Pablo Picasso: Traum und Lüge Francos (Edition Büchergilde)

Vier Anmerkungen zu einer kleinen Sensation

Rezension von Knud Böhle

Die Büchergilde Gutenberg hat im September 2020 den bekannten Radierzyklus Picassos Traum und Lüge Francos in ihrer Reihe Büchergilde Bilderbogen herausgegeben. Sie spricht von einer kleinen Sensation und erläutert, dass die Radierungen erstmals in Deutschland in Originalgröße mit Genehmigung der Erben Picassos abgedruckt werden (Büchergilde Magazin 4 | 20, S. 17). Genauer gesagt enthält ein Schuber zwei Bilderbogen im Format 67 x 48 cm mit dem Radierzyklus sowie einen dritten Bogen 48 x 33,5 cm mit dem zugehörigen Gedicht Picassos auf spanisch und in der deutschen Übersetzung von Max Hölzer. Auf der Rückseite befindet sich ein erläuternder Text von Theresa Nisters mit dem Titel: Der Radierzyklus Traum und Lüge Francos. Picassos erstes politisches Werk. Picasso selbst äußerte sich so zu diesen Radierungen: «¡En ellos está claramente expresada mi opinión sobre la casta militar que ha hundido a España en el dolor y la muerte!» [In ihnen ist meine Meinung über die militärische Kaste klar zum Ausdruck gebracht, die Spanien in Schmerz und Tod gestürzt hat] (nachzulesen in: Facetas de actualidad española Juli 1937, S. 80).

Auf den Internetseiten der Büchergilde gibt es eine Vorschau zu allen Teilen der Publikation (Radierzyklus, Picassos Gedicht, Übersetzung und erläuternder Text). Somit kann jeder einsehen, wovon im Folgenden die Rede ist. Die Herausgeber der Reihe Büchergilde Bilderbogen haben darauf verzichtet, (1) ihre Edition in Bezug zur Editionsgeschichte des Werkes in Deutschland zu setzen, (2) auf den Zusammenhang mit einer Picasso-Ausstellung im Städel Museum hinzuweisen und (3) auf den Forschungsstand einzugehen. Das ist auch nicht unbedingt ihre Aufgabe. Dennoch: in diesem Fall ist der Kontext nicht ganz uninteressant, wie die folgenden Anmerkungen zeigen.

1. Traum und Lüge Francos in Deutschland

In das Jahr 1968 fällt die (vermutlich erste) deutsche Publikation der Radierungen (als Faksimile im Postkartenformat) und des Gedichts. Es gibt davon zwei Versionen. Die eine erschien im Insel Verlag Frankfurt am Main als Nr. 880 der Insel-Bücherei und enthält ein Nachwort des renommierten Kunsthistorikers Werner Spies. Die andere erschien im Insel-Verlag Leipzig, ebenfalls als Nr. 880 der Insel-Bücherei, mit einem Nachwort des ebenfalls bekannten Kunsthistorikers Diether Schmidt. Die beiden immer noch lesenswerten Interpretationen des Werks fallen (auch systembedingt: BRD vs DDR) recht unterschiedlich aus. Die abgedruckte Übertragung des Spottgedichts stammt in beiden Ausgaben von Max Hölzer. Es ist davon auszugehen, dass die Übersetzung erst im Zusammenhang mit dieser Publikation entstanden ist (so auch eine Auskunft der Österreichischen Nationalbibliothek, die den Nachlass Hölzers betreut). Die Büchergilde bedient sich dieser Übersetzung (mit freundlicher Genehmigung von Roland Weber, dem Rechtsnachfolger Max Hölzers). Hölzer verfertigte, nebenbei bemerkt, im selben Jahr auch einen poetischen Text mit Spanienbezug Meditation in Kastilien, der zusammen mit sieben Lithographien Eduardo Chillidas verlegt wurde (St. Gallen: Erker-Presse 1968).

2. Picasso-Ausstellung im Städel Museum 2019

Die Ausstellung Picasso. Druckgrafik als Experiment, die vom 3. April bis 30. Juni 2019 im Städel Museum in Frankfurt am Main zu sehen war, wurde von Theresa Nisters kuratiert. Zu der Ausstellung gab es keinen Katalog, aber zwei erläuternde Texte der Kuratorin im STÄDELBLOG auf der Website des Museums: (a) Picasso als Druckgrafiker. Er tat das Gegenteil dessen, was man ihm beigebracht hatte und (b) Radierzyklus Traum und Lüge Francos. Picasso wird politisch.

Der Text des zweiten Blogbeitrags wanderte ohne weitere Überarbeitung, aber in leicht gekürzter Fassung, in die Publikation der Büchergilde. Verloren ging dabei der Hinweis auf die im Museum Ludwig in Köln aufbewahrten Originalkupferplatten, die Picasso verwendet hatte; verloren ging auch der Hinweis auf eine Schenkung.

Foto der Druckplatten und Drucke. Quelle: Beitrag im STÄDELBLOG

Herbert Meyer-Ellinger und Christoph Vowinckel hatten im Jahr 2019 dem Städel Museum eine der von Picasso für die Weltausstellung 1937 in Paris produzierten Mappen mit dem Titel Sueños y Mentira de Franco vermacht. Von diesen blau-grauen Mappen, die den Radierzyklus, das Prosagedicht in der Handschrift Picassos (als Faksimile) und eine Reproduktion in Druckschrift (spanisch) sowie eine Übertragung ins Französische enthielten (auch von einer Übertragung ins Englische ist manchmal die Rede), hatte Picasso 850 Exemplare produziert. Für die Publikation der Büchergilde ist das insofern relevant, als genau das als Geschenk erhaltene Exemplar (Nummer 656/850, wenn ich richtig entziffere) für die Faksimileausgabe der Büchergilde verwendet wurde. Auf die Edition der Büchergilde bezogen ist auch festzuhalten, dass der Schuber und sein Inhalt nicht ganz das Äquivalent der Mappe bilden, wenngleich die zwei zentralen Arbeiten, der Radierzyklus und das Gedicht enthalten sind. Der Titel der Mappe entspricht nicht dem Titel des Schubers, das Gedicht hatte ursprünglich keinen Titel, und die handschriftliche Variante des Gedichts fehlt hier. Mehr Nähe zum Original der Mappe wäre eine attraktive Gestaltungsalternative gewesen.

3. Der Forschungsstand

Der erläuternde Text (ohne Quellenangaben) von Theresa Nisters ist trotz einiger Ungenauigkeiten durchaus nützlich, um die Arbeit Picassos an den Radierungen und dem Gedicht grob einzuordnen. Wer weiter in das Thema einsteigen möchte, dem sei aus der Unmenge an einschlägigen Publikationen der Ausstellungskatalog empfohlen, den die Picasso Museen in Malaga und Barcelona 2011 erstellten, und darin besonders der einleitende Beitrag der Kuratoren Salvador Haro und Inocente Soto, der in Spanisch und Englisch vorliegt und online verfügbar ist: El sueño del compromiso bzw. The dream of commitment (In: Viñetas en el Frente / Cartoons on the front line (Ausstellungskatalog), Museum Picasso Málaga 2011, S. 14-29 / S. 157-166, ISBN der spanisch/englischen Ausgabe 978-84-9850-302-9, katalanisch/englische Ausgabe des Picasso-Museums in Barcelona: ISBN 978-84-9850-301-2).

4. Traum und Lüge Francos, Guernica und das Geld

Der Zusammenhang des Radierzyklus mit Guernica ist bekannt: 14 der 18 Bilder des Zyklus entstanden an zwei Tagen im Januar 1937, also Monate vor dem Beginn der Arbeit Picassos an dem später Guernica genannten Werk. Die vier letzten Bilder des Radierzyklus entstanden nach Fertigstellung von Guernica und ihre stilistische wie motivische Nähe zu Guernica ist offensichtlich. Beide Arbeiten wurden auf der Weltausstellung 1937 in Paris im spanischen Pavillon präsentiert. Der Text von Theresa Nisters endet mit dem Satz «Diese Mappen wurden auf der Weltausstellung im spanischen Pavillon verkauft – dort, wo das Publikum auch zum ersten Mal das Gemälde Guernica zu sehen bekam. Den Erlös spendete Picasso der spanischen Republik.»

Abschließend möchte ich auf eine Polemik hinweisen, die sich um die Frage dreht, ob Picasso aus Idealismus und Patriotismus für die spanische Republik malte oder des Geldes wegen. Diese Polemik ist im Kontext eines in Spanien zu beobachtenden Geschichtsrevisionismus zu sehen, dem daran liegt, republikanische und mit der Linken verbundene Erfolge und Narrative abzuwerten, und die Geschichte neu zu deuten. Die Frage, was Picasso von der spanischen Regierung 1937 für Guernica bekam, der in der Online-Zeitschrift Revista de Historia im April 2018 nachgegangen wurde, kommt zu dem Ergebnis: umgerechnet 11.430.288,54 Euro. Dieses Resultat basiert zwar auf einem eklatanten Rechenfehler, wurde aber bis auf den heutigen Tag (11.10.2020) in der genannten Online-Zeitschrift nicht korrigiert und kann sich weiter verbreiten.

Arturo Pérez-Reverte, ein auch in Deutschland bekannter Schriftsteller, goss im Oktober 2018 anlässlich der Vorstellung seines neuen Buches Sabotaje Öl ins Feuer. In dem fiktionalen Krimi geht es um einen Geheimagenten, der 1937 im Auftrag Francos nach Paris kommt, um zu verhindern, dass Picassos Guernica auf der Weltausstellung gezeigt wird. Im Zusammenhang der Buchvorstellung soll Pérez-Reverte mit Bezug auf Picasso gesagt haben: «no pintó el Guernica por patriotismo ni por democracia; lo pintó por muchísimo dinero» [er malte Guernica nicht aus Patriotismus und nicht der Demokratie wegen; er malte es für sehr viel Geld]. (siehe: El Pais vom 3. Oktober 2018). Dieses Zitat machte dann die Runde.

In der Tageszeitung El Pais vom 6.10.2018 wird die Bezahlung Picassos erneut rekonstruiert (und dabei auch in einem Erratum eingeräumt, dass die früher angenommen 11,4 Millionen sich einer falschen Rechnung verdanken). Es steht außer Frage, dass Picasso 200.000 Franc von der republikanischen Regierung für den Ankauf des Bildes Guernica bekam. Aber dieser Summe entsprechen umgerechnet nicht 11,4 Millionen, sondern nur 114.000 Euro. Ein Franc war nach Angaben des französischen INSEE, des Nationalen Instituts für Statistik und Wirtschaftsplanung, 1937 etwa 0,57 Euro wert (siehe zur Entwicklung des Franc z.B. die auf Daten des INSEE beruhende Grafik).

Auch Pérez-Reverte dürfte wissen, dass Picasso der spanischen Republik verbunden war, und dass er nicht nur Geld für Guernica erhielt. Wer sich auf die Weltausstellung von 1937 bezieht, sollte fairerweise das für Guernica erhaltene Geld in Beziehung zu dem Erlös aus den Mappenverkäufen setzen, den Picasso spendete.

1.000 Mappen wurden erstellt: 850 blau-graue Mappen und 150 teurere, beige Mappen, die vom Künstler handsigniert waren. Die 850 blauen Mappen wurden für je 200 Franc angeboten und die höherwertigen 150 Mappen für je 500 Franc (siehe dazu die spanische Wikipedia). Rein rechnerisch macht das in der Summe 139.650 Euro. Aus Sicht der spanischen Republik könnte man fast von einem Nullsummenspiel sprechen: den 200.000 Franc, die für Guernica ausgegeben wurde, standen mögliche 245.000 Franc Einnahmen durch die Mappenverkäufe gegenüber. Dass vielleicht nur wenige Exemplare auf der Weltausstellung verkauft wurden, steht auf einem anderen Blatt. Auf einem anderen Blatt steht auch, dass Picasso sogar 300.000 Franc für die spanische Republik gespendet haben soll (London Bulletin no. 8-9 Januar Februar 1939, S. 59).

Fazit: Bei der Büchergilde ist jeder und jede schon mit sehr günstigen 18 Euro für das Gesamtpaket Traum und Lüge Francos dabei, und hat damit die Chance, sich mit dem Bilderzyklus in Originalgröße auseinanderzusetzen. Das ist, trotz der kritischen Anmerkungen, die Hauptsache.

Pablo Picasso: Das Licht hält sich die Augen zu: Radierzyklus und Spottgedicht „Traum und Lüge Francos“. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg (Edition Büchergilde, Büchergilde Bilderbogen No 5, hrsg. von Cosima Schneider) 2020, ISBN 978-3-86406-103-5