismo en auge, los movimientos sociales de la indignación, y la activación social en torno a cuestiones de identidad ―y en particular, también de identidades colectivas―. También desde otro punto de vista, el nacionalismo periférico catalán rehuye actuar en solitario, observando a otros nacionalismos periféricos y aspiraciones separatistas fuera de su territorio y manteniendo contacto con ellos. En España, la referencia principal es sin duda la trayectoria del País Vasco (cf. pp. 194 ss.).

El catalanismo desde sus comienzos en el siglo xix hasta el fin del franquismo

Tras la introducción, con la explicación del procedimiento y los interrogantes planteados, se procede a tratar la historia y, con ella, la historia emocional del catalanismo de forma cronológica en tres capítulos (véase al respecto el detalle del índice de contenidos en alemán). Es característico del siglo xix un regionalismo de doble identidad y la coexistencia de comunidades emocionales (capítulo II). El capítulo III describe la emergencia del nacionalismo catalán a partir de 1898 en el contexto de la historia de España y Cataluña hasta la muerte en 1975 de Franco. Este periodo comprende la monarquía hasta la dictadura de Primo de Rivera, la dictadura de Primo (1923-1930), la etapa de la segunda república y la guerra civil (1931-1939) y, por último, el largo tiempo de la dictadura de Franco, hasta 1975. Se explica cómo el nacionalismo centralista español durante ambas dictaduras no consiguió sofocar el nacionalismo periférico catalán, sino que incluso lo reforzó indirectamente. Aschmann habla de la dialéctica entre las exigencias autonómicas catalanas y el nacionalismo español (p. 68). Incluso hoy día puede detectarse una especie de acaloramiento nacionalista.

Es verdad que al comienzo de los años de la república se proclamó una república catalana «dentro de la Federación de Repúblicas Ibéricas» (1931), proclamación que fue retirada tres días más tarde; en 1934 se constituyó un estado catalán «dentro de la República Federal Española», abolido por la fuerza diez horas más tarde. Pero ninguno de los dos avances en la dirección federal llegaron a realizarse; fueron de corta duración y debidos a circunstancias históricas muy especiales. De hecho, durante la segunda república se alcanzó un estatuto de autonomía para Cataluña. A esta línea pudo darse continuidad en 1975.

Durante el franquismo se consolidó en el seno del catalanismo, según la autora, «la fuerza hegemónica del catalanismo católico», opuesto a la dictadura y unificador de los catalanes (p. 101). Es destacable también la creación de robustas organizaciones de la sociedad civil como Crist y Catalunya (1954) u Òmnium Cultural (1961) ya en tiempos de la dictadura (cf. pp. 103, 107).

El catalanismo en la democracia, 1975 a 2010: autonomismo y nation-building

En el periodo 1975-2009 (capítulo IV) tuvo lugar la aprobación de la constitución (1978) y la edificación del estado autonómico español (véase al respecto la discusión sobre derecho constitucional, reseñada en Spanienecho, en el libro de Aschmann y Waldhoff). En la comunidad autónoma de Cataluña gobernó entre 1980 y 2003 una coalición burguesa con Jordi Pujol como jefe de gobierno (presidente de la Generalitat). Hoy recibe esta era política la denominación de pujolismo, asociada a la profundización institucional de la autonomía (p. 128) en el sentido del nation-building (p. 133). Ello equivalía a una catalanización de la política lingüística, de la política mediática, de la política de educación y escuela, y, cuestión no menor, de la narrativa histórica.

Piedra angular de la revisión histórica fue la «narrativa victimista catalana», que, en su forma más abreviada se resume con las palabras de un independentista, «solo nos han dado palos» (cf. p. 187). Este punto de vista refleja el resentimiento que se nutre de repetidas derrotas (reales o imaginadas), persistentes experiencias de impotencia y la memoria activa de ello. Los rencores se combinan fácilmente con sentimientos de aversión. Para el movimiento independentista catalán fue decisiva la actualización del «resentimiento antiespañol catalán» (p. 190). Con tono moderado pero inconfundible señala Aschmann que también participaron en ello historiadores especializados: «la disposición a considerar como un hecho la opresión continuada por “España” era tanto mayor cuanto que los historiadores profesionales pusieron de su parte para hacer plausible esta tesis» (p. 187).

En 2003 sucedió a la alianza de partidos burgueses dirigidos por Pujol una coalición de izquierdas liderada por el socialista Pasqual Maragall, del PSC (Partit dels Socialistes de Catalunya). Un objetivo de este gobierno fue alcanzar un nuevo estatuto de autonomía para Cataluña en el que, entre otras cosas, Cataluña había de ser reconocida como «nación». Con ello, como expresa con cautela Asch­mann, «se tocaban ámbitos sumamente delicados de la constitución española» (p. 151).

Dado que no hubo examen preliminar sobre la constitucionalidad del estatuto de autonomía en proceso, este estatuto pudo ser aceptado en las Cortes españolas, aunque con considerables modificaciones del texto, y tras un referéndum favorable en Cataluña, entró en vigor en 2006. Seguidamente fue recurrido ante el Tribunal Constitucional por distintas instancias, destacadamente el principal partido de la oposición, el conservador Partido Popular. La decisión del alto tribunal se retrasó hasta 2010. Algunos artículos y disposiciones del estatuto fueron considerados contrarios a la Constitución. «El fracaso del intento de atribuir a Cataluña oficialmente el estatuto de “nación” fue el desencadenante de un giro político radical» (p. 160). A partir de entonces se constató un acelerado crecimiento del número de personas favorables a la independencia.

El catalanismo en democracia a partir de 2010: el procés, hijo de la indignación

Especialmente a partir de 2010 demostró la sociedad civil catalana su extraordinaria capacidad organizativa, su potencial movilizador y su llamativa creatividad. Un ingrediente fueron los «plebiscitos subversivos» (p. 168) entre 2009 y 2011, en los que casi el 60 % de los municipios catalanes votaron sobre si Cataluña debía convertirse en un «estado social, independiente y democrático en el seno de la Unión Europea» (cf. ibid.). Otro elemento fueron las manifestaciones masivas que se celebraron con ocasión del día nacional catalán, la Diada (11 de septiembre), y que pusieron en las calles, visiblemente, a cientos de miles y a veces más de un millón de personas. Aschmann subraya la significación de estas acciones performativas, colectivas, cargadas de emoción, en breve, del formar parte y contribuir activamente a ellas, para el sentimiento comunitario de los nacionalistas catalanes (p. 179). Era también inherente a la creatividad del movimiento el saber reforzar la capacidad de enganche entre sectores no separatistas de la población y de la vida pública. La exigencia del «derecho a decidir» (cf. p. 168) fue apoyada por una base más amplia que lo de los puros independentistas.

De igual importancia o incluso mayor si se contempla desde la perspectiva histórico emocional fue la transformación del emotional regime. Las dos principales organizaciones de la sociedad civil, Òmnium Cultural, encabezada por Muriel Casals, y la Assemblea Nacional Catalana (ANC), de nueva creación, con Carme Forcadell en la dirección, consiguieron, según Aschmann, revolucionar el emotional regime del movimiento y alumbrar una «revolución de las sonrisas» (revolució dels somriures). «No se trata en modo alguno de un pretendido comportamiento esencialmente “femenino”, sino de una estrategia deliberada de ambas mujeres para cosechar notables ganancias para el nacionalismo catalán en términos de simpatía en el interior y en el extranjero, aprovechando una específica gestión emocional. Ello exigía una rigurosa exclusión de emociones y prácticas agresivas» (p. 174).

Fue en 2012 cuando se hizo visible el giro decisivo desde el autonomismo al separatismo y se produjo la siguiente vuelta de tuerca independentista. En esta fase fue sintomática la novedosa colaboración de las organizaciones separatistas de la sociedad civil y el gobierno regional. El presidente Artur Mas y su partido habían apoyado hasta entonces la ampliación de los derechos y competencias de la comunidad autónoma. El fracaso en las negociaciones del gobierno regional en Madrid en torno a un nuevo acuerdo fiscal que consiguiera para Cataluña unas condiciones ventajosas, análogas a las que ya el País Vasco había conquistado (cf. p. 182), suscitó en Artur Mas un cambio de perspectiva y movió al cierre de filas con las fuerzas separatistas.

Escalada e implosión del procés

La nueva fase de escalada, minuciosamente descrita por Aschmann, prosiguió tras la Diada de 2012, cuando Artur Mas anunció «estructuras de estado para Cataluña», promovió en noviembre de 2012 con Diplocat un «servicio diplomático» para Cataluña y llamó a nuevas elecciones para fin de año, que debían tener carácter plebiscitario. En otras palabras: los votantes fueron llamados a votar por los partidos separatistas, para comisionar a esta facción el mandato de emprender nuevos pasos políticos hacia la secesión.

Bastan algunos sucintos indicios para evidenciar que el procés se encontraba ya por entonces en plena eclosión. Se iban emprendiendo más y más acciones difíciles o imposibles de armonizar con la constitución española: en 2013 proclamó el parlamento autonómico la soberanía del pueblo catalán; en 2014 tuvo lugar una consulta no vinculante (una especie de sucedáneo de referéndum de independencia); en 2015 se volvieron a celebrar elecciones de carácter plebiscitario; en junio de 2016 se decidió organizar ahora un referéndum vinculante sobre independencia; en septiembre de 2017 siguieron leyes preparatorias de la independencia; y en octubre de 2017 se llegó al referéndum y la proclamación de la república catalana.

A continuación, se produjo lo que ya arriba se ha indicado. Aschmann habla de una «virtual implosión silenciosa del procés» (p. 240). El hecho de que apenas hubiera violencia y que la intervención del estado central discurriera pacíficamente puede explicarse apelando al régimen emocional, al que iba aparejada de forma muy decisiva la no violencia, pero también a que los separatistas carecían de nociones precisas sobre los pasos y procedimientos ulteriores al momento de la declaración de independencia (cf. p. 241).

A ello se añade que también el gobierno central (tras su intervención violenta el día del referéndum del 2 de octubre) había aprendido que las fotos difundidas en los medios internacionales de policías dando golpes dañaban su imagen. Aschmann sugiere que las cosas pudieran haber sucedido de otro modo: «Era del todo desconocido qué hubiera pasado si en esta situación cargada de tensión se produjera el encontronazo entre elementos catalanes y españoles dispuestos a la violencia» (p. 242).

Resumen y observaciones finales

La autora proporciona en 250 páginas la mejor presentación hasta la fecha del catalanismo político desde sus comienzos hasta 2020 (para un público alemán). El tono es objetivo, la exposición concisa y el lenguaje pegadizo. La metodología elegida, basada en la historia emocional, demuestra cualidades como hilo conductor a lo largo del sucederse dinámico del procés. Parece también adecuada para llegar a un público amplio.

Como resultado, se ofrece una visión crítica, desde distintos ángulos, del movimiento independentista. Desde el punto de vista jurídico parecen problemáticas las vulneraciones separatistas del articulado de la constitución de 1978, así como el desacato de decisiones del tribunal constitucional. En cuanto a la objetividad, la reelaboración separatista de la narrativa de la historia hispanocatalana es problemática porque en muchos de sus puntos no puede comprobarse científicamente.

Han de añadirse dos notas críticas sobre la visión acerca de la democracia de los separatistas, que se consideraban a sí mismos ejemplarmente democráticos. Por un lado, Aschmann censura la falta de respeto de los separatistas hacia las reglas de juego del parlamento catalán (en particular durante la fase acalorada del procés, 2016 / 2017). Por otro lado, alude al déficit democrático del movimiento, que estriba en que los partidos separatistas, sobre la base de una exigua mayoría de escaños en el parlamento autonómico, se sentían autorizados a decidir unilateralmente en nombre de todos los catalanes (y todos los españoles) en una cuestión tan fundamental y tan decisiva para el futuro.

Un análisis histórico emocional, como el que aquí se dedica al procés, debe ser consciente del riesgo de atribuir especulativamente sentimientos que apenas pueden demostrarse empíricamente. Para el periodismo político, esto no es un problema, pero para la ciencia puede llegar a serlo. Un ejemplo: ¿qué sentimientos se apoderaron de Carles Puigdemont el día anterior al voto sobre la declaración de independencia del 27 de octubre de 2017? Según la autora «podrían haberse instalado en Puigdemont una confrontación entre miedos: el miedo a las consecuencias políticas, sociales y económicas de la independencia se enfrentaba al miedo ante el propio final de su carrera política y el desasosiego por la posible difamación de su persona» (p. 235). Ello es posible, pero lo desconocemos. Cabe añadir que la etiqueta de sentimiento elegida, «miedo», contiene también una componente de sugestión. En términos de enunciado (el miedo a las consecuencias de la independencia) podría también haberse elegido la expresión «sentimiento de responsabilidad», lo cual hubiera sonado diferente. Posiblemente, para tratar del procés y sus protagonistas, la responsabilidad sería la categoría políticamente más productiva.

Se puede dar por alcanzado el objetivo del estudio, de enfoque preciso, «analizar la lógica propia de las emociones, y consecuentemente entender lo sucedido, al menos retrospectivamente» (p. 15). Pero al mismo tiempo, ha sido la exitosa exploración de los mecanismos de escalada lo que despierta el deseo de comprender mejor y de otra manera aquello que caracteriza y motiva social, política y económicamente a las personas que se comprometieron con el movimiento independentista. Este desiderátum puede cifrarse para terminar en dos bloques de preguntas. Uno aborda el «resentimiento antiespañol»; el otro, los factores sociales que dieron un giro favorable a la causa catalanista.

En el libro se introduce el «resentimiento antiespañol» y el odio que se alimenta de él. Quedan en el aire las preguntas: ¿contra quién se dirige realmente este odio? ¿contra el gobierno central en Madrid en aquellas fechas? ¿contra cualquier gobierno en Madrid? ¿contra el sistema político? ¿contra los procedentes de otras partes de España que viven en Cataluña y que desean ser a la vez catalanes y españoles? ¿está confinado el resentimiento en los planos retórico-discursivos o se manifiesta en la vida cotidiana a través de prácticas en consonancia? ¿puede demostrarse la discriminación (presunta o real) de los no separatistas por los catalanistas en el día a día? Y, dicho de otra manera, ¿cómo se plasma en la vida cotidiana la opresión (presunta o real) de los catalanes, específicamente de los separatistas, a manos del estado central?

Este bloque de preguntas, que sondea la vida cotidiana de Cataluña, requiere investigaciones empíricas, así como el segundo bloque de preguntas, que apunta al sustrato social y los intereses de los agentes. ¿A qué círculos de personas seduce el separatismo, y a que intereses económicos va ligado? Aschmann da unas indicaciones iniciales sobre dónde es fuerte el movimiento independentista: algunos bastiones urbanos como Gerona en el nordeste catalán, y municipios del interior (cf. p. 169). Sería deseable dar pasos adicionales para describir la estructura del movimiento atendiendo a distribución de edades, nivel educativo, ingresos y posición social. ¿El catalanismo radical es más bien un fenómeno de clase media, o un movimiento transversal que se nutre de todas las capas sociales? ¿cuál es la caracterización social de los que no votan a los partidos separatistas o de los que se abstienen? ¿cuál es la actitud de las elites económicas y las familias catalanas hegemónicas ante el procés y cómo influyen sobre él? Tales cuestiones, es verdad, no recaen en principio en la órbita de la ciencia histórica, sino en la de otras ciencias sociales y el buen periodismo. Si ya existen investigaciones en esta línea en España, y en particular en Cataluña, sería de extraordinaria oportunidad dar a conocer también entre el público alemán sus resultados.

El procés no ha concluido. Lo que demuestra de forma impresionante el trabajo de Birgit Aschmann y lo que debe tenerse en cuenta para el futuro del conflicto es que pueden ocurrir muchas cosas y ni siquiera lo inverosímil puede ser descartado.


Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1

[Birgit Aschmann: Crisis de relaciones. Una historia emocional del separatismo catalán. Gotinga: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1]

El texto puede conseguirse en la editorial también como e-book en formato pdf.

Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur

Gegen den Strich und gegen den Mainstream: neue Perspektiven, neue Einsichten

Rezension von Knud Böhle

1. Was zum Autor und seinem Buch eingangs zu sagen ist

Die vorliegende Geschichte der spanischen Literatur ist ein sehr persönliches Buch geworden. In gewisser Weise bietet es eine Summa der Lese-, Lehr- und Lebenserfahrungen eines Literaturwis­senschaftlers, der mehr als 50 Jahre zur spanischen Literatur geforscht und gelehrt hat. Zuletzt, von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2017, lehrte er spanischsprachige Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Mehrere Jahre war er zudem Präsident des Deutschen Hispanistenver­bandes. Viele spanische Autoren und Autorinnen lernte er persönlich kennen, darunter Juan Goyti­solo, «der kreativste Autor des 20./frühen 21. Jahrhunderts» (S. 336), und die hoch geschätzte, 2021 verstorbene Erfolgsautorin Almudena Grandes. Auf beide kommt Ingenschay mehrfach aus­führlich zu sprechen.

Die Grundstimmung des Buches ähnelt atmosphärisch einem Kamingespräch, bei dem ein erfahre­ner Hispanist seine Ansichten und Einsichten in nicht zu strenger Form, darum Anekdotisches und Privates einflechtend, weitergeben möchte. Susanne Zepp, derzeit Vorsitzende des Deutschen Hispanistenverbandes, spricht in ihrem kurzen Vorwort vom «biographisch-reflexiven Ansatz» des Au­tors (S. V). Angesprochen fühlen dürfen sich alle Leserinnen und Leser jedweden Geschlechts, die sich für die Literatur Spaniens – auch jenseits von «Höhenkamm-Literatur» (S. 4) und Main­stream – interessieren.

Auf der persönlichen Website des Verfassers ist zu erfahren, dass er sich in seinen Forschungen be­sonders mit zeitgenössischer Literatur, dem Themenfeld Gender Studies/ Gay Studies/ LGBTIQ+ Studies, dem Thema Großstadtliteratur sowie theaterästhetischen Problemen befasst hat.  Als Hochschullehrer ist er selbstverständlich auch bestens mit der Barockliteratur des «goldenen Zeitalters» vertraut. Das spezialisierte Fachwissen kommt in seiner Literaturgeschichte entsprechend stark zum Tragen.

2. Was den Ansatz des Buches und seine Struktur ausmacht

Eine auf Vollständigkeit abzielende Geschichte der spanischen Literatur vorlegen zu wollen, zumal als Einzelperson, wäre ein vermessenes Unterfangen. Daraus hatte Hans Ulrich Gumbrecht, übri­gens einer der Gutachter der Dissertation von Ingenschay, bereits 1990 die Konsequenz gezogen, und bewusst «Eine Geschichte der spanischen Literatur» vorgelegt. Der Vorteil einer solchen Ein­schränkung liegt auf der Hand: die eigenen Vorlieben, Forschungsperspektiven und Interessensc­hwerpunkte, also das wovon er oder sie am meisten versteht, können in den Vordergrund rücken. Der Nachteil, der dafür in Kauf zu nehmen ist, liegt zwangsläufig bei einem Verlust an Systematik und Abdeckungsgrad. Etwa 30 Jahre nach der Literaturgeschichte von Gumbrecht, und wieder kurz vor einer Buchmesse mit Spanien als Ehrengast und entsprechendem Schwerpunkt, wurde nun «Eine andere Geschichte der spani­schen Literatur» veröffentlicht.

In der Einleitung verdeutlicht der Verfasser sein besonderes Interesse an der Überschreitung (Transgression). Ihm ist daran gelegen, die konventionellen Perspektiven, Herangehensweisen und Interpretationsmuster zu hinterfragen und Alternativen anzubieten:

Die allgemeinste Formel, welche die Kapitel eint, ist die der Transgression, einer Trans­gression, die oft von einer Lektüre «gegen den Strich» ausgeht, nicht nur gegen den Strich des literarischen Höhenkamms, sondern insgesamt gegen den Strich herkömmlicher Betrachtungsweisen der spanischen Literatur (S. 3).

Ingenschay präzisiert weiter, worauf es ihm ankommt:

Es kann natürlich nicht darum gehen, historische Achsen oder Entwicklungslinien zu leugnen, sondern darum, unentdeckte Bezüge aufzuzeigen, subjektive Sichtweisen vorzuschlagen und andere Prioritäten, alternative Verbindungslinien als die des chronologischen Verlaufs zu un­terstreichen, etwa die der transgressiven Artikulation ästhetischer Sachverhalte, die zentrale Rolle der Fragen von Gender und Macht, oder die Interdependenz von Politik und literarischem Diskurs (S. 10).

Die zehn Kapitel (siehe die Hauptüberschriften in Tabelle 1) können für sich stehend als Essays ge­lesen werden. Erst über das Netz an übergreifenden Bezügen jedoch, wird daraus eine Literaturge­schichte.


  1. Ein Land voller Poesie. Lyrik vor und nach und während der «Generation von 1927» Cervantes und die Transgressionen
  2. Krisen und Chancen: von 1898 zu 2010
  3. Der Bürgerkrieg und seine Traumata. Historisches Gedächtnis und Erinnerungspraxis
  4. Von Madrid zum Himmel? Madrid-Literatur zwischen madrileñismo und Gesellschafts­kritik (Pérez Galdós, Cela, Grandes)
  5. Begehren und Aufbegehren. Literarische Dokumente des Transgressiven
  6. Lorca und die Missverständnisse
  7. Verunsicherte Geschlechterordnung und zweifelhafte (Mannes)-Ehre im Barockdrama (Calderón de la Barca, Lope de Vega, Tirso de Molina)
  8. Literatur aus und in den autonomen Regionen – zur Diversität der spanischen Literatur und zur Frage nach dem Ort jüdisch-spanischen Schreibens heute
  9. LGBTIQ+-Themen in der spanischen Literatur
  • Literaturverzeichnis
  • Namensregister

Tabelle 1: Oberste Ebene des Inhaltsverzeichnises.
Bei der Deutschen Bibliothek ist das detaillierte Inhaltsverzeichnis abrufbar:
https://d-nb.info/1249017742/04


Die sich durchziehenden Fäden werden über Autoren, intertextuelle Bezüge und Themen zu einem Netz gespannt. Beispielsweise werden Werke von Almudena Grandes in mehreren Kapiteln erörtert: in Kap. 6, in dem es um Begehren und Aufbegehren in der von Frauen geschriebenen Literatur geht, in Kap. 5 zur Madrid-Literatur und in Kap. 4, das die Bürgerkriegsliteratur behandelt. Von Juan Goytisolo kommt im Bürger­kriegskapitel ein Werk zur Sprache und in Kap. 10 zur LGBQTI+-Lite­ratur ein anderes.

Ein intertextueller Pfad geht z.B. von dem in Spanien bekannten, katholisch-mystisch-erotisch ge­prägten Barockgedicht des Johannes vom Kreuz (1542-1591) «En una noche oscura…» aus.

In ei­ner dunklen Nacht / mit sehnsuchtsvollem Bangen in Liebe entflammt / o glückliches Geschick! / ging ich hinaus, unbemerkt / da mein Haus schon in Ruhe dalag. […] O Nacht, die du vereintest / Geliebten mit Geliebter / Geliebte in den Geliebten verwandelt! […] (vgl. S. 36).

Dieser Pfad führt zunächst weiter zu einer parodistisch homoerotischen Variante des Gedichts von Jaime Gil de Biedma. Diese war 1983 im Kontext der movida entstanden, also jener zum Teil schrillen kulturellen Explosion Spani­ens nach Francos Tod. Bei Juan Goytisolo findet sich der Ausgangsstoff wenige Jahre später wieder in dem Roman «Die Reise zum Vogel Simurgh» (dt. 2012, Orig.: Las virtudes del pájaro solitario, 1988). Die Zei­ten haben sich geändert. AIDS kursiert. Im Licht von Eros und Thanatos und im Geiste von San Juan de la Cruz hat Goytisolo den Stoff neu durch- und umgearbeitet. Thematisch geht es bei Ingen­schay immer wieder, von Cervantes bis zur Gegenwart, um sexuelles und insbe­sondere um nicht-heterosexuelles Begehren.

Im Rückblick auf die 10 Kapitel des Buches insgesamt, lassen sich zwei Hauptachsen unterschei­den. Die erste Achse dreht sich um das Aufbegehren gegen das Konforme, gegen die herrschenden gesellschaftliche Normen. Die Auf­merksamkeit gilt sexuellem Begehren, Transgressionen und gen­der trouble. Es geht komplementär aber auch um den gesellschaftlichen Umgang mit Abweichung­en von der Norm, und das bedeutet im besten Fall die Anerkennung von Diversit­ät. Am «Don Quijote» des Miguel de Cervantes wird die humanistische Toleranz dann konkret auf­gezeigt.

Diversität in einem weiten Sinne verstanden als das Einbeziehen des von der dominanten Kultur Ausgegrenzten bedeutet für die vorliegende Literaturgeschichte unter anderem, dass Literatur von Frauen stark vertreten ist (namentlich im Kap. 6 mit Emilia Pardo Bazáns, Carmen de Burgos, Al­mudena Grandes, Najat El Hachmi, Rosa Montero). Im LGBTIQ+Kapitel (Kap. 10) sind es dann insbesondere Werke nicht-heterosexueller Autoren, die vorgestellt werden (Juan Goytisolo, Álvaro Pombo, Eduardo Mendicutti, Luis Antonio de Villena, Terenci Moix, Luisgé Martín). In diesem Ka­pitel findet auch die so genannte dekadente Literatur der Jahrhundertwende ihren Platz.

Diversität zeigt sich auf einer anderen Ebene darin, dass die Literaturen Kataloniens, des Basken­landes und Galiziens sowie die sephardische Literatur extra behandelt werden (Kap. 9). Sephardi­sche Literatur meint hier sowohl die Werke, die in der sephardischen Diaspora entstanden als auch spanische Literatur mit jüdischer Thematik (z.B. die historischen Romane von Carme Riera zur Ver­treibung der Juden aus Spanien) und schließlich auch die Arbeiten aktueller spanischer Autoren mit sephardischem Hintergrund.

Bei der zweiten Achse geht es um die Verarbeitung von politisch-gesellschaftlichen Krisen und Trau­mata in der spanischen Literatur (Kap. 3 und 4). Ingenschay geht auf die Krise nach dem Ver­lust der Kolonien 1898 (Kuba und Philippinen) und den zugehörigen Diskurs der «Generation von 98» (la Generación de 98) ein. Aber auch das literarische Echo der jüngeren Krisen, Katastrophen und Konflikte nach dem Ende der Franco-Diktatur wird aufgegriffen (versuchter Staatsstreich vom 23. Februar 1981, islamistisches Attentat auf die Madrider Vorortzüge am 11. März 2004 und die Fi­nanz- und Bankenkrise mit ihren sozialen Folgen ab 2008).

Dem Bürgerkrieg und seinen Traumata wird ein eigenes Kapitel gewidmet, das von den Jahren des Bürgerkriegs (1936-1939) über Exil und «inneres Exil» im Franquismus bis in unsere Tage reicht. Den Boom der neueren spanischen Bürgerkriegsliteratur sieht Ingenschay zwischen 1985 und 2010, mit einem Höhepunkt ab dem Jahr 2000 mit mehr als 100 Buchtiteln (vgl. S. 141f.). In den jüngeren Publikationen wird das Themenfeld Krieg und Diktatur häufig vor dem Hintergrund der politischen Debatte um die Vergangenheitsbewältigung bearbeitet, und die dabei entstehenden Werke werden selbst Teil des Streits um das historische Gedächtnis und eine angemessene Erinnerungspolitik.

3. Was diese Geschichte der spanischen Literatur so gut lesbar macht

Die andere spanische Literaturgeschichte ist außerordentlich gut lesbar. Dafür gibt es eine Reihe an Gründen. Erstens schreibt Ingenschay allgemeinverständlich und findet oft prägnante Formulierun­gen, etwa wenn er vermerkt: «Das Thema des gender trouble, des cross-dressing, der bärtigen Frau­en und der allzu sanften Männer hat im spanischen Barock Konjunktur» (S. 318).

Es gelingt ihm, zahlreiche (gefühlt mehr als 100) komplexe Werke auf wenigen Seiten, manchmal in nur wenigen Absätzen, zu resümieren und auf den Punkt zu bringen, an dem die Interpretation ansetzen kann. Weil so viele Titel besprochen werden, kann das Buch auch als anregender Literatur(ver)führer dienen. Berücksichtigt werden häufig AutorInnen, deren Werke ins Deutsche übersetzt wur­den. Für ein deutsches Publikum ist es ein nützlicher Service, dass die deutschsprachi­gen Ausgaben im Literaturverzeichnis ausgewiesen sind. Um hier einige der in Deutschland be­kannteren noch lebenden AutorInnen aufzurufen, mit deren Werken sich das Buch befasst: Fernando Aramburu, Bernardo Atxaga, Najat El Hachmi, Rosa Montero, Antonio Muñoz Molina, Carme Rie­ra, Manuel Rivas, Isaac Rosa.

Was die AutorInnen angeht, werden häufig biografische Details und Anekdotisches eingearbeitet. Als kleines Beispiel sei eine Passage über Álvaro Retana (1890–1970) gewählt, der ein herausra­gender Vertreter der dekadenten Literatur Spaniens war.

Sich selbst bezeichnete der Autor, der gern einen rosafarben bestickten Umhang trug, gelegent­lich als den «schönsten Romancier der Welt» (el novelista más guapo del mundo). Auch er stand im Bürgerkrieg dezidiert auf republikanischer Seite (und schaffte sich einen seidenen Blaumann an, um sich ein arbeiter-affines outfit zu geben). Prompt wurde er (wegen des Besitzes katholi­scher Kultgegenstände) verhaftet und verurteilt, und nur Papst Pius XII., Hochhuths notorischer «Stellvertreter», konnte eine Umwandlung der Todesstrafe in einen Haftaufenthalt bewirken, der bis 1948 dauerte (S. 379).

Dass Ingenschay persönliche Erfahrungen und Begegnungen, angenehmer und weniger an­genehmer Art, mit Schriftsteller*innen und Fachkollegen einfließen lässt, ist ein weiteres Stilmittel.

Ein anderes belebendes Element ist die hin und wieder bewusst kontrastierende Auswahl der be­sprochenen Werke. So wird z.B. im Zusammenhang mit dem Staatsstreichversuch vom 23. Februar 1981 einmal das Geschehen aus dem Erleben eines Transvestiten heraus beschrieben, der sich vor der Rückkehr der Diktatur fürchtet (Eduardo Mendicutti: Una mala noche la tiene cualquiera, 1982). Dem wird eine dokumentarisch-fiktionale Darstellung entgegengesetzt, bei der führende Po­litiker der transición die Hauptpersonen sind (Javier Cercas: Anatomía de un instante, 2009; dt. Anatomie eines Augenblicks, 2009). Ein zweites Beispiel stammt aus dem Abschnitt über die kata­lanische Literatur: Eine Dreiecks- bzw. Ehebruchgeschichte von Montserrat Roig, bei der eine aus Andalu­sien stammende Frau eines katalanischen Metzgers sich in einen katalanistischen Aktivisten ver­liebt, wird kontrastiert mit einem Roman von Juan Marsé, in dem eine Katalanin mit katalani­schem Gatten, diesen mit einem Andalusier betrügt (vgl. S. 341).

Der deutschen Leserschaft entgegenkommend werden zwei Deutsche mit starkem Spanienbezug über zwei kleine Exkurse ins Spiel gebracht. Ingenschay zeigt, dass der Versuch über die Juke­box von Peter Handke eine veritable Hommage an den Dichter Antonio Machado enthält. Ein zweiter Exkurs greift den Streit um Enrique Beck auf, den über viele Jahre allein autorisierten Übersetzer Lorcas ins Deutsche (ab 1946), dessen Übertragungen häufig kritisiert wurden, wie etwa in dem Hans-Magnus Enzensberger zugeschriebenem Urteil deutlich wird: «Lorca sei in der Beck’schen Version eine ‹Art Zigeunerba­ron aus Granada›» (vgl. S. 286).

Nebenher wird auch noch hispanistisches Grundwissen vermittelt. Das nötige Fachvokabluar wird im jeweiligen Kontext knapp erläutert (einschlägig: gruegería, tremendismo, esperpento, costum­brismo, madrileñismo, Krausismo, Generación del 98, Generación del 27). Bei den Werkinterpretat­ionen geht Ingenschay häufig von anerkannten Interpretationen anderer Hispanisten aus und stellt diesen seine Sicht entgegen, ‒ aber ohne sich dabei zu sehr auf seine Meinung zu ver­steifen, und ohne die Leserinnen und Leser zu sehr in Fachkontroversen oder Theorienstreit hinein­zuziehen.

4. Exemplarische Befunde aus vier Kapiteln zeigen, was diese Literaturgeschichte leisten kann

Aus der Fülle der in den zehn Kapiteln gebotenen Informationen und Befunde werden in diesem Abschnitt nur einige wenige Beispiele herausgezogen und kurz besprochen: aus dem Kapitel über Cervantes (Kap. 2) werden Einsichten zu den «Ex­emplarischen Novellen» vorgestellt, aus dem Ka­pitel über das Drama im Barock (Kap. 8) werden Erkenntnisse zum «Ehrbegriff» wiedergegeben, aus dem Kapitel zu Federico Garcia Lorca (Kap. 7) werden Hinweise auf dessen Innovativität als Lyriker und Bühnendichter aufgegriffen und bei dem Kapitel zur Madrid-Literatur (Kap. 5) wird das Augenmerk auf den jeweiligen Einbezug der Stadt Madrid in den Romanen vom Realismus bis zur Postmoderne gelegt.

4.1 Zu den «Exemplarischen Novellen»

Im Kapitel über Cervantes, das dankenswerterweise alle Werke anspricht und keineswegs nur den Quijote, zeigt die Analyse der «Exemplarischen Novellen», wie ergiebig eine Lektüre gegen den Strich sein kann. Liest man nämlich diese Erzählungen genauer, so findet man «[…] nicht nur etwas ‹Unmoralisches› in jeder von ihnen, sondern nahezu eine Orgie der Transgressionen, der Tabuver­letzungen, Elemente allesamt, die ich – vor der Folie der zeitgenössischen Werteskalen – als uner­hört klassifizieren musste» (S. 92). Das Attribut exemplarisch diente folglich nur dazu, «den für die Gattung, besonders bei Boccaccio, konstitutiven, sexuell konnotierten Skandal hinter einer Fassade moralischer Vorbildlichkeit zu verstecken» (S. 94). Ingenschay sieht hier eine «zentrale diskursive Strategie» des Autors. Offen bleibt, inwieweit es damals gängige Praxis war, den Anschein der poli­tisch-moralischen Korrektheit zu wahren, um sich dann gewisse Freiheiten herausnehmen zu kön­nen.

4.2 Zum Konzept der Ehre im Barockdrama

Zum Konzept der Ehre im Barockdrama bietet Ingenschay, gestützt auf einschlägige neuere For­schungsarbeiten, überraschende Einsichten. Meistens gilt, dass Männer sich gegenüber Frauen so ziemlich alles erlauben können, ohne Kritik oder Strafe befürchten zu müssen. So wird etwa in dem, üblicherweise Tirso de Molina zugeschriebenem Don-Juan Drama von 1619 «Don Juan oder der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast» dem Don Juan nicht der Garaus gemacht, wegen sei­nes verwerflichen Umgangs mit Frauen («… und das größte / Vergnügen, das ich kenne / ist, eine Frau zu verführen / und sie ohne Ehre zurückzu­lassen», zitiert auf S. 331). Es ist am Ende das Ver­gehen der Gotteslästerei, das den Himmel einschreiten lässt und Don Juan mit dem Tod bestraft (vgl. ebd.).

Zeitgleich taucht in dem berühmten Stück von Lope de Vega «Fuente Oveju­na» (1619; dt.: Das Dorf Fuente Ovejuna / Sein ist Schein) ein erstaunlicher Fall auf, in dem ein Adliger sich nicht mehr alles erlauben kann. Eine junge Frau wird durch den adligen Komtur des Ortes bedrängt. Durch eine flammende Rede an die Männer des Dorfes erreicht sie, dass der adlige Frauenschänder gelyncht wird. In Vergegenwär­tigung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds verschiebt sich die Sicht auf diese emanzipiert wirken­de weibliche Protagonistin. Es wird gezeigt, dass insbesondere nach dem Trien­ter Konzil die Frage der Ehre mit der limpieza de sangre (der Reinheit des Blutes) kurzge­schlossen wurde. Dadurch wur­de eine Konstellation möglich, bei der die Leute vom Lande als christliche Altspanier ihre Ehre auf Blutreinheit gründen und gleichzeitig dem Adel seine mögliche Mischung mit jüdischem oder maurischem Blut vorhalten konnten. «So geht es in Fuente Ovejuna in zeitgenössischer Perspektive nicht primär um Fragen von Emanzipation und Frauenehre in einem heutigen Sinne, sondern um eine Darstellung der Folgen des neu institutionalisierten Antisemitis­mus und der Islamfeindlichkeit im Anschluss an die Zwangskonversion oder Vertreibung der Juden nach 1492» (S. 324).

4.3 Zu Garcia Lorca und seinem Werk

Das Kapitel über Federico Garcia Lorca (1898-1936) ist nicht zuletzt deshalb lohnend, weil es Ord­nung schafft. Es behan­delt die gesamte Lyrik und die Theaterproduktion und umfasst sowohl die zu Lebzeiten als auch die posthum veröffentlichten oder auf die Bühne gebrachten Werke. Gerade die späten, selten auf­geführten Werke haben «allesamt stark experimentellen Charakter» und zeigen, «dass Lorca im Kontext der ästhetischen Wandlungsprozesse der späten 1920er Jahre eine grundle­gende Erneue­rung der zeitgenössischen Dramatik anstrebte» (S. 283). Im Bereich der Lyrik sieht In­genschay die 220 Verse lange Klage auf den Torero, Weltmann, Dandy und Schriftsteller Ignacio Sánchez Mejías, den Llanto por Ignacio Sánchez Mejías, «in ihrer spezifischen Mischung traditio­neller lyrischer Figu­ren und innovativer, idiosynkratischer Elemente als Summa der lyrischen Pra­xis Lorcas» (S. 292). Leben und Werk Lorcas werden außerdem auch mit Blick auf die Homosexua­lität des Autors analy­siert: die mal offenere, mal versteckte Präsenz der Homosexualität in den Tex­ten, die Schwierigkeit Lorcas, seine Homosexualität zu leben und die Schwierigkeiten seines dama­ligen Um­feldes, aber auch der Nachwelt der Erben, Rechteverwerter und der spanischen Gesell­schaft, offen mit der Homosexualität des Dichters umzugehen – ohne ihn im anderen Extrem gleich zur «schwulen Ikone» (vgl. S. 299ff.) hochzustilisieren.

4.4 Zur Entwicklung des Madrid-Romans

Das Kapitel über die Madrid-Literatur ist nicht nur das längste und das facettenreichste, es ist auch besonders gut durchkomponiert. Man sieht die Entwicklung der Stadt Madrid förmlich in der Lite­ratur nachvollzogen. Benito Pérez Galdós, dem Realismus zugerechnet, steht am Anfang, und er steht gleichzeitig auch für den co­stumbrismo vieler Madrid-Romane, also mit Ingenschay für die «Literalisierung des stets etwas provinziell anmu­tenden städtischen Alltagslebens mit seinen Sitten und Gebräuchen» (S. 185). Das Überschreiten der Grenzen von Stadtvierteln wird für die Personen des Romans (aufgezeigt z.B. an dem Roman «Fortunata y Jacinta» aus dem Jahre 1887) ein Über­schreiten sozialer Grenzen.

Der moderne Großstadtroman im engeren Sinn, «La colmena», stammt von Camilo José Cela und wurde zuerst 1951 in Argentinien und dann 1955 auch in Spanien veröffent­licht (dt.: Der Bienen­stock, 1964). Ingenschay betrachtet diesen Roman als den «‹Null­punkt› der modernen Aneignung Madrids» mit der charakteristischen Vereinzelung und Anonymität ihrer Bewohner.

In einer späteren Phase verlagert sich die Aufmerksamkeit dann zunehmend vom Zentrum in die Peripherie der Armenviertel. In dem 1961 erschienenen fulminanten Roman «Tiempo de silencio» von Luis Martín-Santos (dt.: Schweigen über Madrid, 1991) werden Zentrum und Peripherie bereits in Beziehung gesetzt. In späteren Romanen wie «Madrid 650» (1985) von Francisco Umbral domi­niert dann die Peripherie. Umbral hat sich in diesem Roman «von einer Stadtsemiotik, die auf die Zentralität eines innerstädti­schen Kerns setzt, verabschiedet» (S. 650).

Im Madrid-Roman «Ciudad rayada» (1998, «Die Stadt mit den Streifen») von José Ángel Mañas trifft man einen neumodernen madrileñismo an. Dem madrileñista «bedeutet die Hauptstadt nicht nur Lebensmittel­punkt, sondern Quelle der Inspiration und Objekt der Bewunderung» (S. 200). Protagonist ist ein junger Student, der vom Drogen­handel lebt. «Die Stadt dient ihm als ästhetische Inspiration, zumal er sich in seiner Freizeit Technomusik widmet. In seine Stücke hinein mischt er den Sound, der das postmoderne Madrid am bes­ten repräsentiert: den Lärm der Stadtautobahn M 30. Dies lässt sich als heimliches Leitmo­tiv der postmodernen Anverwandlung Madrids bezeich­nen» (S. 218).

Von einem begrünten Abraumhügel im Süden Madrids schaut der Student mit seiner Freundin auf die Stadt:

Es war, als ob das ein großer Bienenkorb von Irren wäre, und wir oben drauf wären und die Welt kontrollierten […] Die Wolken sahen lila aus, und die letzten Sonnenstrahlen äh­nelten den Lasern in der Disko­thek. Wir sahen das Planetarium von Atocha, und die M 30, schon erleuchtet… (Ausschnitt aus dem Zitat bei Ingenschay, S. 219).

Ingenschay reflektiert daran anschließend «die Unterschiede zwischen der Bienenstock-Metapher bei Galdós, Cela und Mañas» (S. 219), und das macht den Wandel von Stadt und Lebensgefühl noch einmal deutlich: «Während Galdós (in seinem Roman Misericordia) eine Zeile aufgereihter Wohnungen in einem armen Viertel nahe der Ronda de Toledo konkret als ‹Bienenstock› bezeich­net, drückt Cela mit dieser Metapher die ‹essenzielle› Entfremdung der verlorenen ‹Bienen› aus – in seinem Roman laufen alle Menschen gesenkten Hauptes. Mañas dagegen bedient sich des Tricks der erhabenen Perspektive, um sich Madrid hedonistisch anzuverwandeln. Mañas reinterpretiert die Bienen-Metapher also ästhetisch, unter Beimischung einer ordentlichen Prise postmoderner Stadter­fahrung» (S. 219).

5. Anmerkungen zur Behandlung der Krisenliteratur bei Ingenschay

Ohne «Mut zur Lücke» (S. 3) hätte die andere Geschichte der spanischen Literatur gar nicht ge­schrieben werden können. Das schließt nicht aus, dass manche Leserin und mancher Leser, die eine oder andere Lücke bedauerlich findet. Auf solche Lücken wird im Folgenden aufmerksam gemacht. Außerdem wird hinterfragt, in wieweit der selbst gesetzte Anspruch, «die Interdependenz von Poli­tik und literarischem Diskurs» (S. 10) aufzuklären, in den Kapiteln, die sich mit den Krisen, Kata­strophen und Traumata der spanischen Ge­schichte befassen, eingelöst wird.

5.1 Krisendiskurs in Spanien Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Verlust der Kolonien

Nach dem Verlust der Kolonien, Kubas und der Philippinen, 1898 im spanisch-US-amerikanischen Krieg war eine Krisenstimmung entstanden, die intellektuell verarbeitet wurde. Dieser Kontext wird gut und ausführlich beschrieben. Dazu gehört auch die Genese der «Generation der 98er», zu der meis­tens die prominenten Schriftsteller Miguel de Unamuno, Enrique de Mesa, Ramiro de Maeztu, Azorín, Antonio Machado, Pío Baroja und Ramón del Valle-Inclán und nicht zuletzt Ángel Ganivet (als Vorläufer) gerechnet werden. Ingenschay steht auf der Seite der Literaturwissenschaftler, die in der Rede von der Generati­on der 98er eine Zuschreibung von außen sehen, ein Label unter dem man sehr unterschiedlich den­kende und schreibende Personen «zwangsvereint» (vgl. S. 111) hat, die sich nicht einmal selbst als Gruppe verstanden.

Unabhängig davon, ob das nun eine Gruppe war oder nicht, kann doch davon ausgegangen werden, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein langfristig wirkmächtiges Narrativ entstand, des­sen Kern «das kollektive Lamentieren angesichts einer ‹nationalen Katastrophe›» (S. 110) war. Dieser Diskurs wird jedoch in dieser Literaturgeschichte nicht weiter durch Werkanalysen untermauert. Das mag damit zu tun haben, dass der stark auf die Interpretation einzelner erzählerischer Werke ausgerichtete Ansatz Ingenschays die Essayistik, die typische Form für die literarische Reflexion von Ge­schichte und Politik, von Krisen und Katastrophen, weitgehend ausspart. Überraschend ist eher, dass die Romane von Azorín, Unamuno und Pio Baroja, die konkret vorgestellt werden, offen­kundig ausgesucht wurden, weil sie literarisch interessant sind. Die Chance, die Wechselbeziehung von Belletristik und öffentlich-politischem Diskurs anhand exemplarischer Werke zu klären, wird so vergeben.

Vermisst wird auch ein Hinweis darauf, dass das pessimistische, nationalistische, die spani­sche Identität suchende, jeglicher Diversität abholde Narrativ jener Jahre schon damals von liberal und plu­ralistisch denkenden Zeitgenossen wie dem Schriftsteller und Politiker Manuel Azaña durchschaut und kritisiert wurde (vgl. dazu etwa den Essay von Juan Goytisolo «El lucernario. La pasión crítica de Manuel Azaña», 2004). Insgesamt hätte etwas mehr Aufmerksamkeit für die literarische Produk­tion liberaler, linksliberaler und linker Schriftsteller dem Kapitel gut getan.

5.2 Krisendiskurs Anfang des 21. Jahrhunderts

Bei den Krisenerfahrungen nach 1975 und ihrem Niederschlag in der Literatur widmet Ingenschay sich der Literatur zum versuchten Staatsstreich vom 23. Februar 1981, dem islamistischen Anschlag auf die Madrider Vorortzüge vom 11. März 2004 und der Krise nach 2008, in der vielfältige wirt­schaftliche (Bankenkrise, Immobilienkrise, Arbeitslosigkeit …) und politische Probleme (Parteien­system, Korruption, Katalonienkrise, Vergangenheitsbewältigung …) zusammenkamen.

Die fetten Jahre sind vorbei und «es entsteht eine wuchernde Literatur der Kri­se» (S. 132). Rafael Chirbes wird dabei zu Recht als «der Wegbereiter und Hauptvertreter des Krisenromans» (S. 133) herausgestellt. Zu den Krisenerfahrungen gehört auch der sich verschärfende Katalonien­konflikt, der bei Ingenschay leider nicht verhandelt wird, obwohl es nicht wenige Romane gibt, die den kata­lanischen Nationalismus befeuern oder hoch reflektiert sich des komplexen Verhältnisses zwischen Spanien und Katalonien angenommen haben.

5.3 Boom der Bürgerkriegsliteratur

Auch bei der Behandlung der unüberschaubaren Bürgerkriegsliteratur vom Beginn des Krieges bis heute, ist der Mut zur Lücke unvermeidlich. Das gilt umso mehr als Ingenschay den Bezugsrahmen weit fasst. Außer der Literatur zum Bürgerkrieg im engeren Sinn (1936-1939) bezieht er auch die zu den ersten zwei Jahrzehnten der Franco-Diktatur (und des Widerstands dagegen) mit ein. Letztlich schließt er sogar alle Literatur mit ein, die mit der historischen Erinnerung an den Bürgerkrieg zu tun hat, auch wenn ihre Handlung in der Gegenwart angesiedelt ist. Für die Struktur des Kapitels ist die Entstehungszeit entscheidend: (1) Bürgerkriegsliteratur, die während des Krie­ges entstand, (2) Literatur, die während des Franquismus im Exil oder im «inneren Exil» bei waltender Zen­sur ver­fasst wurde und (3) die Werke, die nach Francos Tod verfasst wurden ‒ bis zur Jahrtausendwende (3a) und die des Booms danach (3b).

Bezogen auf «die Interdependenz von Politik und literarischem Diskurs» (S. 10) ist die Unterscheidung in die Romane, die bis Ende der 1990er Jahre geschrieben wurden (Phase 3a) und die des Booms ab 2000 interessant. In den Romanen der Phase 3a ist bestenfalls und «eher zaghaft eine Revision des historischen Gedächtnisses» anzutreffen (vgl. S. 164), während die Diskussionslage in der Phase 3b durch weitreichende und lautstarke Forderungen nach einer systematischen Aufarbei­tung der Vergangenheit gekennzeichnet ist.

Bei der Behandlung der Boom-Literatur nach 2000 bespricht Ingenschay wieder verschiedene Wer­ke ausführlich. Der Roman von Javier Cercas (*1962) «Soldados de Salamina» von 2001 (dt.: Sol­daten von Salamis, 2002) gehört dazu (vgl. S. 166-172; ausführliche Inhaltsangabe in der Wikipedia). Bis 2007 wurden über eine Million Exemplare davon in Spanien verkauft (vgl. S. 165). Ohne hier ins Detail zu gehen, lässt sich festhalten, dass man es, um es einmal so zu nennen, mit einem «invertierten Schlussstrich-Roman» zu tun hat. Besiegte, Gegner oder Opfer des Franquismus sind in diesen Romanen bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Kritik an der mangelnden politischen Aufarbeitung der Vergangenheit in der Demokratie wird nur sehr leise vorgebracht.

Ingenschay unterzieht den Roman einer harschen Kritik und entdeckt in dem Werk «Skan­dalöses», «Schräges» und «Frauenfeindliches». Die Kritik ist eine doppelte: der Roman wird als schlecht und dazu politisch fragwüdig, sein Autor als unzureichend sensibilisiert für Fragen des historischen Gedächtnisses eingeschätzt (vgl. S. 169). Das Merkwürdige und Frappierende ist, dass Ingenschay ausgerechnet einen Roman als Musterbeispiel der Boom-Phase nach 2000 ausgewählt hat, der offenbar noch gänzlich unberührt von der neuen Diskussionslage verfasst wurde. Er ist von daher völlig ungeeignet, das Neue der Literatur in der Phase 3b zu belegen.

Mehrere Entwicklungen, um das kurz zu erläutern, haben zu dem unbestreitbaren Wandel der Erinnerungskultur beige­tragen (vgl. grundlegend dazu die höchst lesenswerte Studie von Walther. L. Bernecker und Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Nettersheim 2008). Die Geschichtswissenschaft lieferte zunehmend Evidenz für das ungeheure Ausmaß der Re­pression im franquistischen Unrechtsregime; die «Gesellschaft zur Wiedererlangung des histori­schen Gedächtnisses» und andere Initiativen zeigten mit der Entdeckung der zahlreichen anonymen Massengräber aus der Franco-Diktatur, dass die Vergangenheit keineswegs abgeschlossen war. Nachdem die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE – Partido Socialista Obrero Español) die Regie­rungsmacht an die Volkspartei (PP – Partido Popular) hatte abgeben müssen, die ab dem Jahr 2000 mit absoluter Mehrheit regierte, begann die Linke verstärkt die Kontinuität des Franquismus in Ge­stalt des PP und in den staatlichen Institutionen zu kritisieren. In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wurde nun auch der Erinnerungspolitik und der Aufarbeitung der Vergangenheit ein größerer Stellenwert beigemessen. Nach Wiedererlangung der Regierungsmacht durch den PSOE, mit dem Ministerpräsidenten José Luis Zapatero an der Spitze, wurde das «Gesetz zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses» (Ley de la memoria histórica) im Jahr 2007 ver­abschiedet.

«Invertierte Schlussstrich-Romane», so die Vermutung des Rezensenten, waren Phänomene des Übergangs. Das Narrativ von der vorbildlichen Demokratisierung nach 1975 kam langsam an sein Ende, der neue Krisendiskurs nahm erst allmählich Fahrt auf. Der sich verändernde politisch-öffentliche Diskurs nach dem Jahr 2000 und die veränderte politische Gesamtlage in Spanien nach 2008, lassen in der Tat keine «invertierten Schlussstrich-Romane» mehr erwarten. Erklärungsbedürftig bleibt, warum Romane dieses Typs so spät auftauchen – erst über 20 Jahre nach der Verabschiedung der demokratischen Verfassung Spaniens im Jahr 1978. Das könnte so gedeutet werden, dass sie eine provisorische Form darstellen, das politisch gewollte Schweigen der ersten zwanzig Jahre nach Francos Tod zu überwinden bei gleichzeitiger Aufweichung des dichotomen «Zwei-Spanien-Motivs» (rechts-links, gut-böse, Verlierer-Sieger, Täter-Opfer). Sicher ist, dass in diesen Roma­nen nicht über die Vergangenheit ge­schwiegen wird. Ebenso sicher ist aber auch, dass sie die Vergangenheit noch nicht vom Standpunkt der verallgemeinerten Krise, zu der auch die verschleppte Vergangenheitsbewältigung gehört, betrachten.

Eine letzte Anmerkung zu diesem Kapitel: Ein Strang der Bürgerkriegsliteratur, der sich von den 30iger Jahren bis heute nachzeichnen ließe, wird leider nicht berücksichtigt. Es geht um die Anti-Kriegs-Literatur, die sich weniger für die Kriegsparteien und mehr für die Sinnlosigkeit, Grau­samkeit und Entmenschlichung, die Krieg be­deutet, interessiert. Darunter finden sich nicht wenige beeindruckende Arbeiten, die auch ins Deutsche übersetzt vorliegen (z.B. Manuel Chaves Nogales 1937: A sangre y fuego. Héroes, bestias y mártires de España; dt.: ¡Blut und Feuer! Helden, Bestien und Märtyrer im Spani­schen Bürgerkrieg 2022; Joan Sales: Incerta Glòria, katalanisches Original 1956 noch unter Zen­surbedingungen, endgültige Fassung 1971; dt.: Flüchtiger Glanz, 2015; Mercè Rodoreda: Quanta, quanta guerra, katalanisches Original 1980; dt. Weil Krieg ist, 2007) oder Alber­to Méndez: 2004: Los girasoles ciegos; dt.: Die blinden Sonnenblumen, 2005).

6. Fazit

Wer sich für die spanische Kultur, die spanische Literatur und ihre Geschichte interessiert, wird von diesem Buch nicht enttäuscht. Es bietet einen Gang durch 1000 Jahre spanischer Literaturprodukti­on und weckt dabei Interesse an einer Vielzahl von Werken und AutorInnen. Es macht andere Ge­schichten der spanischen Literatur zwar nicht überflüssig, zeigt aber neue Perspektiven der Betrachtung und Interpretation auf, holt vergessene oder verdrängte Teile der Literaturproduktion ans Licht und erweitert so das sichtbare Spektrum. Das Interesse an den Grenzüberschreitungen geht bei Ingenschay einher mit dem, wenn man so will cervantinischem Leitbild einer inklusiven Gesellschaft und der Anerkennung von Diversität. Der Schreibstil ist publikumsorientiert, klar und didaktisch durchdacht. Dass der Text auch kostenlos elektronisch zur Verfügung steht, ist ein weite­res Plus.

Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur: Von Cervantes bis zur Ge­genwart. Berlin, Boston: De Gruyter 2022; https://doi.org/10.1515/9783110747171

Manuel Chaves Nogales: Ifni, Spaniens letztes koloniales Abenteuer

Reportage eines Meistererzählers, der dabei war

Rezension von Knud Böhle

Worum es geht

Der kupido Verlag hat sich vorgenommen, die Werke von Manuel Chaves Nogales (*Sevilla, August 1897, †London, Mai 1944) in einer auf sechzehn Bände angelegten deutschsprachigen Ausgabe herauszugeben. Das vorliegende Buch »Ifni, Spaniens letztes koloniales Abenteuer«, ist als Band 2 der Abteilung 1: Reportagen und Journale angezeigt. Ungeachtet dieser Zählung, handelt es sich um den ersten Band der Werkausgabe, der das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Die Abteilung 2 soll das erzählerische Werk umfassen.

In dem Buch werden zwei Reportagen erstmals auf Deutsch veröffentlicht, die mit der spanischen Kolonialpolitik in Nordwestafrika zur Zeit der Zweiten Republik (1931-1939) zu tun haben. Ursprünglich waren die Reportagen als Artikelfolgen, mit zahlreichen Fotos angereichert, im Jahr 1934 in der Madrider Tageszeitung AHORA erschienen. Sie adressierte die republikanische bürgerliche Mitte und erzielte eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren. Manuel Chaves war Stellvertretender Direktor der besagten Zeitung. Als Publizist und Journalist war er damals prominent und hoch geschätzt. Er gehört zu den großen, lange Zeit weitgehend vergessenen, spanischen Autoren. Erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde er neu entdeckt. Heute ist er in Spanien weithin bekannt und berühmt. Seine Werke, die in unterschiedlichen Einzelausgaben und in zwei Gesamtausgaben auf dem Markt sind, werden gelesen und diskutiert.

In Deutschland ist der Autor noch kaum bekannt. Erst seit April 2022 findet sich ein Eintrag in der deutschen Wikipedia zu seinem Leben und Werk. Manuel Chaves gehört zur Extraklasse der »rasenden Reporter«, bei denen sich hoher Informationsgehalt mit außergewöhnlicher literarischer Qualität verbinden. Sein Stil ist geprägt von großer Klarheit der Sprache, Anschaulichkeit und originellen Vergleichen. Es schwingen mit: Witz, Augenzwinkern, Ironie und Understatement. Gelegentlich werden auch bloß Klischees bedient. Gleichzeitig sind die Reportagen durchzogen von spürbarer Empathie für Menschen, die das Schicksal gebeutelt hat. Die in der vorliegenden Besprechung verwendeten Zitate bieten Kostproben seines Stils.

In der ersten Reportage geht es um einen Fall bösartiger Desinformation. Monarchistisch und militaristisch gesinnte Kreise hatten das Gerücht verbreitet, es gäbe noch spanische Kriegsgefangene des Rif-Kriegs (1921-1926) in Marokko, die es zu befreien gelte. Die zweite, wesentlich umfangreichere Reportage handelt von der unblutigen und kampflosen Inbesitznahme der kleinen spanischen Kolonie namens Ifni.

Die erste Reportage wurde im Januar 1934 gedruckt, die zweite erschien in 13 Folgen in den Monaten April und Mai. Die beiden Reportagen aus Marokko sind nur lose verbunden. Die folgende Karte zeigt die kolonialen Besitzungen Spaniens und Frankreichs zu der Zeit.

Abb.1: Spanische Kolonial- und Protektoratsgebiete in Nordwestafrika, Ifni als kleine Enklave in Französisch-Marokko. Quelle: Wikimedia Commons

Zur Reportage über die »Gefangenen« des Rif-Krieges

In der Reportage vom Januar 1934 (9.-13.1.1934) sehen wir Manuel Chaves als investigativen Journalisten am Werk, der durch seine Recherchen ein immer wieder aufgewärmtes Gerücht als gezielte Desinformation entlarven will. Das Gerücht besagte, dass es noch immer um die 300 spanische Kriegsgefangene vor allem aus der Schlacht bei Annual gäbe, die es zu befreien gelte. Die Schlacht lag 1934 bereits mehr als 10 Jahre zurück. Damals, 1921, hatten sich im Norden Marokkos die Rif-Kabylen unter Abd el-Krim gegen die spanischen Kolonialherren erhoben und in jener Schlacht die spanische Armee verheerend geschlagen (ausführlicher dazu Reiner Tosstorff).

Seine Recherchen, die er in mehreren Artikeln an seine Zeitung kabelte, kamen zu dem Ergebnis, dass es in Marokko zwar eine ganze Reihe von Spaniern gab, die aus den unterschiedlichsten Gründen unter den Mauren lebten, etwa weil sie Abenteurer waren, den Kriegsdienst vermeiden wollten, aus dem spanischen Heer desertiert waren oder ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not verlassen hatten, aber keine Gefangenen.

Die Spanier die wir »retten« können, werden überwiegend freiwillige Auswanderer sein, Abenteurer, Entwurzelte, Leute, die ihre Heimat verloren haben, Herumirrende, die ihr Schicksal in die Hand nahmen, ihr Glück fanden und sich irgendeinem Stamm im Inland anschlossen – völlig zwanglos. Sie heimzubringen würde ihnen übel mitspielen, sie wollen nicht »gerettet« werden (S. 29).

Das Schüren von Hoffnungen bei denen, die noch Angehörige und Freunde vermissten, wurde als zynisches Manöver bloßgestellt. Man darf vermuten, dass mit dieser Kampagne die republikanischen Regierungen von rechten militaristischen Kräften unter Druck gesetzt werden sollten, vielleicht auch mit dem impliziten Vorwurf, dass der Republik das Schicksal seiner Soldaten nicht genug am Herzen liege. Jedenfalls war das Thema offenbar so virulent, dass sich nicht zuletzt aufgrund der Recherchen von Manuel Chaves das spanische Parlament (Cortes) damit beschäftigen musste.

Für die deutschen Leser dürfte der Reiz dieser Reportage, geschrieben für ein spanisches Publikum in einem bestimmten historischen Moment, wohl kaum in ihrem ursprünglichen Zweck, der Entlarvung einer bestimmten Desinformationskampagne aus dem antirepublikanischem Spektrum, liegen. Gefallen mag indes, wie der Autor die Ergebnisse seiner Recherchen temperamentvoll und scharfzüngig, mit Witz und Ironie ausbreitet und dabei die Absurdität des Gerüchts aufzeigen kann. Inhaltlich interessant sind noch heute die Einblicke in die unterschiedlichen Motive, die viele Spanier bewogen hatten, sich nach Marokko aufzumachen und dort niederzulassen.

Zur Reportage über die Besetzung von Ifni

Im April 1934, und damit beginnt die zweite Reportage, reist Manuel Chaves in Begleitung von zwei Piloten und einem Fotografen erneut nach Marokko, um von der Besetzung Ifnis zu berichten.

Kurz zur Vorgeschichte: Spanische Anrechte auf die Enklaven Ceuta, Melilla und Ifni gehen bis in die Zeit der Katholischen Könige zurück. 1859/60, nach dem Spanisch-Marokkanischen Krieg, wurden die spanischen Ansprüche erneuert. Marokko sprach Spanien im Vertrag von Wad-Ras unter anderem auch ein kleines, vage definiertes Gebiet zu, das sich später als Ifni konkretisieren sollte. In den Abkommen der Jahre 1904 und 1911 zwischen Frankreich und Spanien über die Aufteilung Marokkos, wurde dieser Anspruch Spaniens bestätigt. Versuche, Ifni einzunehmen, die alle scheiterten, gab es schon 1911, 1919 und 1925. Ein weiterer Versuch, der ebenfalls scheiterte, und der von Manuel Chaves kurz erwähnt wird, fand 1933, also schon zur Zeit der Zweiten Republik statt. Auf der Karte (Abb.1 ) sieht man die kleine spanische Enklave in Marokko – umgeben von Französisch-Marokko. Die Fläche Ifnis war als 60 Kilometer langer und 25 Kilometer breiter Streifen Land festgelegt worden. Ein zentrales Motiv für die Besetzung lässt sich im Druck der Kolonialmacht Frankreich auf Spanien finden. Frankreich wollte Ifni nicht länger als unkontrolliertes Gebiete dulden, das von einheimischen Aufständischen als Rückzugsraum genutzt werden konnte. Auf spanischer Seite dürften außerdem Erwartungen steigender wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung Westafrikas und nostalgische Träume einer absteigenden Kolonialmacht eine Rolle gespielt haben.

Zurück zur Reportage: Nach einem Zwischenstopp in Casablanca verliert das Flugzeug im Nebel die Orientierung und muss in der Gegend von Agadir notlanden, wobei das Fahrwerk zu Bruch geht. Nach der Bruchlandung kommen den Spaniern französische Soldaten zu Hilfe, die das Flugzeug abtransportieren. Manuel Chaves bleibt in Agadir, das zu Französisch-Marokko gehört, und versucht dort, die Weiterreise nach Ifni zu organisieren.

Er nutzt den erzwungenen Zwischenstopp einerseits dazu, die Frage nach den Kriegsgefangenen noch einmal vor Ort zu stellen. Soldaten spanischer Herkunft im französischen Militärdienst, mit denen er ins Gespräch kommt, versichern ihm, dass es auch auf französischem Gebiet keine spanischen Kriegsgefangenen gebe.

Zum anderen nutzt er den Aufenthalt, um Überlegungen über die feinen und weniger feinen Unterschiede zwischen französischer und spanischer Kolonialismuspraxis anzustellen. Dabei kann er auch die Frage, was die Spanier, die es nach Marokko verschlagen hatte, eigentlich dort machten, weiter erörtern. Er hält fest, dass sich die Franzosen bei ihrer Kolonisierung auf die Verwaltung der eroberten Gebiete beschränken, und fragt dann:

An wem bleibt also die Arbeit hängen? An den Spaniern, diesen unglückseligen Männern aus Oran, den genügsamen Andalusiern, den kühnen Levantinern, die sich – von der Heimat vergessen – auf den Routen Afrikas die Füße wund laufen und eine bewundernswerte Kolonisationsarbeit leisten, die ganz Frankreich mit Stolz erfüllt.
[…]
Ihrer Unternehmungslust verdanken viele Tausend spanische Schmiede, Schreiner und Maler die Arbeit, die wir ihnen nicht geben konnten, zudem schätzen die französischen Arbeitsvermittler ihre Fähigkeiten (S.68f.).

Nach dem Zwischenaufenthalt in Agadir, begibt sich Manuel Chaves auf schnellstem Weg nach Ifni. Da der Seeweg nach Ifni zu gefährlich und der Landweg durch französisches Gebiet noch nicht freigegeben ist, nimmt er schließlich ein Flugzeug, das ihn nach Kap Juby bringt, und von dort lässt er sich von einer Militärmaschine nach Ifni fliegen. Am 20. oder 21. April 1934 dürfte er dort eingetroffen sein. Die eigentliche Besitznahme des Territoriums hatte schon am 5. April begonnen.

Da sich die Landung der spanischen Truppen, die sich auf zwei Kriegsschiffen befanden, an der zerklüfteten Küste als schwierig erwiesen hatte, bestand die Einheit, die Ifni in Besitz nahm, einzig aus dem Oberst Oswaldo Capaz, seinem Adjutanten, dem Leutnant Emilio Lorenzi, und einem Matrosen. Sie wurden am Strand von etwa hundert Einheimischen erwartet, die sie in die Siedlung Sidi Ifni begleiteten (»drei oder vier Häuser, wenn man diese Schutzwälle ohne Dach denn Häuser nennen kann«, S. 70), und zu einem Begrüßungsessen eingeladen. Zu den Aktivitäten der ersten Tage der Inbesitznahme gehörte auch, die Steine von einem Platz am Rande der Siedlung wegzuräumen, um eine Landebahn für Flugzeuge zu schaffen. Ein Kabyle wird von Oberst Capaz zum »Chef des Aerodroms« (S. 73, 76) ernannt. Andere Kabylen werden zu Soldaten Spaniens erkoren, die dem Oberst direkt zugeordnet sind.

Da Manuel Chaves in dieser Phase der Besetzung Ifnis selbst nicht dabei war, verarbeitet er für die Schilderung der ersten Tage, das was er von Leutnant Lorenzi erfährt. Vielen Lesern wird es allerdings so vorkommen, als erführen sie alles aus erster Hand.

Als Manuel Chaves in Ifni ankommt, kann er beobachten, wie 70 kriegstüchtige Männer ausgewählt und zu einer einheimischen Schutztruppe geformt werden. Der Oberst motiviert diese »Bauerntruppe« (S. 93) damit, dass sie keine spanischen Söldner seien, sondern spanische Bürger, die fortan als »Guardia Civil« für den Schutz der Bevölkerung von Ifni zu sorgen hätten (S. 92f.).

Manuel Chaves ist von der Tatkraft des charismatischen Oberst außerordentlich angetan und vergleicht ihn mit Robinson:

Und Capaz, man muss es erwähnen, auch wenn es ihm nicht gefallen dürfte, hat sich mit der Kolonialisierung Ifnis so ans Werk gemacht, wie Robinson auf den Juan-Fernández-Inseln (S. 73).

In der Absicht, die Kolonisierung mitzuerleben, schließt sich Manuel Chaves mit Erlaubnis des Oberst der Truppe an, die den Auftrag hat, den südlichen Teil der Enklave zu besetzen. Nachdem die Kolonne an der Grenze zur französischen Zone Posten eingerichtet und die Flagge der spanischen Republik auf einigen der verfallenen Festungen gehisst hat, ist die Eroberung von Ifni abgeschlossen, »ohne dass ein einziger Schuss erforderlich gewesen wäre« (S. 97), und vor allem ohne die Unterstützung des größten Teils der Truppen, die nach wie vor nicht anlanden können und auf den beiden Kriegsschiffen vor der Küste festsitzen.

In der Hoffnung, dass die Spanier in Zukunft die Überfälle der Nomaden aus der Wüste verhindern würden, sind die Mitglieder der sesshaften Berberstämme bereit, ihre Gewehre abzuliefern. Auch die Nomaden müssen ihre Waffen künftig an der Grenze abgeben und bekommen sie erst bei der Rückkehr in die Wüste wieder ausgehändigt. Durch das Gewaltmonopol der Spanier, das klingt als Erwartung ebenfalls an, sollten sich auch Blutfehden zwischen den Stämmen besser einhegen lassen. Da Ifni spanisches Territorium ist, erhalten seine Bewohner auch die spanische Staatsbürgerschaft (in welchem Grad auch immer). Aus diesen Gründen können die sesshaften Stämme der Aït-ben-Amara, die auf dem Gebiet Ifnis siedeln, der Kolonialherrschaft offenbar etwas abgewinnen.

Abb. 2: Oswaldo Capaz, Manuel Chaves und möglicherweise Emilio Lorenzi in Ifni neben den von der einheimischen Bevölkerung abgegebenen Gewehren. Foto: Contreras, der für AHORA tätige Fotograf. Quelle: Webseite des spanischen Senders lasexta mit einem Beitrag vom 8.12.2020 über Chaves Nogales. In dem hier besprochenen Buch wird das Foto über zwei Seiten präsentiert, S. 106-107.

Manuel Chaves führt Gespräche, beobachtet und beschreibt dann in kleinen Geschichten mit anekdotischem Appeal Bräuche der Einheimischen, Formen der Gastfreundschaft, die politische Organisation der Kabylen, ihre Wirtschaftsweise, die Stellung der Frau, die Spannungen mit den Franzosen im Grenzgebiet, das Verhältnis der sesshaften Stämme zu den Nomaden; und immer wieder erzählt er auch von berührenden Schicksalen wie dem der »Bettler der Wüste«, wie der folgende Auszug exemplarisch zeigt.

Im Grenzgebiet von Ifni, die Soldaten haben ihr Nachtlager bereits aufgeschlagen, treibt ihn die Neugier in die Pilgerherberge:

Dort in einer Ecke sehr zusammenkauernd, in einer festen Umarmung eng umschlungen, lagern drei Männer, drei danteske Figuren, drei Ausgeburten eines Albtraums: Ein Greis, ein Mann und ein Kind, dürr wie ein Skelett, fast nackt, mit Gesichtszügen, welche Hunger und Unbarmherzigkeit zu Fratzen verzerrt haben, auf ewig leidend; einer von ihnen, der Mann, ist mit Blindheit geschlagen, mit dieser entsetzlichen Blindheit offener und beweglicher Augen; die anderen haben Augen wie Halluzinierende.

Sie sind »Bettler der Wüste«, werde ich informiert […] Ein wenig Fakir, ein wenig Bettler, und immer Geschichtenerzähler in einer Person, kreuzen diese erstaunlichen Kreaturen, die die menschlichen Bedürfnisse auf ein Minimum reduziert haben, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen überall in der Wüste auf, ganz unempfindlich gegen alles, gegen die Sonne, sogar den Hunger, Durst und Kälte. Irgendwann sterben sie einfach, und Dünen werden ihre ausgedörrten Knochen überspülen wie Wellen (S. 100f.).

Das Ziel der Reise des Journalisten geht aber über das Sammeln von Geschichten hinaus. Er will sich ein Urteil über die Besetzung Ifnis und die kolonialen Besitzungen Spaniens in Afrika bilden. Offensichtlich hatte sich Spanien ja erst, nachdem es seine umfangreichen überseeischen Besitzungen verloren hatte, dem lange verschmähten »kolonialen Überrest« in der Sahara zugewendet. Wie Manuel Chaves gleich eingangs seiner Zeitungsreportage süffisant anmerkt, verhält es sich dabei wie mit den wertvollen Dingen einer reichen Familie, die ausrangiert auf dem Dachboden verstauben bis die Familie verarmt und sich fragt, ob die Kinder nicht noch irgendetwas von diesem alten Gerümpel brauchen oder wenigstens versilbern könnten.

Und die Republik, dieses aufrechte Geschlecht der Mittelklasse, die sich den Luxus vergessener Kostbarkeiten auf dem Dachboden nicht leisten kann, findet nun diesen kolonialen Überrest
[…]
Das Leben ist hart; man muss aus allem seinen Nutzen ziehen und den unbrauchbaren Rest versilbern. Diese Abwägung, ob abgelegtes altes Gerümpel zu verwerten oder zu liquidieren ist, ist der wirkliche Kern unserer letzten kolonialen Unternehmung, die wir mit der Besetzung Ifnis in Angriff genommen haben. Die umsichtigen Gegner kolonialer Abenteuer mögen sich bitte nicht gleich aufregen (S. 59).

In den folgenden Wochen überzeugt sich der Journalist in den Gesprächen mit den Kaïds der Berberstämme davon, wie bereits angeführt, dass die Bewohner von Ifni die Anwesenheit der Spanier durchaus begrüßten. Und er kommt zu dem Ergebnis:

Ich weiß nur, dass wir, indem wir Spaniens Symbol gehisst haben, hier ein weit sichtbares Signal des Friedens gesetzt und die Hoffnung auf Wohlstand unter diesen armen, hungrigen Bauern Ifnis geweckt haben. Und das ist gut so (S. 110).

Es wäre falsch, Manuel Chaves deshalb gleich in die Ecke des paternalistischen Kolonialisten zu stellen. Seine Einstellung zum spanischen Kolonialismus und der Kolonialpolitik der Republik ist komplexer und ohne Frage ambivalent. Es versteht sich, dass er nicht zur anti-kolonialistischen politischen Linken gehört und nicht prinzipiell gegen jede Kolonialpolitik ist. Was er konkret in Ifni als Möglichkeit gesehen hat, hat ihm offenkundig gefallen.

Er bleibt jedoch weiterhin skeptisch und zweifelt stark daran, dass die spanische Politik und die spanische Administration in der Lage und willens wären, die Voraussetzungen einer auskömmlichen Entwicklung in ihrem Kolonialgebiet auf Dauer zu stellen. Ein Erfordenis für die Versorgung der Enklave wäre etwa die Einrichtung einer regelmäßigen und zuverlässigen Flugverbindung zwischen Spanien und der Kolonie; ein anderes Erfordernis wäre der Bau eines Hafens, was aufgrund der widrigen Bedingungen an dieser Küste extrem teuer wäre.

Er reflektiert außerdem, dass das Wohl und Wehe von Ifni mit der Befriedung der Westsahara zusammenhängt. Eine dauerhafte Befriedung dieses Gebiets würde aus seiner Sicht nur zu erreichten sein, wenn den Spaniern die »Unterwerfung der Nomadenfürsten« (S. 118) in der Westsahara gelänge. Dazu wäre es vorab nötig, eine Landverbindung durch französisches Protektoratsgebiet von Ifni nach Kap Juby herzustellen. Das wiederum setzte aber voraus, dass zuvor die Franzosen die Nomaden und Aufständischen in diesem Gebiet unter ihre Kontrolle brächten. Angesichts der zahlreichen Hindernisse und Unwägbarkeiten, bleibt es für Manuel Chaves weiterhin eine politische Option, sich von den kolonialen Unternehmungen in Marokko ganz zu verabschieden.

Die Antwort auf die Ausgangsfrage vom Beginn seiner Reise, nach dem Nutzen der Besetzung Ifnis für die spanische Republik, fällt am Ende wenig überzeugend aus. Auf seiner Expedition ins Innere der Kolonie hat er fruchtbare Landstriche gesehen, und verbindet damit Chancen gewinnbringender Kolonialisierung (S. 114). Diese »Flecken fruchtbarer Erde für Spanien zu retten« sei das einzige »wofür sich der ganze kolonialistische Aufwand, Ifni zu besetzen, vielleicht lohnt« (S. 114). Eine gründliche Erörterung anderer möglicher Vorteile der Kolonialisierung findet nicht statt. Nur hier und da scheinen, verstreut über die 13 Teile der Reportage, andere Zwecke und Nutzenaspekte auf (z.B. Bodenschätze, Fischereirechte, Absicherung der Kanarischen Inseln, Bedeutung für die Luftfahrt, für das Transportwesen oder der militärische Nutzen). Für diese Zurückhaltung mag sein Status als quasi embedded journalist, der für eine regierungsnahe Tageszeitung schreibt, eine gewisse Rolle gespielt haben. Vielmehr aber dürfte es mit einer unausgesprochenen Maxime seines Schreibens zu tun haben: nur über das zu schreiben, was er selbst gesehen und erlebt hat, und sich zu verbieten, es im Licht von Theorien, Ideologien und Strategien zu deuten. Augenzeugenschaft als Leitprinzip der Reportage und die darauf fußende Unmittelbarkeit der Berichterstattung tragen maßgeblich zur anhaltenden Frische dieses über 85 Jahre alten Textes bei.

Vorzüge und Mängel der Edition

Die Übersetzung trifft den richtigen Ton, und die Buchgestaltung würde, ohne wenn und aber, einen vorderen Platz unter den »schönsten Deutschen Büchern« verdienen. Da stimmt alles: von der Papierqualität, über den türkisen Halbleineneinband, das leuchtend blaue Lesebändchen, den Satz bis zum Layout mit ansprechender Integration des Fotomaterials.

Wenn der Verlag nur auf ein Publikum von intimen Kennern spanischer Geschichte und Literatur aus wäre, könnte die Besprechung hier mit einem Dank enden. Wäre das Ziel jedoch, ein breiteres deutsches Publikum zu erreichen, wäre ein historisch informierender und orientierenden Text wünschenswert, der Kontexte herstellte und erläuterte, was die Lektüre dieser alten Zeitungsreportagen heute inhaltlich noch lohnt. Die hochgestochene »Einführung zur ersten deutschen Ausgabe« (S. 7-15) des Frank Henseleit – Verleger, Herausgeber und Übersetzer des Buches –, leistet dies nicht. Zur Person des Manuel Chaves Nogales erfährt man zwar einiges, aber zum Kontext der zentralen Reportage, der Besetzung Ifnis, praktisch nichts. Es findet sich nicht einmal eine Karte des spanischen Kolonialgebiets in Nordwestafrika, der man Lage und Ausdehnung Ifnis entnehmen könnte.

Eine Frage, die sich heutigen Lesern und Leserinnen bei der Lektüre aufdrängt, ist zweifelsohne, was aus Ifni nach der Besetzung 1934 wurde. Diese Frage mag mit einschließen, was aus den Personen wurde, mit denen Manuel Chaves in Marokko zu tun hatte. Eine historisch gut informierte Einleitung (oder ein entsprechendes Nachwort) hätte deshalb nicht nur die Vorgeschichte der Besetzung von Ifni anzusprechen, sondern die Geschichte Ifnis von der Besetzung bis zur Gegenwart wenigstens in Umrissen aufzuzeigen.

Ein erstes Kapitel der Geschichte Ifnis als spanischer Kolonie nach 1934 weist auf das Ende der Zweiten Republik. Der von den in Afrika stationierten spanischen hohen Militärs, den Africanistas, maßgeblich organisierte Putsch gegen die Republik, und der vom Einsatz des Afrika-Heers (nach Schätzungen 80.000 Soldaten) maßgeblich beeinflusste Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939), gehören in dieses Kapitel.

In einem weiteren Kapitel wäre von der schleppenden Dekolonisierung Marokkos nach 1945 zu sprechen. 1957/58 kam es zum Ifni-Krieg, der im April 1958 durch ein Abkommen zwischen Spanien und Marokko beendet wurde. Der Kap Juby Streifen wurde damals unabhängig, die Kolonie Ifni wurde auf die Stadtregion Sidi Ifni reduziert. Die verkleinerte Kolonie und die Westsahara blieben jedoch weiter unter Spaniens Kontrolle. Ifni erhielt 1958 den Status einer spanischen Provinz. Das Franco-Regime begann nun in einer Art Angstblüte, wie das letzte Austreiben einer absterbenden Pflanze genannt wird, massiv in Ifni zu investieren. Erst auf internationalen Druck hin (UN-Resolution 1514 von 1960, UN-Resolution 2072 von 1965) trat Spanien Ifni am 30. Juni 1969 schließlich an Marokko ab. Bis zum Rückzug der Spanier aus der Westsahara dauerte es noch bis 1976. Der Konflikt um die Westsahara zwischen Marokko und den Sahrauis ist bekanntlich noch immer nicht gelöst. Die UNO sieht die Westsahara weiterhin als »nicht entkolonialisiertes Gebiet«.

Diese Wandlungen Ifnis und des spanischen Kolonialgebiets in Nordwestafrika zu kennen, verändert den Blick auf die Reportage über Ifni, das 1934 fast wie eine koloniale Idylle anmutete, und ist wichtig, um einen Gegenwartsbezug herzustellen.

Es gibt noch eine zweite Ebene, auf der eine historische Einbettung oder Kontextualisierung der Reportage der Lektüre zugute käme. Die Reportagen von Manuel Chaves sind inzwischen selbst historische Quellen und wären es wert, vom Stand der heutigen Geschichtswissenschaft aus beurteilt und erläutert zu werden. Stimmt alles, was uns der Reporter erzählt? Welche Informationen über die Besetzung Ifnis, über die Historiker heute verfügen, standen ihm damals noch nicht zur Verfügung? Welche Informationen ließ er bewusst außen vor, weil sie nicht zu seiner Art Reportage passten? Welches zum Verständnis von Anspielungen und Sottisen nötige Wissen konnte er 1934 bei seinen spanischen Lesern und Leserinnen voraussetzen?

Kurzum: Je mehr die Leser über die spanischen Kolonialpolitik und -geschichte erführen und je mehr sie an Informationen über die Vorgeschichte, die Besetzung und die weitere Entwicklung der kleinen Kolonie Ifni erhielten, um so lohnender dürfte die Lektüre der Reportage sein, und umso deutlicher würde auch die besondere Qualität des Meistererzählers Manuel Chaves Nogales hervortreten, der dabei war.

Literaturhinweise

Spanische Ausgaben der Reportagen

  • Manuel Chaves Nogales: Ifni, la última aventura colonial española. Almuzara: Córdoba 2012 [Diese Ausgabe basiert auf dem Text der 2001 veröffentlichten Werkausgabe, Band 1].
  • Manuel Chaves Nogales: Los desaparecidos en la catástrofe de Annual. In: Obra Completa, Band III (1931-1936), hrsg. v. Ignacio F. Garmendia, Barcelona: Libros del Asteroide, S. 433-449
  • Manuel Chaves Nogales: Nuestra última empresa colonial. In: Obra Completa, Band III (1931-1936), hrsg. v. Ignacio F. Garmendia, Barcelona: Libros del Asteroide, S. 451-525
  • Online: Die Biblioteca Digital Memoria de Madrid ist ein Onlineangebot, das es ermöglicht, die Originalreportagen von Chaves Nogales samt Bildmaterial wie sie in der Zeitung AHORA abgedruckt wurden, faksimiliert abzurufen. [zuletzt überprüft am 22.04.2022]

Geschichtliches zu Ifni und den spanischen Kolonien in Nordwestafrika

  • De Madariaga, María Rosa: Los moros que trajo Franco. Alianza Editorial: Madrid 2015
  • De la Mata, Javier Ramiro: Los prisioneros españoles cautivos de Abd-el-Krim: Un legado del desastre de Annual. In: Anales de Historia Contemporánea, Vol. 18 (2002), S. 343-354. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Doppelbauer, Max: Sidi Ifni. Spanische Kolonie vom 6. April 1934 bis 30. Juni 1969. In: europa ethnica, 2014, Bd. 71, S. 36-39
  • Hart, Montgomery David: The Ait Ba ‚Amran of Ifni: an ethnographic survey. In: Revue de l’Occident musulman et de la Méditerranée, n°15-16, 1973. Mélanges Le Tourneau. II., 1973, S. 61-74. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Martínez-Milán, Jesús: Sidi Ifni en el contexto del colonialismo español en el sur de Marruecos, 1912-1956. Hespéris tamuda / Université Mohammed V., Faculté des lettres et des sciences humaines. XLVI, 2011, S. 39-64. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Quintana-Navarro, Francisco: La ocupación de Ifni (1934): Acotaciones a un capítulo de la política africanista de la 2ª República. In: Víctor Morales Lezcano (coord.): II Aula Canarias y el Noroeste de África. Madrid, Cabildo Insular de Gran Canaria, 1988, S. 97-124. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]
  • Tosstorff, Reiner: Aufstand der Rifkabylen gegen die spanische Kolonialherrschaft. Ein Gespräch mit Reiner Tosstorff von Armin Osmanovic, Rosa Luxemburg Stiftung, 2021. Online verfügbar: [zuletzt überprüft am 22.04.2022]

Manuel Chaves Nogales: Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer. Köln: Kupido Verlag 2021, ISBN 978-3-96675-035-6



Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus

Ein gut verständliches Buch über einen schwer verständlichen Prozess

Rezension von Knud Böhle

Katalanisten verstehen

Für den unvoreingenommenen politisch Interessierten in Deutschland ist der katalanische Nationa­lismus und sein Ziel, einen neuen Nationalstaat durch Abspaltung von Spanien zu gründen, nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Das Fremdverstehen ist dadurch erschwert, dass es in Deutschland derzeit kein nennenswertes Nationalitätenproblem und keine Unabhängigkeitsbewegung gibt. Dazu kommt, dass es auch keine relevante politische Partei gibt, die das Grundgesetz und mithin die fö­derale Struktur der Bundesrepublik oder die Staatsform grundsätzlich in Frage stellte. Die im Wall­stein Verlag erschienene Schrift der an der Humboldt Universität lehrenden Historikerin Birgit Asch­mann verspricht, den katalanischen Nationalismus und besonders seine Radikalisierung als Unab­hängigkeitsbewegung, etwa seit 2010, einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen.

Die unglaubliche Wachstumskurve des katalanischen Separatismus

1976, im ersten Jahr nach Francos Tod, sprachen sich nur zwei Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit aus (vgl. S. 159). Im Referendum über die Verfassung von 1978, die das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen festschrieb, stimmten (bei einer Wahlbeteiligung von 68 Prozent) 90,5 Prozent der Katalanen für diese Verfassung. Vier Jahrzehnte später zeigte sich ein völlig verändertes Bild: Der Präsident der Regierung der autonomen Region Katalonien Carles Puigdemont verkündete am 10. Oktober 2017: «Katalonien konstituiert sich als unabhängiger Staat in Form einer Republik» (vgl. S. 230). Sekunden später wurde diese einseitige Unabhängigkeitserklärung zwar ausgesetzt. Aber am 27. Oktober 2017 wurde dann über die Unabhängigkeitserklärung im katalanischen Regionalparlament, der Generalitat, abgestimmt. Die zu dem Zeitpunkt pro-separatistische Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür. Von den 135 Abgeordneten des katalanischen Parlaments galten 72 als Unabhängigkeitsbefürworter. Bei der Abstimmung am 27. Oktober wurden 70 gültige Stimmen pro Unabhängigkeit abgegeben.

Der nach dieser einseitigen Unabhängigkeitserklärung vorgesehene Konstitutionsprozess eines neuen Nationalstaats, der katalani­schen Republik, kam de facto nicht in Gang. Noch am selben Tag wurde die katalanische Regierung abgesetzt, das Parlament aufgelöst, und eine Zwangsverwaltung gemäß § 155 der spanischen Verfas­sung trat in Kraft. Außerdem wurden Neuwahlen in der autonomen Region anberaumt. Haftbefehle gegen hochrangige Protagonisten der Unabhängig­keitsbewegung wurden wenige Tage später erlassen. Nach der Wahl am 21. Dezember 2017 dauerte es bis zum 14. Mai 2018 bis eine neue Regierung in Katalonien gebildet wurde und die Zwangsverwaltung endete.

Damals wie heute haben die Parteien, die für eine Unabhängigkeit Kataloniens eintreten, eine knap­pe Sitzmehrheit im katalanischen Parlament. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben. Das Wahlsystem und die Wahlbeteiligung wären für eine korrekte Beurteilung einzubeziehen. Im Jahr 2017 entsprach die Mehrheit der Sitze der separatistischen Parteien keiner Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Rechnerisch wäre nach der letzten Wahl (14. Februar 2021) eine linke (sinngemäß: sozialdemokratische) Koalitionsregierung möglich gewesen. Dem stand jedoch das In­teresse der separatistischen Mehrheit im Parlament entgegen, die am politischen Projekt der Unabhängigkeit fest­hielt. Innerhalb der Regierungsparteien gibt es derzeit unterschiedliche Auffassungen, ob das Ziel, die Unabhängigkeit Kataloniens zu erreichen, kurzfristig oder eher mittel- bis langfris­tig anzusetzen ist, und ob eine einseitige Unabhängigkeitserklärung weiterhin als politische Option gesehen wird. Es dürfte unter den nationalistischen Katalanen außerdem auch unechte Separatisten geben, denen die Unabhängigkeitsforderung als strategisch einzusetzendes Mit­tel dient, um den Zentralstaat an den Verhandlungstisch zu zwingen und einen vorteilhaften Sonderstatus für Katalonien im föderalen spanischen Staatsgebilde zu erstreiten.

Juristisch wird manchmal zwischen Separation und Sezession unterschieden, wo­bei erstere eine Zustimmung des Gesamtstaats zur Abspaltung (etwa auf Basis eines legalen Referen­dums) voraussetzt, während die letztere die Nicht-Zustimmung des Gesamtstaates zur Abspaltung, wie bei der einseitigen Unabhängigkeitserklärung 2017 in Katalonien, in Kauf nimmt. Ein aus einer solchen Abspaltung hervorgehender Neustaat dürfte vergleichsweise geringe Chancen haben, inter­national anerkannt zu werden.

Fragestellung der Analyse und emotionsgeschichtlicher Ansatz

Die zentrale Frage des Buches ist, wie es von der relativ geringen Virulenz des politischen Katala­nismus zumindest bis zum Jahr 2006 zu diesem unwahrscheinlichen Erstarken des katalanischen Nationalismus kommen konnte. Wie konnte es dazu kommen, dass nicht mehr der Ausbau und die Vertiefung der regionalen Autonomie (Autonomismus) das Ziel weiter Teile des politischen Katalanismus blieb, son­dern die Abspaltung von Spanien und die Gründung eines eigenen Staates zum neuen Erwartungs­horizont wurde?

Um die Dynamik des Prozesses (el Procès) besser zu verstehen, verfolgt Aschmann die Wendungen und Wandlungen des politischen Katalanismus von seinen Anfängen bis zur aktuel­len Lage Ende 2020. Das Besondere an der Darstellung, auch im Unterschied zu zahlreichen spanischen Analysen des Procès, ist die emotionsgeschichtliche Perspektive ihrer Untersuchung (vgl. S. 15 und S. 160). Das Augenmerk wird folglich auf Phänomene wie die Emotionspolitik als Herrschaftsmittel und Machtinstrument, auf die Eigenlogik von Emotionen und die Dialektik von emotionaler Gemeinschaftsbildung und sozialer Ausgrenzung gelegt. Erwartungen, Enttäuschungen, Ängste und Wut, Empörung und Ressentiments spielen für die Dynamik des Prozesses eine große Rol­le.

Der jüngere katalanische Nationalismus wird dabei nicht als regional einzigartige, singuläre soziale Bewegung verstanden, sondern in den größeren Kontext einer in den letzten zwei Jahrzehnten weit­hin beob­achtbaren veränderten Emotionskultur gestellt, die eine stärkere Emotionalisierung von Po­litik und Gesellschaft auszeichnet. Diese Veränderung wird – mit Verweis auf den Soziologen An­dreas Reckwitz ­– als Signum der Spätmoderne begriffen, und an Phänomenen wie erstarkendem Na­tionalismus und Populismus, neuen sozialen Bewegungen der Empörung und sozialen Bewegungen entlang von Identitätsfragen – eben auch von kollektiven Identitäten – festgemacht. Auch in anderer Hinsicht operiert der periphere Nationalismus Kataloniens nicht isoliert, sondern beobachtet andere periphere Nationalismen und separatistische Bestrebungen außerhalb des Landes und ist mit diesen in Kontakt. In Spanien sind die Entwicklungen im Baskenland unbestritten die wichtigste Referenz (vgl. S. 194f.).

Katalanismus von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Ende des Franquismus

Im Anschluss an die Einleitung, die Ansatz und Fragestellungen der Arbeit erläutert, wird die Ge­schichte und mithin auch die Emotionsgeschichte des Katalanismus chronologisch in drei Kapiteln abgehandelt (vgl. dazu im Detail das Inhaltsverzeichnis). Für das 19. Jahrhundert wird als kennzeichnend ein Regionalismus mit doppelten Identitäten und die Ko­existenz emotionaler Gemeinschaften herausgearbeitet (Kapitel II). Das folgende Kapitel (III) be­schreibt die Formierung des katalanischen Nationalismus ab 1898 im Kontext der spanisch-katala­nischen Geschichte bis zum Tode Francos 1975. Der Zeitraum umfasst die Monarchie bis zur Dikta­tur Pri­mo de Riveras, die Diktatur Primos (1923-1930), die Zeit der Zweiten Republik und des Bür­gerkriegs (1931-1939) und schließlich die lange Zeit der Franco-Diktatur (bis 1975). Es wird aufge­zeigt, dass der zentralistische spanische Nationalismus während der beiden Diktaturen den periphe­ren katalanischen Nationalismus nicht ausschalten konnte, sondern indirekt sogar eher bestärkte. Aschmann spricht von der «Dialektik von katalanischen Autonomieansprüchen und spanischem Nationalismus» (S. 68). Eine Art nationalistisches Hochschaukeln ist auch heute zu beobachten.

In den Jahren der Republik wurde zwar gleich anfangs eine kata­lanische Republik «in der Föderation iberischer Republiken» (1931) proklamiert (und nach drei Ta­gen wieder zurückgenommen) und 1934 ein katalanischer Staat «innerhalb der föderalen spanischen Republik» ausgerufen (und zehn Stunden später gewaltsam abgeschafft). Aber beide Vorstöße in Rich­tung Föderation realisierten sich nicht, waren nicht von Dauer und sehr spezifischen historischen Um­ständen geschuldet. Tatsächlich erreicht wurde während der Zweiten Republik ein Autonomiestatut für Katalonien. Dar­an konnte nach 1975 angeknüpft werden.

Während des Franquismus entwickelte sich innerhalb des Katalanismus, so die Autorin, der gegen die Diktatur gerichtete und die Katalanen einigende «katholische Katalanismus zur hegemonialen Kraft» (S. 101). Bemerkenswert ist auch die Schaffung starker zivilgesellschaftlicher Organisatio­nen wie Crist y Catalunya (1954) oder Òmnium Cultural (1961) bereits unter der Diktatur (vgl. S. 103, S. 107).

Katalanismus in der Demokratie 1975 bis 2010: Autonomismus und nation-building

In die Zeit von 1975 bis 2009 (Kapitel IV) fielen die Verfassungsgebung (1978) und der Aufbau des spanischen Autonomiestaats (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Dis­kussionen das im Spaniene­cho besprochene Buch von Aschmann und Waldhoff). In der autonomen Gemeinschaft Katalonien regierte von 1980 bis 2003 eine bürgerliche Koalition mit Jordi Pujol als Regierungschef (Präsident der Generalitat). Als Pujolismo wird diese politischen Ära heute bezeichnet, die im Zeichen des institutionellen Ausbaus der Autonomie (S. 128) im Sinne eines nation-building (S. 133) stand. Das meint eine Katalanisie­rung der Sprachpolitik, der Me­dienpolitik, der Bildungs- und Schulpolitik, und nicht zuletzt des Geschichtsnarrativs.

Zentraler Baustein der Geschichtsrevision wurde das «katalanistische Opfernarrativ», das in seiner kürzesten Form aus dem Mund eines Unabhängigkeitsbefürworters lautet «Wir haben immer nur in die Fresse gekriegt» (vgl. S. 187). Diese Sicht spiegelt das Ressentiment, das sich aus (realen oder vermeintlichen) wiederholten Niederlagen und dauerhaften Ohnmachtserfahrun­gen und der Er­innerung daran speist. Ressentiments verbinden sich leicht mit aversiven Gefühlen. Für die katalani­sche Unabhängigkeitsbewegung spielte die Aktualisierung des «katalanisch antispanischen Ressen­timents» (S. 190) eine zentrale Rolle. Gemäßigt im Ton, aber unmissverständlich bemerkt Aschmann, dass sich auch Fachhistoriker daran beteiligten: «Die Bereitschaft, die kontinuierliche Unterdrückung durch ‹Spanien› für eine Tatsache zu halten, war umso größer, als professionelle Historiker das ihre dazu beitrugen, die The­sen zu plausibilisieren» (S. 187).

Im Jahr 2003 wurde das bürgerliche Parteienbündnis unter der Führung Pujols von einer linken Koa­lition unter dem Sozialisten Pasqual Maragall von der PSC (Partit dels Socialistes de Catalunya) abgelöst. Ein Ziel dieser Regierung war es, ein neues Autonomiestatut für Katalonien zu erwirken, in dem un­ter anderem Katalonien als «Nation» anerkannt werden sollte. Damit waren, wie Asch­mann es vorsichtig formuliert «überaus heikle Bereiche der spanischen Verfassung tangiert» (S. 151).

Da es keine Vorprüfung der Verfassungsmäßigkeit des auf den Weg gebrachten Autonomiestatuts gab, konnte das Statut, wenngleich mit erheblichen Veränderungen am Text, im spanischen Parla­ment angenommen werden, und nach einem positivem Referendum in Katalonien auch 2006 in Kraft treten. Nicht zuletzt von der konservativen Volkspartei (Partido Popular), die zu der Zeit in der Opposition war, wurde danach noch gegen das Statut vor dem Verfassungsgericht geklagt. Die höchstrichterliche Entscheidung zog sich bis 2010 hin. Einige Passagen des Statuts waren dem­nach nicht verfassungs­konform. «Das Scheitern des Versuches, Katalonien offiziell den Sta­tus einer ‹Nation› zuzuschreiben, bildete den Ausgangspunkt einer politischen Kehrtwende» (S. 160). Von da an war ein schneller Anstieg der Zahl der Unabhän­gigkeitsbefürworter zu verzeichnen.

Katalanismus in der Demokratie ab 2010: der Procés als Kind der Empörung

Vor allem ab 2010 stellte die katalanische Zivilgesellschaft ihre außerordentliche Organisationsfä­higkeit, ihr Mobilisierungspotenzial und ihre beeindruckende Kreativität unter Beweis. Ein Element waren die «subversiven Urnengänge» (S. 168) zwischen 2009 und 2011, bei denen fast 60 Prozent aller katalanischen Gemeinden darüber abstimmten, ob Katalonien ein «unabhängiger und demokrati­scher Sozialstaat innerhalb der Europäischen Union» werden sollte (vgl. ebd.). Ein anderes Element waren die Massendemonstrationen, die jeweils am Nationalfeiertag der Katalanen, der Diada, am 11. September stattfanden, und offenkundig Hunderttausende, bisweilen sogar mehr als eine Million Menschen auf die Straße brachten. Aschmann unterstreicht die Bedeutung dieser kollekti­ven emotionsgeladenen performativen Aktionen, also das aktive Dabeisein und Mittun, für das Ge­meinschaftsgefühl der katalanischen Nationalisten (S. 179). Zur Kreativität der Bewegung gehörte es auch, die Anschlussfähigkeit für nicht separatistische Teile der Bevölkerung und der Öffentlich­keit zu erhöhen. Die Forderung auf das «Recht zu entscheiden» (vgl. S. 168) wurde nicht nur von Unabhängigkeitsbefürwortern unterstützt.

Genauso wichtig, oder sogar noch wichtiger aus emotionshistorischer Perspektive war eine Trans­formation des emotional regime. Den zwei stärksten zivilgesellschaftlichen Organisationen Òmnium Cultural mit Muriel Casals an der Spitze und der neu gegründeten Assemblea Nacional Catalana (ANC) mit Carme Forcadell an der Spitze gelang es, so Aschmann, das emotional regime der Be­wegung zu revolutionieren und die «Revolution des Lächelns» (revolució dels somriures) auf den Weg zu bringen. «Dabei handelt es sich keineswegs um ein vermeintlich essentiell ‹weibliches› Ver­halten, sondern um eine gezielte Strategie dieser Frauen, anhand eines spezifischen Emotionsmana­gements dem katalanischen Nationalismus im In- und Ausland erhebliche Sympathiegewinne zu er­möglichen. Das erforderte eine strikte Abgrenzung von aggressiven Emotionen und Praktiken» (S. 174).

2012 war das Jahr, in dem die entscheidende Wende vom Autonomismus zum Separatismus Gestalt annahm und die nächste Drehung an der Unabhängigkeitsschraube erfolgte. Für diese Phase war das neuartige Zusammenspiel von separatistischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Re­gionalregierung charakteristisch. Deren Präsident Artur Mas und dessen Partei hatten bis dahin für den Ausbau der Rechte und Kompetenzen der autonomen Gemeinschaft gestanden. Das Scheitern der Verhandlungen der Regionalregierung in Madrid über einen neuen Fiskalpakt, der für Kataloni­en ähn­lich vorteilhafte Bedingungen vorsah, wie sie das Baskenland bereits erreicht hatte (vgl. S. 182), werden zu einem Sinneswandel bei Artur Mas und zum Schulterschluss mit den separatisti­schen Kräften beigetragen haben.

Eskalation und Implosion des Procés

Die neue Phase der Eskalation, die bei Aschmann minutiös beschrieben wird, setzte dann nach der Diada 2012 ein, als Artur Mas «staatliche Strukturen für Katalonien» ankündigte und mit Diplocat im November 2012 einen «diplomatischen Dienst» Kataloniens ins Leben rief und für das Ende des Jahres Neuwahlen ankündigte, die plebiszitären Charakter haben sollten. Mit anderen Worten: die Wähler wurden aufgerufen, mit ihrer Stimmabgabe für eine der separatistischen Parteien, diesem Lager ein Mandat für weitere politische Schritte auf dem Weg der Abspaltung zu erteilen.

Einige wenige Hinweise genügen, um deutlich zu machen, dass der Procés von da an in vollem Gang war. Immer mehr Schritte wurden unternommen, die nicht oder nur schwerlich in Einklang mit der spanischen Verfas­sung zu bringen waren: 2013 proklamierte das Regionalparlament die «Souveränität» des katalani­schen Volkes, 2014 erfolgte eine Konsultation ohne bindenden Charakter (eine Art Surrogat für ein Unabhängigkeitsreferendum), 2015 wurde wieder eine Wahl mit plebiszitärem Charakter durchgeführt, im Juni 2016 wurde beschlos­sen, nun ein bindendes Referen­dum über die Unabhängigkeit durchzuführen, im September 2017 folgten Gesetze zur Vorbereitung der Unabhängigkeit, und im Oktober 2017 kam es zu dem Referendum und dem Ausrufen der katalanischen Republik.

Es folgte, was bereits oben angesprochen wurde. Aschmann spricht von einer «nachgerade ge­räuschlosen Implosion des Procés» (S. 240). Dass es kaum zu Gewalt kam und dass die zentralstaat­liche In­tervention friedlich verlief, wird mit dem emotionalen Regime, zu dem ganz entscheidend auch die Gewaltlosigkeit gehörte, erklärt, aber auch damit, dass die Separatisten über den Punkt der Unab­hängigkeitserklärung hinaus keine präzisen Vorstellungen über weitere Schritte und Vorge­hensweisen entwickelt hatten (vgl. S. 241). Dazu kam, dass auch die Zentralregierung inzwischen (nach ihrem gewaltsamen Einschreiten am Tag des Referendums am 2. Oktober) gelernt hatte, dass in den internationalen Medien veröffentlichte Bilder schlagender Polizisten ihrem Image schadeten. Aschmann gibt zu bedenken, dass es auch anders hätte kommen können: «Was passieren würde, wenn in der spannungsgeladenen Situation gewaltbereite katalanische und spanische Akteure aufeinanderträfen, war keineswegs ausgemacht» (S. 242).

Fazit und Schlussbemerkungen

Die Autorin liefert auf 250 Seiten die derzeit beste deutschsprachige Darstel­lung des politischen Katalanismus von seinen Anfängen bis zum Jahr 2020. Der Ton ist sachlich, die Darstellung konzis und die Sprache eingängig. Der gewählte emotionsgeschichtliche Ansatz be­währt sich als Leitfaden durch das dynamische Geschehen des Procés. Er dürfte auch geeignet sein, ein breiteres Publikum anzusprechen.

Im Ergebnis wird die katalanische Unabhängigkeitsbewegung aus verschiedenen Gründen kri­tisch gesehen. Rechtlich erscheinen die Verstöße der Separatisten gegen die Buchstaben der Verfassung von 1978 und die Missachtung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts problematisch. Sachlich ist die Arbeit der separatistischen Kräfte am Narrativ der spanisch-katalanischen Geschichte problematisch, weil sie in mehreren Punkten als wissenschaftlich nicht haltbar nachgewiesen werden kann. Dazu kommen zwei kritische Punkte in Bezug auf das Demokratieverständnis der Separatisten, die sich selbst als vorbildlich demokratisch verstehen. Da ist zum einen die Kritik am mangelnden Respekt der Separatisten für die demokratischen Verfahrensregeln des katalanischen Parlaments (besonders in der heißen Phase des Procés 2016/2017). Zum anderen wird auf das demokratische Defizit der Bewegung hingewiesen, das darin liegt, dass sich die separatistischen Parteien auf Basis einer knappen Sitzmehrheit im Regional­parlament ermächtigt fühlten, für alle Katalanen (und alle Spanier) ­in einer so grundsätzlichen, die Zukunft betreffenden Angelegenheit, einseitig zu entscheiden.

Eine emotionsgeschichtliche Analyse, hier des Procés, sollte sich der Gefahr bewusst sein, spekulative Zuschreibungen von Gefühlen vorzunehmen, die empirisch kaum überprüfbar sind. Für den politischen Journalismus ist das kein Problem, für die Wissenschaft kann es dazu werden. Ein Beispiel: Welche Gefühle beherrschten Carles Puigdemont am Tag vor der Abstim­mung über die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober 2017? Nach Ansicht der Autorin «dürfte sich bei Puigdemont eine Konkurrenz der Ängste etabliert haben: Der Angst vor den politischen, sozia­len und ökonomischen Folgen der Unabhängigkeit standen die Befürchtungen bezüglich des eige­nen Karriereendes und das Unbehagen angesichts persönlicher Diffamierung gegenüber» (S. 235). Das mag so sein, aber wir wissen es nicht. Dazu kommt, dass das gewählte Gefühlslabel «Angst» auch eine suggestive Komponente beinhaltet. Von der Aussage her (der Angst vor den Folgen der Unabhängigkeit) hätte zum Beispiel auch von «Verantwortungsgefühl» gesprochen werden können, was einen anderen Klang gehabt hätte. Verantwortung wäre, auf den Procés und seine Protagonisten bezogen, wohl auch die politisch ergiebigere Kategorie.

Das Ziel der präzise fokussierten Studie, «die Eigenlogik von Emotionen zu analysieren und damit die Entwicklung zumindest retrospektiv zu verstehen» (S. 15), wurde erreicht. Gleichzeitig haben aber gerade die Einsichten in die Mechanismen der Eskalation den Wunsch erzeugt, noch besser und auf andere Weise zu verstehen, was die Personen, die sich in der Unabhängigkeitsbewegung engagieren, sozial, politisch und ökonomisch charakterisiert und motiviert. Dieses Desiderat soll abschließend an zwei Fragekomplexen verdeutlicht werden. Der eine betrifft das «antispanische Ressentiment», der andere die sozialen Faktoren, die eine Hinwendung zum Katalanismus begünstigen.

In dem Buch wird das «antispanische Ressentiment» und der sich daraus speisende Hass angeführt. Die Frage bleibt offen, gegen wen sich dieser Hass eigentlich richtet? Gegen die Regierung in Madrid? Gegen jede Regierung in Madrid? Gegen das politische System? Gegen die Spanier, die in Katalonien leben und Katalanen und Spanier sein wollen? Gegen alle Spanier? Bleibt das Ressentiment auf der rhetorisch-diskursiven Ebene oder manifestiert es sich auch im Alltagsleben in entsprechenden Praktiken? Lässt sich die (vermeintliche oder reale) Diskriminierung der Nicht-Separatisten durch die Katalanisten im Alltag nachweisen? Und andersherum gefragt: Wie schlägt sich die (vermeintliche oder reale) Unterdrückung der Katalanen durch den Zentralstaat im Alltag insbesondere der Separatisten nieder?

Dieser Fragenkomplex, der das Alltagsleben in Katalonien hinterfragt, verlangt empirische Untersuchungen, ebenso wie der zweite Fragenkomplex, der insbesondere auf den sozialen Hintergrund und die Interessen der Akteure zielt. Welche Personenkrei­se spricht der Separatismus an, und mit welchen ökonomischen Interessen ist er verbunden? Asch­mann gibt erste Hinweise, wo die Unabhängigkeitsbewegung stark ist: in einigen städti­schen Hochburgen wie Girona im Nordosten Kataloniens und in Gemeinden im Landesinne­ren (vgl. S. 169). Es wäre wünschenswert, hier weiter zu gehen, um die Struktur der Bewegung mit Blick auf Altersverteilung, Bildungsgrad, Einkommen und soziale Stellung zu ermitteln. Ist der radikale Katalanismus eher ein Mittelschichtenp­hänomen oder eine breite, sich aus allen Schichten speisende Bewegung? Wie ist die soziale Charakteristik derer, die keine separatistischen Parteien oder gar nicht wählen? Wie ist die Ein­stellung der ökonomischen Eliten und der mächtigen katalanischen Familien zum Procés und wie wirken sie auf ihn ein? Solche Untersuchungen sind freilich nicht primär von der Geschichtswissenschaft einzufordern, sondern von anderen Sozialwissenschaften und guten Journalisten. Wenn es solche Untersuchungen in Spanien und besonders in Katalonien schon gibt, wäre es außerordentlich verdienstvoll, ihre Ergebnisse auch in der deutschen Öffentlichkeit zu verbreiten.

Der Procés ist noch nicht zu Ende. Was die historische Arbeit von Birgit Aschmann eindrucksvoll gezeigt hat und was auch für die Zukunft des Konflikts im Auge zu behalten ist: Vieles ist noch möglich, und selbst das Unwahrscheinli­che kann nicht ausgeschlossen werden.


Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1

Der Text ist beim Verlag auch als E-Book im PDF-Format erhältlich



Paul Ingendaay: Gebrauchsanweisung für Spanien

Eine informativ-unterhaltsame Plauderei über spanische Themen

Rezension von Knud Böhle

Paul Ingendaay (Journalist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler) teilt in flüssiger Diktion einiges davon mit, was er im spanischen Alltag und auf Reisen im Lande gesehen und erlebt, und was er darüber hinaus in Gesprächen mit Spaniern und Spanierinnen erfahren hat. Er kann aus dem Vollen schöpfen, zumal er fünfzehn Jahre Feuilletonkorrespondent der FAZ für die Iberische Halbinsel mit Sitz in Madrid war (bis 2016). Der Name der Reihe bei Piper «Gebrauchsanweisung» steht in augenzwinkerndem Kontrast zu der Ich-Form, in der Paul Ingendaay von persönlichen Begegnungen, Einschätzungen und Vorlieben erzählt. Das Buch ist ein Longseller. Die erste Auflage erschien 2002; 2011 gab es eine überarbeitete Fassung, und im Mai 2021 erschien nun die hier besprochene aktualisierte Neuausgabe.

Im Laufe der Plauderei werden, wie zu erwarten, nicht wenige der gängigen Spanien-Stereotype und ‑Topoi aufgerufen. Dazu gehören auch einige angenommene Eigenheiten der Spanier und Unterschiede zu den Deutschen («Ordnung – oder was man in Deutschland dafür hält – ist in diesem Land keine erwünschte Tugend», S. 82). Ab und zu werden dazu spanische Vokabeln eingestreut und erläutert, von denen einige mit typischen Formen spanischen Sozialverhaltens zu tun haben, wie z.B. die envidia sana, der gesunde Neid, bei dem jemand um etwas beneidet wird, das man ihm aber gleichwohl gönnt, vgl. S. 14). Ebenso wird an passenden Stellen auch auf Filmschaffende (z.B. Luis Buñuel, Carlos Saura, Pedro Almodóvar) und Schriftsteller wie Rafael Chirbes, Eduardo Mendoza oder Fernando Aramburu hingewiesen, denen nicht nur gemeinsam ist, dass sie auch in Deutschland bekannt sind, sondern dass ihre Werke sich um die spanische Gesellschaft und ihren notorischen Probleme drehen.

Von Hochzeiten ist die Rede, von Kindern und Müttern und deren «ungewöhnliche[r] Mischung aus allgemeiner Fürsorge und partikularer Gleichgültigkeit» (S. 81), von den Konventionen bei Vor- und Nachnamen, von der Religiosität der Spanier, deren «satte Mehrheit» inzwischen der «nicht praktizierende Katholik» darstelle (S. 101). Von den wunderbaren Kellnern wird gesprochen, von der Hotelkette der Paradores und ihrer Entstehung, vom Massentourismus und Benidorm, und von den weniger frequentierten Gegenden der Costa de la Luz und der Extremadura, die es dem Autor besonders angetan haben. Auch den „im völkerrechtlichen Sinn anachronistischen“ (S. 204) spanischen Exklaven in Nordafrika, Ceuta und Melilla, und der britischen Exklave Gibraltar wird ein Kapitel gewidmet. Es fehlen auch nicht die erwartbaren Klassiker wie Fußball, Semana Santa, Stierkampf, und für den Literaturfreund ein Muss, auch nicht der Don Quijote von Miguel de Cervantes: «Alles, wirklich alles aus Spaniens Goldenem Zeitalter ist angestaubt, also erklärungsbedürftig – nur dieser Roman voller Schönheit, Blödsinn, Rührung und Wahn nicht» (S. 76).

Eine Stärke dieses leichtfüßigen Reisebuchs liegt darin, dass es trotzdem gelingt, auch Probleme, die Spanien wirklich plagen, zum Thema zu machen. Das gilt für den Katalonienkonflikt, die ETA und den baskischen Nationalismus sowie seine problematische Bekämpfung staatlicherseits. Das trifft auch für den Themenkomplex Immobilienspekulation, Immobilienblase, Zwangsräumungen, Bankenkrise, Wirtschaftskrise und deren Folgen zu. Und das schließt auch die Aufarbeitung der Vergangenheit mit den ungezählten Massengräbern aus der Zeit der Franco-Diktatur ein. Es wird vermutet, dass noch 100.000 Opfer der franquistischen Repression in anonymen Massengräbern liegen. Die zivilgesellschaftliche Antwort auf dieses lange verdrängte Problem begann mit einer Person, mit Emilio Silva, der im Jahr 2000 seinen Großvater, der Anfang des Bürgerkriegs getötet worden war, exhumieren und würdig bestatten wollte. Daraus entstand mit der Zeit «eine Volksbewegung ohne Ideologie oder politische Agenda» (S. 123 f.). Ingendaay legt den Finger auch in eine andere Wunde: die unmenschliche Behandlung marokkanischer Arbeiter in der Landwirtschaft Andalusiens. Er war vor Ort und hat sich die Unterbringung der Arbeitskräfte angesehen. «Da wusste ich, dass es Tomaten und Gurken in der Provinz Almería besser haben als Menschen!» (S. 109 f.).

Das erste Kapitel, in dem der Autor unter anderem den Versuch unternimmt, den abgedankten König Juan Carlos I in Schutz zu nehmen, ist weniger gelungen. Selbst wenn der Autor meint, der König sei eben ein «Outdoor-Typ», der sich mit der Zeit im Amt gelangweilt (vgl. S. 13), und sich lieber Männersachen gewidmet habe, so wäre an dieser Stelle auch ein Hinweis auf die erheblichen finanziellen Unregelmäßigkeiten und Rechtsverstöße nötig gewesen, die dem König vorgeworfen werden. Außerdem darf man sich wundern, dass der Autor im Jahr 2021 noch die Ansicht vertritt, Juan Carlos I sei trotz allem «auf wundersame Weise der ‚König aller Spanier‘» (S. 14) geblieben. Neuere Umfragen sprechen eine deutlich andere Sprache.

Was erklärt die Attraktivität des Buches? An erster Stelle ist zu nennen, dass hier jemand von seinem persönlichen Standpunkt aus kenntnisreich und meinungsstark, aber nicht doktrinär, spricht. Egal wie viel oder wenig man selbst z.B. über den Stierkampf, den Quijote, die Semana Santa oder den Jugendstil in Barcelona wissen mag, bleibt es doch interessant zu erfahren, was ein bekannter Journalist und Spanien-Kenner darüber zu sagen hat. Dazu kommt, dass es Ingendaay häufig gelingt, Dinge sprachlich eingängig, präzise und direkt auf den Punkt zu bringen.

Weiterhin ist bemerkenswert, dass gekonnt mit hoch und tief gespielt wird: auf der einen Seite werden Zeichen bildungsbürgerlicher Gelehrsamkeit eingestreut, z.B. kurze Erwähnungen großer Autoren wie Rafael Sánchez Ferlosio oder Elias Canetti. Auf der anderen Seite werden z.B. Witze über die Leute aus Lepe, das spanische Pendant unserer Ostfriesenwitze, wiedergegeben. Hier und da wird auch Kurioses aus der High-Society eingeflochten: die Herzogin von Alba hatte das «verbriefte Recht, zu Pferd in die Kathedrale von Sevilla einreiten zu dürfen» (S. 49). Außerdem ist das Prinzip der Perlenschnur für die leichtgängige Lektüre wichtig. Damit ist gemeint, dass Themen nicht systematisch und erschöpfend kapitelweise abgehandelt, sondern wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht werden, wobei die Art und das Material der Perlen variiert.

Im Kapitel «Baumeister des Himmels» fängt der Erzähler zum Beispiel mit dem Nationalheiligen der Katalanen, Sant Jordi (Sankt Georg), an, dessen Gedenktag am 23. April ist, dann geht er weiter zum «Tag des Buches» in Barcelona (ebenfalls der 23.4.), stößt beim Flanieren auf Gaudí, den «Gestalter einer menschenfreundlichen Wohnkultur», schiebt einiges zu dessen Leben und Bauwerken ein, kommt von da zu den Nachteilen des Massentourismus für die Stadt und den Bemühungen der Bürgermeisterin Ada Colau, einen nachhaltigen Tourismus voranzubringen (S. 163), zu dem ja wieder ein Museumsbesuch gehören kann. So kann von da zum Maler Ramon Casas übergegangen werden: «keiner der Superberühmten», aber einer der «absoluten katalanischen Lieblingskünstler» (S. 164) des Autors. Gegen Ende des Kapitels gibt es dann noch einen Buchtipp zum katalanischen Jugendstil und zum Ausklang noch etwa Geplauder über den Charakter der Katalanen, die manche für die «Schwaben der Iberischen Halbinsel» halten.

Fazit: Die Lektüre hat sich gelohnt: ein paar Stunden gutes Infotainment, drei Orte Acorisa, Calanda, Seseña gegoogelt, zwei der im Text empfohlenen Bücher gleich antiquarisch bestellt ‒ und vorgemerkt, bei nächster Gelegenheit die Werke von Ramon Casas in Barcelona anzuschauen. Mehr Nutzen dürfte sich selten aus einer Gebrauchsanweisung ziehen lassen.


Paul Ingendaay: Gebrauchsanweisung für Spanien.
Aktualisierte Neuausgabe. München: Piper 2021,
ISBN: 978-3-492-27751-8

Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hrsg.): Städtebau als Kreuzzug Francos

Über einen Stützpfeiler des Franquismus: Städtebau in Spanien als politisch zielgerichtet eingesetz­tes Herrschaftsmittel

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Uwe Altrock (Universität Kassel), Harald Bodenschatz (TU Berlin und Bauhaus-Universität Weimar), Jean-François Lejeune (University of Miami), Piero Sassi (federführend; Bauhaus-Universität Weimar) und Max Welch Guerra (Bauhaus-Universität Weimar) haben einen großformatigen (30 cm x 24 cm) mit 570 Illustrationen ausgestatteten Band zum Städtebau während der ersten 20 Jahre der Franco-Diktatur (1938–1959) vorgelegt.

Die Autoren sind renommiert und decken zusammen ein weites fachliches Spektrum ab, zu dem unter anderem Architektur, Architekturgeschichte, Stadt- und Raumplanung zählen, aber ebenso Politik- und Planungswissenschaft sowie Architektursoziologie. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur Erforschung des Städtebaus europäischer Diktaturen. Vergleichbare Arbeiten zu Deutschland, der Sowjetunion, Italien und Portugal sind in früheren Jahren bereits veröffentlicht worden.

Der Text-Bild-Band imponiert allein schon durch das vielfältige, mit aussagekräftigen Legenden verse­hene Bildmaterial. Dafür wurde aus zahlreichen Quellen, auch aus Sammlungen der Autoren selbst, geschöpft. Neben Fotos von Bauwerken, Städten und Statuen, werden auch Ansichtskarten, Pläne, Skizzen, Prospekte, Plakate, Bilder aus Filmen und anderes mehr einbezogen. Der mit dem Buch verbundene Anspruch geht selbstverständlich weit über den eines Bildbandes hinaus.

2. Anspruch der Studie

Für die Spezifizierung und das Anliegen der vorliegenden Studie sind zwei Grundannahmen zen­tral: Die erste Hypothese ist, dass die Protagonisten der Franco-Diktatur von An­fang an im Städtebau «ein wirksames Herrschaftsmittel» (S. 27, S. 342) erkannten, welches sie «politisch zielgerichtet» (S. 29) einsetzten. Die zweite Hypothese lautet, dass es während der ersten 20 Jahre der Diktatur «eine eigene, eine einzigartige Städtebaupolitik» (S. 31) gegeben hat, während das Regime ab 1960 dann weitgehend den Leitbildern der «westeuropäischen Nachkriegsmoderne» (S. 344) folgte. Diese doppelte Perspektive auf den Städtebau ermöglicht es den Autoren, Formen und Funktionen des Städtebaus in Wechselbeziehung zu der politischen, ideologischen und sozialen Konfiguration dieser Phase des Franquismus in den Blick zu nehmen.

Die Rezension wird sich vor allem mit der ersten Hypothese befassen. Eine kritische Erörterung der zweiten Hypothese, die den Sachverstand der mit dem Städtebau hauptsächlich befassten scientific communities erforderte, kann hier nicht geleistet werden. In der vorliegenden Besprechung wird bewusst auf Abbildungen verzichtet. Bildmaterial findet sich auf den Internet-Seiten des Verlags, die gleichzeitig einen Eindruck von der Gestaltung des Buches ermöglichen.

Für die Anlage und Rahmung der Publikation ist es wichtig, dass sie «mit dem deutschsprachigen Publikum vor Augen» (S. 34) verfasst wurde. Das bedeutet unter anderem, dass an vielen Stellen politische sowie städtebauliche Bezüge zu Deutschland aufgezeigt werden, wozu auch der Einfluss prominenter deutscher Architekten gehört ‒ etwa von Hermann Jansen, Paul Bonatz oder Otto Bartning. Der langjährige «intensive, deutsch-spanische, fachprofessionelle Austausch» (S. 79) ist dabei als Hintergrund mitzudenken.

Die Autoren reklamieren im Übrigen für sich eine andere Herangehensweise an ihren Gegenstand als die in Spanien übliche, die «architektengeprägt» sei (S. 37). Demgegenüber wird hier der Städtebau betont, der perspektivisch in den Kontext des Städtebaus jener euro­päischen Diktaturen gestellt wird, die zu Beginn der Franco-Diktatur in Europa bereits an der Macht waren.

3. Aufbau der Studie

Der Aufbau des Bandes ist didaktisch gut durchdacht und sorgfältig komponiert. An den Anfang, quasi als Ouvertüre, wird eine Bildstrecke von 20 Seiten gestellt, auf der die Hauptphänomene des Städtebaus, um die es gehen wird, exemplarisch aufgezeigt werden. Am Ende des Buches wird wie­derum eine Bildstrecke geboten, die vor allem der Geschichtserinnerung und dem heutigen Umgang mit dem gebauten Erbe gewidmet ist. Das an die erste Bildstrecke sich anschließende Kapitel hat einleitenden Charakter. Es ordnet die Franco-Diktatur ein, erläutert den Forschungsstand und den eigenen Ansatz.

Das nächste Kapitel lässt sich als weitere Hinführung und hilfreicher Einstieg für ein deutsches Pu­blikum begreifen. Im Vergleich zweier großer, 1942 in Madrid gezeigter Ausstellungen, namentlich «Neue deutsche Baukunst» und «Arbeiten der Generaldirektion für Architektur», werden die jeweilige Städte­baupropaganda und die unterschiedlichen Zwecksetzungen des Städ­tebaus sichtbar. Nazi-Deutschland hat die Niederlage von Stalingrad und die Zerstörung deutscher Städte noch vor sich, in Spanien geht es bereits um den Wiederaufbau im Bürgerkrieg zerstörter Städte, den Wohnungsbau und freilich nicht zuletzt um die bauliche Glorifizierung des Sieges.

In weiteren Kapiteln wird das Material ausgebreitet und erläutert. An manche der behandelten The­men hätte vermutlich kaum einer bei dem Stichwort Städtebau des Franquismus gedacht. Folgende acht Handlungsfelder des Städtebaus, die hier nur schlagwortartig angedeutet werden können, wer­den untersucht: (1) der Wiederaufbau im Krieg zerstörter Orte, (2) die Erneuerung und Erweiterung der Innenstadt Madrids und die Neugestaltung der Stadtregion, (3) der Altstadtumbau und der in­dustrielle Städte­bau in und um Barcelona, (4) die «Arbeiteruniversitäten – Universitätsstädte neuen Typs», (5) die Erneuerung der Altstädte, (6) Binnenkolonisation, Kolonistendörfer und Wasserbauinfrastruktur, (7) der Städte­bau in den spanischen Kolonien Nordwestafrikas, und (8) das Tal der Gefallenen als «Schlüsselpro­jekt des franquistischen Städtebaus» (S. 322ff).

Zu den «Arbeiteruniversitäten» sei kurz erläutert, dass es weder um Univer­sitäten noch um Berufsschulen im bei uns üblichen Verständnis ging, sondern um «totale Institutionen», wie der Soziologe Erving Goffman sagen würde. In ihnen wurden Internat, ideologische In­doktrination durch die Falange und die Kirche mit Sekundarstufe und Fachausbildung gekoppelt, um re­gimetreue Eliten heranzuziehen. Anfangs gehörte in einigen Einrichtung auch die landwirtschaftli­che Selbstversorgung dazu.

In den meisten Kapiteln werden typische Grundzüge des Städtebaus anhand herausragender Bei­spiele deutlich gemacht, wobei die Beispiele so gewählt sind, dass die städtebauliche Vielfalt deut­lich aufgezeigt werden kann. Beim Thema Wiederaufbau etwa, werden die im Bürgerkrieg zerstör­ten Städte Brunete, Guernica und Belchite genauer untersucht. Bei den «Arbeiteruniversitäten» wer­den von den 21 Einrichtungen dieses Typs zwei, die von Gijón und Cordoba, eingehend (aber nicht aus­schließlich) beleuchtet. Im Kapitel zur Altstadterneuerung werden Saragossa, Salamanca, San­tander, Santillana del Mar und Granada als Beispiele gewählt.

Im letzten Kapitel werden auf wenigen Seiten (S. 340-351) die wichtigsten Einsichten aus den vorherigen, eher deskriptiven Kapiteln aufgenommen und in eine Gesamtsicht der Formen und Funktionen des Städtebaus im frühen Franquismus (1939-1959) integriert. Die acht Anhänge sind ein gutes Mittel, den Haupttext zu entlasten und lesefreundlich zu gestalten. Es werden biografische Angaben zu den im Text genannten einflussreichen Städtebau-Experten jener Zeit gemacht; die Dekrete, Verordnungen und Gesetze, mit den der Städtebau politisch geordnet wurde, werden aufgeführt; die Archive und Sammlungen, denen das Bildmaterial entstammt, wer­den aufgelistet und erwartungsgemäß gibt es auch ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister. Im letzten Anhang erfährt man etwas mehr über die Autoren der Studie.

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis des Buches kann man online bei der Deutschen Bibliothek einsehen.

4. Adressaten der Studie

Idealtypisch lassen sich vielleicht vier Zielgruppen beziehungsweise Erkenntnisinteressen identifizieren, die das Buch befriedigen kann. Zum einen sind es die Archi­tekten, Architekturhistoriker, Raum- und Stadtplaner, denen ein in vielen Facetten vernachlässigtes Kapitel europäischer Städtebaugeschichte nahegebracht wird. Besonders mit den Kapiteln über den Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg, die Arbeiteruniversitäten, die Binnenkolonisation und den Städtebau in den westafrikanischen Kolonialgebieten wird die Aufmerksamkeit auf Themenfelder gelenkt, die in der Forschung bisher offenbar stark vernachlässigt worden sind.

Das Buch ist ebenso für Zeithistoriker und andere Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Franquis­mus als Herrschaftssystem befassen, überaus interessant. Mit dem Städtebau als Herrschaftsmittel wird ihnen eine üblicherweise kaum ausgeleuchtete Dimension eröffnet. Weiter bietet das Buch auch jenen etwas, die sich für die aktuellen Auseinandersetzung um die Erinnerungskultur in Spanien in­teressieren. Dabei ist die Frage, was man mit der baulichen Hinterlassenschaft der Diktatur macht (z.B. Abriss, Transformation, Rekonstruktion, Vergessen, Verdrängen, Neuinterpretation oder Verherrlichung, vgl. S. 38), für das gesamte bauliche Erbe Francos zu stellen – und nicht nur für das bekannte und vieldiskutierte Tal der Gefallenen.

Schließlich bietet der Band auch den städtebaulich interessierten Touristen, die durch die spanischen Lande rei­sen oder Städte besichtigen möchten, durchaus Überraschendes. Wenige wer­den wissen, dass das berühmte gotische Viertel in Barcelona, wie es heute dem Besucher erscheint, weitge­hend während der ersten Hälfte der Diktatur gestaltet wurde, oder dass der bekannte mit Deutschem Werkbund und Bauhaus verbundene Architekt Otto Bartning 1942 in Barcelona eine Kirche für die Deutsche (nazifreundliche) Evangelische Gemeinde erbaute, oder dass es mit dem zwischen 1940 und 1945 in Saragossa errichteten Kirchenkomplex San Antonio de Padua mit Kirche, Kloster und Mausoleumsturm eine besondere Bewandtnis hat. In dem Turm ruhen nicht nur die sterblichen Überreste von etwa 3.000 Italienern, die im Bürgerkrieg gegen die Republik kämpften. Der Turm war und ist noch heute italienisches Hoheitsgebiet (vgl. S. 353). Auch die ausführlichen Kapitel zu Madrid und Bar­celona inklusive Stadtgeschichte, oder die Befassung mit den Neudörfern könnten neugierige Tou­risten inspirieren. Natürlich bieten auch die Informationen zum Wiederaufbau Guernicas (baskisch: Gernika) samt der unrühmlichen Vorgeschichte der Zerstörung der Stadt mit maßgeblicher deut­scher Beteiligung durch die Legion Condor, aber auch die Nachgeschichte des Gedenkens auf deut­scher und spanischer Seite, Anreize, sich den Ort genauer anzusehen.

5. Attribute des frühen Franquismus (1938-1959)

Zum Verständnis des Städtebaus im frühen Franquismus (1938-1959) ist eine gewisse Kenntnis ei­niger Eigenheiten der Franco-Diktatur nützlich. Das nötigte Hintergrundwissen wird von den Autoren in knapper Form in der Einleitung bereitgestellt. Einige Charakteristika des frühen Franquismus werden auch hier kurz vorgestellt, wobei den Autoren sinngemäß weitgehend gefolgt wird.

Es steht außer Zweifel, dass die Diktatur sich auf die Macht des Militärs, der Kirche, der Mon­archisten und der Falange stützte, und das Wohlwollen der Großgrundbesitzer, der Industrie- und Finanzoligarchie genoss (vgl. S. 31). Die Diktatur verstand sich nicht als bloß restaurativ. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Reformbedürftigkeit Spaniens gerade in der Wirtschaft unter dem Begriff «regeneracionismo» diskutiert. Dieses Problembewusstsein teilte der Franquismus mit allen vorherigen Regierungen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Im frühen Franquismus war es die besonders vom italienischen Faschismus inspirierte Falange, die der Entwicklungspolitik ihren Stempel aufdrückte.

Die aus einem Militärputsch und dem Bürgerkrieg hervorgegangene Diktatur setzte bis Ende der 50er Jahre die Unter­scheidung von Siegern und Besiegten gnadenlos durch und perpetuierte sie. Zwischen den stigmati­sierten Besiegten des republikanischen Lagers einerseits und den markierten Siegern andererseits, also der Gefolgschaft aus Überzeugungstätern und direkten Profiteuren, gab es noch viele Personen, die in dem Klima von materieller Not und Repression ihr tägliches Überleben oder die Verbesserung ihrer Lage zu sichern suchten. Von daher gab es nicht wenige, die sich genötigt sahen, Angebote der sozialen Integration (auf der Siegerseite) anzunehmen. Das gilt auch für nicht wenige Archi­tekten. Die vom Regime eingeforderte Folgsamkeit und Loyalität schließt eine Ablehnung der Diktatur aber nicht unbedingt aus. Wie es in einer anderen Buchbesprechung im Spanienecho hieß: «Es gab viel Antifranquismus im Franquismus». Auch das dürfte für einige Architekten gelten (vgl. dazu auch den Hinweis in der Studie auf die Distanz der Architektenkammer Kataloniens zur Franco-Diktatur auf S. 192).

Auf der Ebene der Ideologie waren in jener Zeit (bis 1959) der Nationalsyndikalismus und der Natio­nalkatholizismus vorherrschend. Ohne ins Detail zu gehen, gemeinsam war beiden ein übersteigerter Nationalismus, ein antiparlamentarisches, hierarchisches und ständisches Ordnungs­denken, eine Glorifizierung vergangener historischer Größe und des ländlichen Raums (gegenüber der Stadt). Gemeinsam war beiden auch die manichäische Radikalisierung in Denken und Handeln, sowohl während des Krieges als auch in den zwei Jahrzehnten danach.

Der nationalsyndikalistische Diskurs war stark von faschistischen Ideen geprägt, was eine gewisse Anerkennung der sozialen Frage, der Interessen der (loyalen) Werktätigen und der Notwendigkeit staatlich gelenkter wirtschaftlicher Entwicklung beinhaltete ‒ mit einer Vorliebe für Großprojekte, in denen vormoderne Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und Infrastrukturverbesserung kurzge­schlossen wurden. Demgegenüber war der Nationalkatholizismus ein rückwärtsgewandter Fun­damentalismus, der die Trennung von Kirche und Staat rückgängig machen und einen konfessionel­len Staat errichten wollte, was im frühen Franquismus tatsächlich gelang.

Auf der Ebene der Sprache war die katholisch reaktionäre Metaphorik besonders präsent: der Bürgerkrieg wurde zum Kreuz­zug, der Diktator wurde mit Gottesgnadentum ausgestattet, die Gegner wurden mit Begriffen wie Anti-Christ, Anti-Patria und Anti-España verteufelt. In dieser ideologisierten Wirklichkeit, um ein für den Städtebau relevantes Beispiel zu wählen, mutierte die Ausbeutung durch Zwangsarbeit zur «Erlösung von Strafen durch Arbeit». Das dem Justizministerium unterstehende, die Zwangsarbeit steuernde Gremium hatte bezeichnenderweise (ab 1942, vgl. S. 327) den aufgeblasenen Namen: «Zentralpa­tronat Unserer Lieben Frau der Gnade für die Erlösung von Strafen durch Arbeit» (Patronato Cen­tral de Nuestra Señora de la Merced para la Redención de las Penas por el Trabajo). Nach 1945, dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Krieges, waren die Nationalsyndikalis­ten und ihre Ideologie vor allem international nicht mehr präsentabel, behielten aber im Innern noch über Jahre beachtlichen Einfluss etwa in der Lohnpolitik, aber auch in der Siedlungs- und Entwicklungspolitik.

6. Probleme des Städtebaus und ideologisch geprägte Lösungen

Der Städtebau jener Zeit hatte, jenseits ideologischer Erfordernisse, auf eine Reihe handfester Probleme zu antworten, die die Autoren mit Zahlen unterfüttern.

Der Wiederaufbau zerstörter Städte bezog sich auf etwa 200 Orte (S. 72, S. 348). Ende des Bürgerkriegs waren 192 Ortschaften mindestens zu 60% zerstört (S. 48). Die Eindämmung der Landflucht durch Förderung der Landwirtschaft wurde als weiteres dringendes Problem gesehen. Binnenkolonisation und Verbesserung der Infrastruktur auf dem Lande, insbe­sondere durch den Wasserbau, waren die Antworten. Im Rahmen der Binnenkolonisation wurden bis 1959 etwa 200 Neudörfer angelegt, nach 1960 noch weitere 95 (S. 296, S. 302). Betrachtet man Bewässerung und Elektrizitätsgewinnung als wichtige Elemente der Infrastrukturverbesserung, dann kann der Bau von Staudämmen als brauchbarer Indikator dienen: 1939 gab es 180 Staudäm­me; in den Jahren 1943-1954 kamen 100 weitere Staudämme dazu, und in den Folgejahren 1955-1970 nochmals 276 (S. 255f).

Ein weiteres unübersehbares Problem stellte die Wohnungsnot in den Großstädten dar, die sich an den zahlreichen informellen Siedlungen zeigte. Allein in Madrid gab es Anfang der 1950er Jahre 30 Elendssiedlungen, in denen etwa 400.000 Personen lebten (S. 153). Dieses Problem wurde nur unzureichend angegangen. Stattdessen wurde der Wohnungs- und Städtebau für Personenkreise gefördert, die man an das Regime binden wollte. Der Wohnungs- und Städtebau (auf dem Lande) wurde als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um die Gefolgschaft des Diktators zu beloh­nen, indem Loyalität gegenüber dem Regime mit bevorzugter Wohnungs- oder Landvergabe prä­miert wurde.

Eine weitere Aufgabe des Städtebaus war der Aufbau einer «Infrastruktur der Unterdrückung», wor­auf die Autoren ausführlich für Madrid (S. 166ff) und Barcelona (S. 205ff) eingehen. Gemeint sind damit Haftanstalten, Konzentrationslager, Hinrichtungsstätten. Genutzt wurden vorhandene Gefängnisse, modernste Haftanstalten wurden neu errichtet, andere vorhandene Gebäude wurden für den Zweck der Repression umgewidmet, Friedhöfe wurden als Hinrichtungsstätten mißbraucht.

Eine Funktion des Städtebaus, vermutlich in allen Diktaturen, ist es, Erinnerungsorte zu schaffen. Zu den bekanntesten Erinnerungsorten des franquistischen Spaniens gehören das Tal der Gefallenen nordwestlich von Madrid, der Siegesbogen in Madrid (arco de la victoria) und die wiederaufgebaute Festung (der Alcázar) in Toledo. Aber auch die Art, wie im Krieg zerstörte Städte wieder aufgebaut und vorgezeigt werden, erfüllte neben der des Wiederaufbaus eine propagandistische Funktion. Die Autoren zeigen das anhand von drei legendären Kriegsschauplätzen des Bürgerkriegs (Brunete, Belchite und Guernica).

Der Städtebau war in vielerlei Hinsicht ideologisch geprägt und spiegelte ein rückwärtsgewandtes Weltbild: Heraufbeschwören der großen imperialen Vergangenheit, eine Präferenz für den ländli­chen Raum, Zentralismus der Hauptstadt Madrid, Erinnerungsorte im Umkreis der Hauptstadt (S. 161), eine Präferenz für die Plaza Major, an der die staatstragenden Einrichtungen wie die Falange und ihre Gewerkschaftsorganisation, Poli­zei, Rathaus und Kirche demonstrativ in Szene gesetzt wurden. Letztlich gab es kaum ein städte­bauliches Projekt im Franquismus, das ohne Kirche ausgekommen wäre ‒ egal ob es um Arbeiteruniversitäten, Wohnviertel oder Neudörfer ging. Der rückwärtsgewandten Gesellschaftspolitik korrespondiert auch eine «erhaltende Altstadterneuerungspolitik» (S. 345) für mittlere und kleinere Städte.

Es gab sogar einen von der Falange präferierten Baustil, den Escuralismo, ein an der Architektur des Esco­rial orientierter strenger, neoklassischer Stil (S. 212). Die Arbeiteruniversität in Gijón ist dafür eines der bekanntesten Beispiele. Der Escuralismo stellte aber nur eine Variante innerhalb einer Vielzahl praktizierter Baustile dar. Zu ergänzen ist ferner, dass das Regime auch die eigene Modernität unter Beweis stellen wollte, ablesbar etwa am Bau von Hochhäusern in Madrid, dem industriellen Städtebau in Barcelona oder dem Bau moderner Flughäfen und riesiger Fußballstadien.

7. Grenzen des Einflusses der Falange auf den Städtebau

An die Aussage zur Vielfalt der Architekturstile knüpft eine außerordentlich interessante These der Autoren zur Rolle der Architekten und Städtebauer im Franquismus an. Unter den Architekten des Regimes gab es entschiedene Franco-Anhänger und solche, die die Chance in ihrer Profession tätig zu sein, ergriffen: «Dem Franquismus gelang es, das technische Können und die gestalterische Kreativität der spanischen Architektenschaft schon früh und in beträchtlichem Maße für sich zu mobilisieren» (S. 344). Das ermöglichte der weitgehend falangistisch geprägten Administration, «die in ihren Reihen fehlende fachliche Kompetenz auszugleichen» (S. 345). Im Ergebnis kam es dadurch zu einer Vielzahl an Formsprachen und Baustilen bei hoher fachlicher Qualität, was besonders sinnfällig an den Arbeiteruniversitäten und Kolonistendörfern gezeigt wird. Über die Architekten wurde auch eine Kontinuität mit bereits existierenden Plänen und Projekten gesichert, die nicht originär franquistisch waren, sondern wie die Bebauungspläne für Madrid und Barcelona eine lange Vorgeschichte hatten. Eine weitere Quelle der städtebaulichen Vielfalt ist darin zu sehen, dass diese Städtebauer die internationale Diskussion kannten und sich zudem von den Produkten anderer Diktaturen inspirie­ren lassen konnten. Insgesamt sehen die Autoren den Städtebau dieser Zeit «in den Städten wie auf dem Land als eine traditionelle Variante der Moderne, die auch das faschistische Italien wie die So­wjetunion Stalins prägte» (S. 346).

Kennzeichnend für die Herrschaft des Franquismus ist auch, wie die Analyse der Autoren zeigt, dass selbst dort, wo die Falangisten soziale Anliegen im Städtebau umsetzen wollten, es am Ende zu einer Umverteilung und Begünstigung der bereits Wohlhabenden kam. Beispiel 1: Es gab eine staatliche Förderung für den Bau von Mietwohnungen für Mittelschichten, von der auch private Unternehmen über Steuerbegünstigungen profitierten (S. 145). Steigenden Mieten begegnete das Regime zunächst durch eine Mietpreisdeckelung und dann durch ein Verbot von Mieterhöhungen. Dadurch wurde der Bau von Mietwohnungen von den privaten Unterneh­men nicht mehr als attraktiv angesehen, und das führte dazu, dass diese Wohnungen dem Mietmarkt entzogen und an Wohlhabende verkauft wurden. Beispiel 2: Insgesamt wurden von 1939 bis 1975 beachtliche 1.635.000 Hektar Land durch staatlich finanzierte Maßnahmen bewässert. An Siedler der Neudörfer wurden davon nur 149.358 Hektar verteilt (S. 249). «Die Hauptprofiteure waren nicht die Sied­ler, sondern die Besitzer großer landwirtschaftlicher Güter, die eine gewaltige Aufwertung er­fuhren» (ebd.) – nach Schätzungen eine Steigerung von 1.200 bis 2.000 Prozent gegenüber dem Vorkriegswert.

8. Drei kritische Anmerkungen und ein Wunsch

Die Autoren gehen von einer «kritischen Leserschaft» aus (S. 39). Vier Punkte, bei denen es nicht um grundsätzliche Kritik geht, sondern um Nuancierungen und Klärungsbedarf, sollen hier angesprochen werden. Bei den drei Anmerkungen geht es darum, prägnante Formulierungen der Autoren zu hinterfragen, zunächst den Haupttitel des Buches «Städtebau als Kreuzzug Francos», dann den Titel des Schlusskapitels, das die Ergebnisse synthetisieren soll «Städtebau unter Franco. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln». Schließlich wird noch eine zentrale Aussage diskutiert: «Der Städtebau […] erweist das Re­gime als offen repressive Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs» (S. 341). Der Wunsch bezieht sich auf eine Erweiterung der Abschnitte zur „Infrastruktur der Unterdrückung“. Wer kein besonderes Interesse an kleinteiligen Auseinandersetzungen um Worte und Begriffe hat, mag diesen Teil der Rezension überspringen, und gleich zum Fazit übergehen.

(1) Der Haupttitel des Buches «Städtebau als Kreuzzug Francos» ist irritierend, zumal die Autoren nicht explizieren, wie der Titel verstanden werden soll. Ein deutscher Leser mag zunächst an die Kreuzzüge des Mittelalters denken. Im Kontext der Franco-Diktatur stammt der Begriff Kreuzzug (cruzada) ohne Frage aus der ideologischen Kiste des Nationalkatholizismus, und wurde verwendet, um damit den Kampf der Aufständischen gegen die Zweite Republik und den Sieg im Bürgerkrieg zu sakralisieren. Cruzada ist in dem ideologischen Kontext ein Synonym für den Bürgerkrieg. Nach der cruzada beginnt eine neue Etappe, die auch von den Protagonisten und Propagandisten der Diktatur nicht mehr als cruzada bezeichnet wird. Den Worten der Sektion Architektur der Falange aus dem Jahr 1939 folgend, stand nach dem Kreuzzug das «großartige Problem des Wiederaufbaus Spaniens» (vgl. S. 340) an. Nach dem militärischen Sieg kam es darauf an, die Herrschaft zu sichern. Damit war durchaus auch die Aufgabe verbunden, wie man bei den Autoren lernen kann, die neue Herrschaft im ganzen Territorium mit Mitteln des Städtebaus zu manifestieren, durch neue Straßennamen, Gedenktafeln, Monumente des Sieges, Sakralbauten, Wiederaufbau zerstörter Städte, Stauseen, Neudörfer, Arbeiteruniversitäten und anderes mehr. Von daher wäre ein Titel, der die Sicherung der diktatorialen Herrschaft durch den Städtebau direkt zum Ausdruck gebracht hätte, möglicherweise treffender gewesen.

(2) Die Überschrift des letzten, die Ergebnisse der Untersuchung resümierenden Kapitels «Städtebau unter Franco. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln» (S. 340) ist sicherlich aufrüttelnd gemeint, bringt aber die wesentlichen Einsichten der Studie gar nicht auf den Punkt. Die Nachkriegszeit in Spanien war geprägt durch Massenarmut, politische Verfolgung, Staatsterror und Massenmord, Ausbeutung durch Zwangsarbeit sowie weitere Formen sozialer Ausgrenzung und Exklusion der ehemaligen Gegner. Von daher kann metaphorisch durchaus von einer Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln gesprochen werden. Aber realiter fanden die Untaten und zahllosen Menschenrechtsverletzungen des Franquismus in diesen Jahren gerade nicht mehr in einem Krieg statt, der immer zwei bewaffnete Lager, die sich im Kampf befinden, voraussetzt. Das war hier nicht mehr der Fall und deshalb wiegen diese Verbrechen noch schwerer. Die Drastik der gewählten Metapher erweist sich gegenüber der Realität als noch zu harmlos.

Herrschaftssoziologisch ging es nach 1939 in erster Linie um Herrschaftssicherung und Veralltägli­chung der im Krieg aufgebauten charismatischen Herrschaft Francos im Interesse seiner Anhänger, um die Erweiterung der sozialen Basis des Regimes und um die Integration weiterer, für die Stabilisierung der Herrschaft wichtiger Kreise. In der problematisierten Überschrift kommt die Wechselbeziehung von Repression und sozialer Integration nicht mehr zum Ausdruck. Die offenkundige Re­pression derer, die auf Seiten der Republik gekämpft hatten, erzeugte auch einen außerordentlicher Anpassungs- und Konformitätsdruck bei allen anderen. Es war die Angst vor Repressalien im Verein mit Aussichten auf verbesserte Lebenschancen, die das Regime einsetzte, um seine soziale Basis zu erweitern.

Der Städtebau ist das Paradebeispiel, wie Repression und Integrationsangebote in der Praxis der Diktatur zusammen gehörten. Auf der einen Seite steht die Errichtung einer «Infrastruktur der Unterdrückung», der massive Einsatz von Zwangsarbeit im Baubereich und bei der Verbesserung der städtischen und ländlichen Infrastruktur, der Ausschluss von günstigem Wohnraum und Land, und die große Armut im ganze Lande, die deutlich an den vielen Elendsvierteln ablesbar ist und auf einen unsozialen Wohnungsbau hinweist. Auf der anderen Seite war die Diktatur bestrebt, ihre Gefolgschaft zu bedienen und auszuweiten: das fängt beim modernisierenden Wiederaufbau zerstörter Städte an und dem Bau anständiger Stadtwohnungen für die Bürokratie des Neuen Staates und die Mittelschichten, die man zu gewinnen hoffte. Das setzt sich in der Binnenkolonisation mit den zahlreichen Neudörfern für die integrationswillige Landbevölkerung fort und zeigt sich ebenso beim Bau der Arbeiteruniversitäten für den Elitenachwuchs aus kleinen Verhältnissen. Das Überraschende ist am Ende, wie durchdacht und politisch zielge­richtet die Eliten die verschiedenen Funktionen des Städtebaus zur Stabilisierung ihrer Herrschaft zu nutzen wussten. Das ist die wichtige Erkenntnis der Autoren, die in der Überschrift und der Rede von der «Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln» verloren geht.

(3) Auch der Begriff der «Entwicklungsdiktatur», den die Autoren zur Charakterisierung dieser frühen Phase der Diktatur ins Spiel bringen, ist zu diskutieren: «Der Städtebau […] erweist das Re­gime als offen repressive Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs» (S. 341).

Zum einen kann argumentiert werden, dass seit den Jahren des Regenerationismus alle spanischen Regierungen sich mit dem Problem nachholender Entwicklung konfrontiert sahen. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Entwicklungsgedanke zwar im Diskurs der Falange eine bedeutende Rolle spielte, dass die Realität des Franquismus als Regime aber durchaus auch andere Prioritäten kannte, wie von den Autoren selbst an zwei Beispielen aufgezeigt wurde: dem Scheitern des geförderten Mietwohnungsmodells zugunsten privater Bauunternehmer und den Bewässerungsmaßnahmen zugunsten von Großgrundbesitzern.

Drittens, nur im Städtebau war es möglich gewesen, mit wenig technisierten Methoden, traditionellen Materialien und Bauweisen (ohne Stahl und Beton), guten Architekten, viel Handarbeit und Zwangsarbeit qualitativ hochwertige Ergebnisse hervorzubringen. Dieses low-tech-Modell war nicht auf andere Sektoren, mit anderen technischen und qualifikatorischen Voraussetzungen für Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, übertragbar. Aus den Leistungen im Städtebau und Infrastrukturaus­bau lässt sich deshalb nicht auf die allgemeine Entwicklung der Wirtschaft schließen und von daher qualifiziert sich auch das Regime als Ganzes nicht als Entwicklungsdiktatur. Anders gesagt: Nur im von den entwicklungspolitischen Vorstellungen der Falange geprägten Sektor des Städtebaus wurde das Modell einer offen repressiven Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs mit einem gewissen Erfolg umgesetzt. Die Erfolge auf dem Sektor Städtebau reichen, so die hier vertretene Ansicht, nicht aus, um das Regime insgesamt als Entwicklungsdiktatur zu erweisen.

Man kann sogar noch weiter gehen: die Produktivität in Landwirtschaft und Industrie war im frühen Franquismus extrem niedrig und blieb es. Das Wirtschaftsmodell insgesamt scheiterte. Die staatlich gelenkte Wirtschaft geriet 1956 in eine systemgefährdende Krise, aus der erst eine neue wirtschaftsliberale Politik herausführte, mit neuem politischen Personal, Stabilisierungsplan, veränderter Ideologie und Inte­gration in die Weltwirtschaft, Investitionen aus dem Ausland, Arbeitsemigration etc. (vgl. zur Tiefe der Krise Anna Catharina Hofmann: Fran­cos Moderne. Technokratie und Diktatur in Spanien 1956-1973. Göttingen 2019: Wallstein Verlag). In der Literatur wird bezogen auf den Franquismus deshalb meistens erst für die Zeit nach 1959 von Entwicklungsdiktatur gesprochen, wobei es durchaus strittig ist, ob damit nur auf die Selbstbeschreibung, also die neue Legitimationsideologie des desarrollismo, abgezielt wird, oder gemeint ist, der späte Franquismus sei politologisch und herrschaftssoziologisch korrekt als Entwicklungsdiktatur zu bezeichnen.

Viertens und abschließend: Es ist bemerkenswert und wichtig, dass in dem Buch auch die bauliche Infrastruktur der Unterdrückung und die Bedeutung der Zwangsarbeit für den Städtebau thematisiert wird – insbesondere in den Ka­piteln über Madrid, Barcelona und das Tal der Gefallenen. Dieser Themenkomplex könnte weiter ausgebaut werden, indem ausführlich auf die Errichtung und die Nutzung der zahlreichen Lager (von 194 Konzentrationslagern ist die Rede, S. 166) eingegangen würde. Auch wenn die Stadtforscher das nicht als ihr Aufgabengebiet sehen würden, wären doch mehr Informationen zu den zahlreichen informellen Siedlungen (vulgo Slums oder chabolas) und der darauf bezogenen Politik durchaus wünschenswert, um das gesamte Wohnungswesen im frühen Franquismus besser zu überschauen.

9. Fazit

Das Werk kann nicht nur jedem, der sich wissenschaftlich für den Städtebau und gesellschaftliche Entwicklungen in Spanien interessiert, sondern auch einem breiteren Publikum zum Schauen, Lesen und Studieren empfohlen werden. Der Stil ist sachlich-nüchtern, der Aufbau gut durchdacht und das Lektorat muss außerordentlich sorgfältig gearbeitet haben. Es ist in dieser detailreichen Studie außerordentlich viel über den Städtebau Spaniens von 1938 bis 1959 in seinen zahlreichen Facetten und Funktionen zu erfahren, wobei gerade auch auf fast vergessene Themen, wie die Binnenkolonisation oder die Arbeiteruniversitäten, ausführlich eingegangen wird. Für die unterschiedlichen städtebaulichen Handlungsfelder wird herausgearbeitet, wie der Städtebau als Herrschafts­mittel im Franquismus eingesetzt wurde. Die überzeugende Verzahnung von Städtebau und Herr­schaftsform ist ein besonderes Verdienst der Arbeit. Herauszustellen ist aber auch, dass die Autoren die Vielfalt der anzutreffenden Baustile und Stadtanlagen herausarbeiten und erklären. Da­bei spielen die nicht dem präferierten Stil der Falange verpflichteten Architekten eine große Rolle, die einerseits Kontinuität zum Vor-Franco-Städtebau herstellen konnten, und die andererseits die internationale Fach­diskussion und Entwicklungen im Städtebau anderer europäischer Diktaturen kannten und berücksichti­gen konnten. Schließlich soll noch einmal betont werden, dass die Autoren das Studium der Städteb­augeschichte mit der aktuellen Frage verbinden, wie mit dem baulichen Erbe des Franquismus umgegangen wird oder werden sollte.

Dem Buch sind viele Leser zu wünschen, und es wäre zu hoffen, dass es in der deutschsprachigen aber auch in der spanischen Fachöffentlichkeit (und darüber hinaus) Resonanz erzeugte und einge­hend diskutiert würde. Auf den Listen der besten Sachbücher hätte diese Studie einen her­ausragenden Platz verdient.


Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hrsg.):
Städtebau als Kreuzzug Francos. Wiederaufbau und
Erneuerung unter der Diktatur in Spanien 1938–1959
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Berlin: DOM Publishers 2021, ISBN: 978-3-86922-527-2

Jordi Amat: El hijo del chófer | Der Sohn des Chauffeurs

Über Alfons Quintà und ein katalanisches Kapitel der Universalgeschichte der Niedertracht

Rezension von Knud Böhle

1. Ein Buch, das an der Zeit ist

Es ist eher unwahrscheinlich, dass das literarische Sachbuch (no ficción literaria, S. 251), das Jordi Amat im November 2020 veröffentlicht hat, jemals ins Deutsche übersetzt wird. Das ist bedauerlich, weil auch in Deutschland viele, die weder spanische noch katalanische Bücher le­sen können, gerne mehr über Entwicklungen in Katalonien und den politischen Katalanismus (katalanischen Nationalismus) wüssten.

Jordi Amat ist einer der besten Kenner der katalanischen Kultur und der politischen Entwicklun­gen in der Region. Er ist von daher ein idealer Führer durch das national-katalanische Laby­rinth, ein Subsystem des spanischen Labyrinths (vgl. S. 194). Offenkundig war eine spannend geschriebene, faktenreiche Arbeit zu diesem Themenkomplex in aufklärerischer Absicht (vgl. dazu das Nach­wort des Autors S. 249-252) in Spanien an der Zeit. In wenigen Monaten brachte es das Buch in beiden Sprachen (Spanisch und Katalanisch) auf sechs (Stand 4.3.2021) bzw. zehn Auflagen (Stand 13.4.2021). Die Medienreso­nanz war außerordentlich. Die etwa zwanzig Besprechungen, die ich mir angesehen habe, waren positiv, manche sogar überschwänglich. Auf negative Kritiken bin ich noch nicht gestoßen. Ge­lobt wird allenthalben die schriftstellerische Qualität und mindestens ebenso die intelligente Analyse der jüngsten Geschichte Kataloniens (besonders der transición, des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nach Francos Tod). Hervorzuheben ist auch die intensive Recherchear­beit, die das Buch erst ermöglichte. In einer Rezension wird von etwa 70 Interviews gesprochen, die Jordi Amat führte und etwa 600 Dokumenten, die für das Buchprojekt herangezogen wurden (vgl. Carles Geli in: El País vom 11.11.2020). In dem Buch treten weit mehr als 100 namentlich genannte Personen auf.

2. Worum genau geht es in dem Buch?

Der Titel des Buches «Der Sohn des Chauffeurs» sagt zunächst noch nicht viel. In der katalani­schen Ausgabe kommt ein erläuternder Untertitel dazu: «Die geheimen Fäden der Macht: Auf­stieg und Fall des Alfons Quintà». Auf den Spuren eines ebenso ehrgeizigen wie psychopathi­schen katalanischen Journalisten, und sagen wir es gleich, auch Mörders, schlägt Jordi Amat eine Schneise durch die neuere Geschichte des politischen Katalanismus, die auch eine Geschichte der Macht ist: politischer, ökonomischer und nicht zuletzt auch von Medienmacht (die vierte Macht neben Exekutive, Legislative und Judikative). Jordi Amat nimmt seine Leser bei der Hand und führt sie durch das katalani­sche Labyrinth vorbei an Regierungspalästen, Banketagen, Chefredaktionen und Kloaken der Macht. Das ansonsten unentwirrbare Netz aus zahllosen Kommunikationen und Aktionen – solcher die im Licht der Öffentlichkeit stattfinden und solcher, die dieses Licht gerade scheuen – wird in eine kriminalistisch angelegte, detailreiche Erzählung überführt, die an wichtigen Stationen der katalanischen Po­litik in die Tiefe geht. Da es sich um eine Geschichte von Machtverhältnissen handelt, spielen sich viele Ereignisse außerhalb des Rechts, der Wahrheit und der Öffentlichkeit ab, und sind folglich wie bei jedem Kriminalfall zunächst intransparent. Jordi Amat geht investigativ vor, wie ein Detektiv, der aus Zeugenaussagen und Indizienbeweisen eine komplexe Geschichte rekonstruiert.

Alfons Quintà war ein knappes Jahrzehnt lang ein äußerst einflussreicher Journalist und Medi­enmacher in Spanien. Sein Lebensweg, die Biografie einer infamen Person, und die schmutzigen Seiten einer national-katalanischen Episode werden in dem Buch ineinander verwoben. In ge­wisser Weise schlüpft der auktoriale Erzähler Jordi Amat in die Rolle eines Meisterdetektivs vom Typ Hercule Poirot, der nach abgeschlossener Untersuchung dem staunenden Publikum er­läutert, wie die Puzzlestücke zusammenpassen. Überlegungen zur Macht allgemein und zur Me­dienmacht im Besonderen stehen im Zentrum des Erklärungsansatzes. Erstens: Macht lässt sich als die Herstellung erwünschter Wirkungen definieren (S. 24). Da muss es weder legal noch transparent zugehen. Zweitens: Medien sind die vierte Macht und erfüllen als solche eine demo­kratische Funktion. Der Theorie nach sind sie unabhängig, in der Praxis aber nicht (vgl. S. 111). Interesse, Instrumentalisierung und Korruption kommen ins Spiel: Welcher wirtschaftlichen oder politischen Macht nützt die Veröffentlichung einer bestimmten Nachricht? Wer ist daran in­teressiert, dass eine bestimmte Nachricht unterdrückt wird? Wer liefert mit welchem Interesse Informationen an welche Medien? Dazu kommt die generelle Überlegung, dass sich die politi­sche Macht dessen bewusst ist, dass sie Medien benötigt, die ihr Trachten nach politischer und kulturel­ler Hegemonie unterstützen.

3. Die Protagonisten der Geschichte: Alfons Quintà und Jordi Pujol

Es treten auf: Alfons Quintà (1943-2016), der Sohn des Chauffeurs; Jordi Pujol (*1930), der Sohn eines Bankiers; die vierte Macht (Hörfunk, Presse, Fernsehen) mit El País und TV3 in herausgehobe­ner Stellung; die Banca Catalana als Inbegriff der ökonomischen Macht; die politische Macht mit den Regierungen in Madrid und der regionalen Regierung in Katalonien (Generali­tat) als Kraftzentren. Dazu kommen zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten (Hintermänner, Strohmänner, Intellektuelle, graue Eminenzen, Staatsmänner etc.). Der Glutkern der Geschichte ist der Fall Banca Catalana, den Alfons Quintà skandalisieren und den Jordi Pujol unter dem Ra­dar der Öffentlichkeit halten will. Hier soll nicht der gesamte Inhalt des vielschichtigen und vielfädigen Buches wiedergegeben werden, aber einige Worte zu den beiden Protagonisten Quintà und Pujol und zum Fall Banca Catalana sind nötig, um das Machtknäuel anzudeuten, um dessen Entwirrung es Amat geht.

Alfons Quintà kam aus kleinen Verhältnissen, erlebte eine unglückliche Kindheit, in der nicht allein die Schläge des Vaters Verletzungen und Narben hinterließen. Er durchlebte eine turbulente Jugend, erst als Halbstarker und etwas später als Linksradikaler. Seine journalistische Laufbahn beginnt Mitte der 60er Jahre mit Arbeiten für Associated Press, Le Monde und die New York Times. Seinen ersten Zeitungsartikel in Spanien veröffentlichte er 1969.

Das Pfund, mit dem er wuchern konnte, waren seine Kontakte zum konservativen Katalanismus, die über seinen Vater vermittelt waren, der es vom Handlungsreisenden in Sachen Textil zum Chauffeur, Sekretär und Vertrauten des katalanischen Schriftstellers Josep Pla gebracht hatte. Übrigens ist Pla als Schriftsteller in Deutschland kein Unbekannter. Neben einigen Erzählungen wurden die bekannten Bücher Enge Straße (Ammann Verlag), Das graue Heft (Suhrkamp Verlag) sowie die Künstlerbiografien über Dalí und Gaudí (Berenberg Verlag) übersetzt.

Josep Pla war das Zentrum einer Art politischer Tafelrunde einflussreicher Leute, die an der Stär­kung der Position Kataloniens in Spanien interessiert waren. Amat spricht in Anspielung auf die Tafelrunde des Königs Artus vom «Camelot de Pla». Was da verhandelt und unternommen wur­de, bekommt auch Alfons Quintà mit, und vor allem nützt ihm dieses Elite-Netzwerk bei seiner Karriere. In der eindrücklichen Beschreibung dieser Tafelrunde, findet sich auch eine für die Machtanalyse Amats wichtige Einsicht, die aus dem Kreis selbst kommt: Diktaturen korrumpieren alles, insbesondere lange andauernde Diktaturen. Man kann sie nur von innen bekämpfen, und das wiederum verlangt ein doppeltes Spiel, oder mit einem anderen Ausdruck: es gab viel Antifranquismus im Franquismus (vgl. S. 29f).

Quintà machte sich einen Namen bei Radio Barcelona als Direktor des ersten Nachrichtenpro­gramms auf Katalanisch (Dietari), das ab 1974 gesendet wurde. Es gelang ihm dann der Karriere­sprung zum Katalonien-Korrespondenten der Tageszeitung El País (1976). 1981 endete seine Karriere bei El País unfreiwillig (aber mit einer hohen Abfindung). Seine nächste prestigeträchtige Aufgabe war der Aufbau des ersten öffentlich-recht­lichen Fernsehsenders Kataloniens, TV3, ab Juni 1981. Dort verlor er seinen Posten als Direk­tor im Juni 1984. Wiederum erhält er eine hohe Abfindung. Nach seiner Entlassung zog er sich einige Jahre zurück, wurde dann wieder als Journalist und Medienmacher tätig, aber die Erfolge früherer Zeiten blieben aus.

Schlagzeilen machte er erst wieder, nachdem er sich mit derselben Schusswaffe das Le­ben nahm, mit der er zuvor seine Frau umgebracht hatte. Seine Frau lebte zu dem Zeit­punkt nicht mehr mit ihm zusammen, kümmerte sich aber um ihn nach einer Herzoperation. Diese scheußliche Tat bildete den Schlusspunkt eines wenig erbaulichen Lebenswegs. Quintà wird als gewalttätig, übergriffig, frauenfeindlich, aggressiv, sexistisch, ty­rannisch, gefräßig, maßlos, nachtragend, erpresserisch, rachsüchtig und autoritär beschrieben. Es sind diese Eigenschaften, so lesen wir, die seine Beziehungen zu Frauen ebenso wie seine Karriere immer wieder zerstört haben. Jordi Amat spart nicht mit oft geradezu absurden und grotesken Beispielen aus Quintàs Privat- und Berufsleben. Selbst nach seinem Tod hat anscheinend niemand ein gutes Wort für ihn übrig gehabt. Wir müssen uns Quintà nicht als ei­nen glücklichen Menschen vorstellen.

Jordi Pujol ist als öffentliche Person freilich viel be­kannter als Quintà. Er kam aus der katholisch-katalanischen Opposition gegen Franco. 1974 gründete er die bürgerlich-katalanistische Partei Convergència Democràtica de Catalunya. 1980 wurde er zum Präsidenten der Generalitat (Regierungschef Kataloniens) gewählt und löste damit seinen Vorgänger im Amt, Josep Tarradellas, ab, der für einen moderaten und konzilianten Katala­nismus stand. Pujol war dann ohne Unterbrechung bis 2003 Regierungschef. Er prägte eine ganze Ära, bekannt als pujolismo, in der das katalanische «nation building» (hacer país) als das alles überwölbende Vorhaben gelten kann. Ab 1984 bekam der pujolismo einen stark popu­listischen Zug: der Zentralstaat wurde zum Gegner erklärt, Politik wurde moralisiert und emotiona­lisiert, und viele Katalanen wurden mobilisiert (S. 173). Jordi Pujol begegnet uns außer­dem als ein wenig erfolgreicher Medienunternehmer, der erst mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TV3 (von Alfons Quintà aufgebaut) das bekam, was er als mediale Unterstüt­zung seiner politischen Macht anstrebte. Von 1980 bis 1986 musste er sich auch darum kümmern, dass der Fall Banca Catalana seine politischen Ambitionen nicht zerstörte. In der Banca Catala­na steckte das Vermögen des Vaters, das dieser während der Franco-Diktatur, teilweise durch il­legale Geschäfte, erworben hatte. Er selbst war in leitender Funktion in der Bank tätig.

4. Der Fall Banca Catalana als Lehrstück

Die Banca Catalana geriet Ende 1979 in finanzielle Schwierigkeiten, was damals nur wenige wussten. Alfons Quintà und ein Kollege berichteten darüber in El País am 29. April 1980 in ei­nem ersten Artikel einer als Dreiteiler angelegten kleinen Serie. «Ökonomische Schwierigkeiten der Bankengruppe von Jordi Pujol» lautete der Titel des ersten Teils, der in dem Buch in Gänze wiedergegeben wird (S. 100-105). Der gut recherchierte und informierte Text hatte das Potenzial, dem Ruf der Bank, ihren Aktionären und Einlegern sowie dem Ansehen des Politikers Pujol, der gerade die erste Regionalwahl in Katalonien gewonnen hatte, zu schaden. Ein fundierter Artikel dieser Art konnte nicht ohne geheime Informationen von Gegnern Pujols geschrieben, und nicht ohne die Zustimmung des damaligen Chefredakteurs von El País, Luis Cebrián, veröffent­licht werden. Die Banca Catalana intervenierte bei Cebrián, zuerst vermittelt über die spanische Zentralbank und später in einem direkten Gespräch mit den Herausgebern der Tageszeitung. Ce­brián sagte zu, einstweilen keine weiteren Folgen des geplanten Dreiteilers zu publizieren. Die geplanten Artikel erschienen auch nicht, aber die kritische Berichterstattung über die Banca Catalana wurde in kleineren Portionen noch bis Ende 1981 fortgesetzt. Erst als die Pläne von El País ge­reift waren, eine katalanische Ausgabe der Zeitung herauszugeben, musste Quintà seine Attacken einstellen. Seine Ambition, Chef der katalanischen Ausgabe von El País zu werden, wurde frustriert. Dies machte sich Jordi Pujol zu Nutze, der nun dem bis dato entschiedenen Anti-Pujolisten Quintà anbot, Direktor des ersten öffentlich-rechtlichen katalanischen Fern­sehsenders zu werden. Der nahm an, baute den Sender auf, und gleichzeitig verstummte mit dem Wechsel ins Lager der Pujolisten seine Kritik an der Banca Catalana.

Die Kritik an der Banca Catalana flammte aber 1984 an anderer Stelle wieder auf, als sich der spanische Generalstaatsanwalt mit dem Fall zu befassen begann. Die konkrete Untersuchung der Vorwürfe gegen die Banca Catalana wurde vorschriftsmäßig von zwei zuständigen Staatsanwäl­ten in Barcelona durchgeführt. Diese kamen zu der Auffassung, dass ein Strafverfahren gegen die Banca Catalana zu eröffnen sei, bei dem es unter anderem auch um die persönliche Bereiche­rung einiger Insider, darunter Jordi Pujol, zu gehen habe, die – während die Bank auf die Insol­venz zusteuerte – auf Kosten der Einleger und Steuerzahler, noch Vermögen für sich privat bei­seite geschafft hätten. El País erhielt entsprechende Informationen und berichtete unverzüglich darüber.

Und nun passierte etwas höchst Unwahrscheinliches: Jordi Pujol, der bei den Wahlen in Katalonien vom 29.4.1984 die absolute Mehrheit erlangt hatte, ging zum Gegenangriff über und drehte den Spieß um. Derjenige, der auf die Anklagebank sollte, klagte an und stellte sich und Katalonien als Opfer einer Kampagne des Zentralstaats, der sozialistischen Regierung und der die Regierung stützenden Medien dar. Das gipfelte am 30. Mai 1984 in einer Rede (selbstverständlich in Katalanisch) auf einer gut vorberei­teten Massenkundgebung anlässlich seiner Einsetzung als Präsident: «Ich möchte etwas klarstel­len: Die Madrider Regierung, genauer gesagt die Zentralregierung, hat ein unwürdiges Spiel getrieben, und von nun an, wenn jemand über Ethik und faires Spiel spricht, werden wir es sein» (vgl. S. 177). Diese Rede kann als Wendepunkt zum populistischen Katalanismus angesehen werden, der mit dem Opfer-Narrativ, einfachen Feindbildern und emotionalisierter Politik ein­hergeht (vgl. S. 173).

Es gab auch danach durchaus noch Journalisten, die sich für den Fall der Banca Catalana inter­essierten. Diese wurden, wie in dem Buch an einem Beispiel verdeutlicht wird, in ihrer Arbeit behindert. Die Ergebnisse ihrer Recherchen erschienen erst nach erheblicher Verzögerung im Sommer 1985. Zudem war der veröffentlichte Text ohne Wissen der Autoren um entscheidende Passagen gekürzt worden. Die politi­sche Großwetterlage hatte sich verändert. In Madrid regierten die Sozialisten mit absoluter Mehr­heit. Felipe González war Ministerpräsident: felipismo in Madrid, pujolismo in Barcelona. Der Chefredakteur von El País liess im Oktober 1985 seine Mitarbeiter in Katalonien wissen, dass das Thema Banca Catalana nicht weiter verfolgt werden müsse. Die Staatsanwälte aus Barcelo­na, die noch mit dem Fall betraut waren, gerieten unter Druck. Im September 1986 trafen sich González und Pujol persönlich. Die Sache sollte beigelegt werden, um die Stabilität der neuen staatlichen Ordnung nicht zu gefährden – auf Kosten der Informations- und Pressefreiheit sowie der Rechtsstaatlichkeit. Eine Woche nach dem Gespräch trat der Generalstaatsanwalt zurück, möglicherweise um seiner Entlassung zuvor zu kommen (S. 191). Und im November 1986 beschloss die Mehrheit der in Barcelona zuständigen Richter (der Audien­cia Territorial de Barcelona), das Verfahren gegen Banca Catalana erst gar nicht zu eröffnen. Wir erinnern uns an die Ausgangsthese Amats, Macht als das Erreichen erwünschter Wirkungen zu verstehen. Quod erat demonstrandum.

4. Einsichten, Hypothesen, Schlussgedanken

Als wichtigste Einsichten über den politischen Katalanismus nehme ich aus dem Buch mit, dass er lange Zeit weder links noch separatistisch, sondern vorwiegend bürgerlich, liberal und kon­servativ war. In der Ära Pujol, die in der transición beginnt und im pujolismo ihre Fortsetzung findet, wurde der katalanische Nationalismus im Sinne eines «nation building» (hacer país), un­terstützt von Medien wie TV3, massiv vorangetrieben. Eine Alternative zu Pujol im postfranquistischen Katalonien hätte Josep Tarradellas, der Präsident der Generalitat im Exil (1954-1977) und von 1977 bis 1979 Präsident der Generalitat, sein können. Dieser Option fehlte es indes an der nötigen parteipolitischen Unterstützung. Bereits nach wenigen Jahren der Präsi­dentschaft Pujols gab es im Zusammenhang mit dem Fall der Banca Catalana einen populisti­schen Schub im katalanischen Nationalismus, der für das Verständnis der heutigen politischen Situation in Katalonien wichtig ist.

Das Buch legt auch nahe, mehr auf die Gesamtkonstellation Spanien-Katalonien zu schauen. Zum Beispiel wurde das Start­kapital der Banca Catalana im korrupten Franquismus erworben, und die Bank war Teil des spanischen Finanzsystems und wurde deshalb von der Zentralbank gestützt, als sie in finan­zielle Schwierigkeiten geriet. Ein anderes Beispiel: die franquistische Regierung konnte Ende der 50er Jahre bei der Entwicklung des für das Überleben des Regimes so wichtigen Sta­bilisierungsplans katalanische Experten wie Joan Sardà (Mitarbeiter von Tarradellas auf republikanischer Seite während des Bürgerkriegs) und Fabián Estapè einbinden. Beide gehörten zur Tafelrunde Josep Plas. Und wir erfahren auch, dass dieser katalanische Schriftsteller eine Zeit lang für einen der franquistischen Ge­heimdienste tätig war (öffentlich gemacht von Alfons Quintà).

Es gab viel Franquismus im Anti­franquismus oder auch umgekehrt viel Antifranquismus im Franquismus. Da Franco nicht ange­treten war, die Interessen der reichen und wohlhabenden Klassen zu beschneiden, gab es Raum für solche Ambivalenz. Eine genaue Untersuchung der reichen und einflussreichen Familien Kataloniens und Spani­ens generell, würde vermutlich einiges zum Verständnis der Funktionsweise der Diktatur und zur politischen Kultur in der Zeit danach beitra­gen können. Für die Verlierer im Bürgerkrieg gab es bekanntermassen keine vergleichbaren Möglichkeiten sich zu arrangieren: viele wurden noch nach dem Ende des Bürgerkriegs, wenn nicht gar getötet, verfolgt, verhaftet, gefoltert, zu Zwangsarbeit gezwungen, sozial ausgegrenzt und benachteiligt.

Das Buch legt auch den Gedanken nahe, dass gerade eine lang andauernde Diktatur dieser Art, die Kor­ruption selbst nach ihrem Ende noch zu begünstigen scheint. Machtausübung qua informeller, intransparenter und illegaler Einflussnahme ist der springende Punkt. Am Fall der Banca Cata­lana hat Jordi Amat die vielfältigen Wege der Einflussnahme exemplarisch aufgezeigt. Meister­lich führt er die Ambivalenz der Medien vor, die als vierte Macht eine Säule der Demokratie sein sollen, gleichzeitig aber auch stets Gefahr laufen, als Arm der Macht und der Mächtigen in­strumentalisiert und missbraucht zu werden. Der Lebensweg des zeitweise mächtigen, letztlich aber auch korrumpierbaren und ausnutzbaren Alfons Quintà passt dazu. Dem Le­bensweg des Journalisten Quintà zu folgen, der Ende der sechziger Jahre klein anfängt (Tele/eXpress), groß rauskommt, und wieder klein endet (Diari de Girona), bedeutet gleichzeitig, der Mediengeschichte in Katalonien und der Konkurrenz der Medienunternehmen in Katalonien und Madrid während der transición zu folgen. Auf diese Ebene des Buches einzugehen, wie auf einige andere Ebenen mehr, ginge über die Absicht dieser Rezension, auf ein lehrreiches und spannendes Buch zur neuesten Geschichte Kataloniens und Spaniens hinzuweisen, hinaus.


Jordi Amat: El hijo del chófer. Barcelona: Tusquets Editores 2020 (10.11.2020), ISBN 978849066871

Jordi Amat: El fill del xofer. Els fils secrets del poder: ascens i caiguda d‘ Alfons Quintà. Barcelona: Edici­ons 62 2020 (11. November 2020); Übersetzer: Ricard Vela, ISBN 8429778942

Beide Texte sind auch als e-book erhältlich, die spanische Fassung gibt es auch als Hörbuch gelesen von Pere Molina.