Das mysteriöse »Hitler-Interview« des Eugeni Xammar vom 8. November 1923
Diskussionsbeitrag von Knud Böhle
1. Worum es in diesem Diskussionsbeitrag geht
1.1 Zielsetzungen
Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 8.11.1923, begann der Hitler-Ludendorff Putsch im Münchner Bürgerbräukeller. An dem Tag hielt sich auch der spanische Auslandskorrespondent Eugeni Xammar in München auf. Nach seinen Angaben gewährte Hitler ihm (und seinem Freund und Kollegen Josep Pla) tagsüber ein Interview.
Nur wenige Stunden vor dem Staatsstreich, der ihn für eine Nacht zum Diktator von Deutschland machen sollte, hat uns Adolf Hitler ein Interview gewährt, das man zweifellos als interessant bezeichnen kann (Xammar 2007, S. 145).
Abends war er dann, so lässt er seine LeserInnen wissen, Augenzeuge des Hitlerputsches im Bürgerbräukeller.
Es gibt wenig Eindrucksvolleres als einen gut organisierten und inszenierten Putsch, wie den, den mitzuerleben ich das Glück und das Vergnügen hatte, kaum dass ich vierundzwanzig Stunden in München war (ebd., S. 134).
So steht es in den Artikeln, die von Xammar in der Veu de Catalunya veröffentlicht wurden.1 Am 17.11.1923 erschien dort sein Artikel »Der Putsch als Spektakel« (Xammar 2007, S. 134f.), am 24.11.1923 folgte »Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit« (ebd. S. 145-148), dessen wesentlicher Inhalt das Interview ist, das Xammar mit Hitler in den Räumen des Völkischen Beobachters, im Folgenden kurz VB, am 8.11.1923 geführt haben will.2
Um diese beiden Artikel geht es im Folgenden. Dabei ist der Artikel über den Putsch im Bürgerbräukeller eine Nebensache und von Interesse nur insofern als sich zeigen lässt, dass Xammar bei dem Ereignis, über das er schrieb, schlicht nicht zugegen war. Bei dem »Hitler-Interview« indes handelt es sich um das »umstrittenste Stück des katalanischen Journalismus« (Sánchez Piñol 2009, ähnlich auch Pla Barbero 2018).3 Denn wenn es an jenem geschichtsträchtigen Tag ein Treffen und ein Gespräch zwischen Hitler und Xammar gab, wäre das für die Forschungen zur Person Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus höchst interessant.
Die Bedeutung eines solchen Interviews als historische Quelle würde freilich weiter steigen, wenn es darin inhaltlich etwas Neues zu erfahren gäbe. Das zu beurteilen, setzt allerdings textkritische und quellenkritische Akribie und Rigorismus voraus. Dabei wäre etwa zu klären, ob die Interview-Situation formell oder informell war, ob der ausländische Interviewer die Worte seines Gesprächspartners richtig verstanden hat, ob der Interviewer sich korrekt erinnert hat, ob der Interviewer wortgetreu und wahrhaftig wiedergab, was gesagt wurde, oder er seinem Interviewpartner etwas unterschob, was dieser nicht gesagt oder so nicht gemeint hatte. Auch in diesem Fall wäre das Interview als historische Informationsquelle weitgehend wertlos. Dass ein gänzlich fingiertes Hitler-Interview eines Journalisten aus dem Jahr 1923 für die NS-Forschung wertlos ist, versteht sich von selbst. Die vorrangig zu klärende Streitfrage ist demnach, ob Eugeni Xammar das »Hitler-Interview« tatsächlich geführt oder bloß erfunden hat. Gab es dieses Interview, wäre es weiter text- und quellenkritisch zu prüfen.
In diesem Beitrag wird – die spanische Diskussion um die Echtheit des Interviews aufgreifend – argumentiert, dass die Annahme, es habe dieses Interview gegeben, aufzugeben ist. Wenn im Folgenden von diesem, wie gezeigt werden soll, fingierten Interview die Rede ist, wird das, wo nötig, typografisch deutlich gemacht als »Interview« oder »Hitler-Interview«.4
Es wird darüber hinaus nachgezeichnet und diskutiert, wie nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung, das »Interview« erstaunlicherweise in der deutschen Forschung zum Nationalsozialismus den Status einer vertrauenswürdigen historischen Quelle erlangen konnte.
Die Absicht der folgenden Erörterung ist es, die Diskussion um die Echtheit des »Interviews« voranzutreiben, um Klarheit darüber zu gewinnen, ob es sich um ein für die historische Forschung wertloses, fingiertes Interview handelt oder um eine wertvolle historische Quelle.
1.2 Der Auslandskorrespondent Eugeni Xammar
Bevor näher auf den Artikel mit dem »Interview« eingegangen wird, soll Eugeni Xammar (1888-1973) kurz vorgestellt werden. Der Katalane gehört zu den bedeutenden spanischen Journalisten, die in den langen Jahren des Franquismus weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden waren. Die Artikel, die er als Auslandskorrespondent aus Deutschland zwischen 1922 und 1924 für katalanische Zeitungen und von 1930 bis 1936 für die Madrider Tageszeitung Ahora verfasste, wurden erst mehr als 25 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur in Auswahlbänden wieder öffentlich zugänglich gemacht.5
Als Auslandskorrespondent nahm Xammar die Perspektive eines unbeteiligten Beobachters ein, dem es gerade aus dieser Distanz heraus gelang, seinem spanischen Publikum die grotesken und tragikomischen Seiten der deutschen Verhältnisse vor Augen zu führen. Gleichzeitig war Xammar stets bestens und bis ins Detail über die Personen, Konstellationen und Ereignisse in Deutschland, über die er schrieb, informiert.6 Die Lektüre mehrerer, sicherlich nicht nur deutscher Tageszeitungen, war ein wichtiges Mittel, um gut informiert zu sein.7 Beides zusammen, unverwechselbarer Stil und umfassende Kenntnisse, charakterisieren seine Berichte aus Deutschland, die auch für eine deutsche Leserschaft und die HistorikerInnen, die sich mit den 1920er und 1930er Jahren befassen, hoch interessant sind. Im vorliegenden Beitrag interessiert Xammar nicht als politisch konservativer katalanischer Nationalist, sondern nur als katalanisch-spanischer, bürgerlich-demokratischer Auslandskorrespondent, der zur Zeit der Weimarer Republik in Deutschland tätig war.
1.3 Einige Fakten zum Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923
Die Novemberrevolution von 1918 begann mit dem Kieler Matrosenaufstand und erfasste alsbald ganz Deutschland. Sie führte am 9.11.1918 in Berlin zur Ausrufung der Republik und zum Sturz der Monarchie. Am 11. 11.1918 wurden mit dem Waffenstillstand von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beendet, der Versailler Vertrag wurde dann am 28. Juni 1919 unterzeichnet.
Von Seiten monarchistischer, völkischer, rechtsextremer und antisemitischer Gruppen und Parteien wurde die Legitimität der Weimarer Republik in Frage gestellt. Auf propagandistischer Ebene spielte die Kriegsschuldfrage eine große Rolle. Die Oberste Heeresleitung (OHL) versuchte die Schuld an der von ihr zu verantwortenden militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg auf die Sozialdemokratie, demokratische Politiker und das »Judentum« zu schieben (»Dolchstoßlegende«).
Der 9. November hatte gerade für die Feinde der Weimarer Republik eine hohe symbolische Bedeutung. Sarkastischer als Xammar hätte auch ein deutscher Satiriker den Katzenjammer und die Lügengespinste, die nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg kursierten, nicht auf den Punkt bringen können, wobei Xammar zudem die Brücke zu schlagen weiß vom 9. November 1918 zum Hitler-Ludendorff-Putsch.
Der Tag nach meiner Ankunft [in München] war der achte November, der Vorabend des fünften Jahrestags der deutschen Revolution. Die deutsche Revolution vom neunten November wurde in aller Eile von einer Handvoll von Belgien bezahlter Juden organisiert, und zwar genau in dem Augenblick, in dem Deutschland vor dem entscheidenden Sieg stand. Das wissen in Bayern selbst die Hunde und Kinder, und an jenem Tag der verbrecherischen Revolution strömen die Bayern mit trauernder Seele in Massen in die Bierkeller. … Es gibt Reden, Geschrei, patriotische Lieder und Bier. Vor allem Bier. … Die Luft wird immer dicker, und man kann den Putsch förmlich riechen. Es ist erstaunlich, dass er fünf Jahre auf sich hat warten lassen (Xammar 2007, S. 134f.).
Ein zeitgenössisches Titelblatt des Simplicissimus, das an dieser Stelle nur der Illustration dient, gilt den Bayern, von denen bei Xammar die Rede ist.

Wolfgang Schieder (2023) hat den Hitler-Ludendorff konzis beschrieben:
Seit dem frühen Herbst 1923 gab es in Bayern schon Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der NSDAP. Mit Massenversammlungen und mehrfachen Reden im Zirkus Krone heizte Hitler die Stimmung an. Er versäumte es jedoch, seinen Putsch logistisch vorzubereiten ‒ wenn er ihn den ursprünglich überhaupt riskieren wollte. Es war nicht das erste und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Hitler zögerlich handelte […]. Am 26. September nämlich verhängte die bayerische Staatsregierung unter Eugen von Knilling überraschend den Ausnahmezustand und setzte den früheren Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr als Generalkommissar mit diktatorischen Vollmachten ein. Kahr verbot öffentliche Kundgebungen der NSDAP und riss damit das Ruder an sich. Für den 8. November setzte er eine Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller an, zu der alle republikfeindlichen Kräfte Bayerns eingeladen wurden ‒ außer der NSDAP. […] Hitlers Bewegung stand mit einem Mal in Konkurrenz zu den konservativen Gruppierungen Bayerns. Er wurde dadurch unvorbereitet zum Handeln gezwungen. Um Kahr zuvorzukommen, improvisierte er und zog den Termin für einen Putsch […] vor (S. 41).
Am 6. 11.1923 war auf Seiten Hitlers und seiner Mitstreiter die grundsätzliche Entscheidung für einen Putsch gefallen. Das zunächst angedachte Datum für die Aktion war der 10. oder 11. November gewesen. Am 7.11.1923 traf sich Hitler mit den Führern der paramilitärischen Organisationen, die zum Kampfbund gehörten, zur weiteren Vorbereitung des Putsches.8 Erst bei diesem Treffen wurde ausgemacht, den Putsch vorzuverlegen. Am Abend des 7.11. um 20 Uhr fiel dann die Entscheidung, bereits selbst am 8.11. loszuschlagen und dafür die Veranstaltung von Kahrs im Beisein der Bayrischen Regierung und vieler Honoratioren zu nutzen, um selbst die Regierung zu erobern und am Folgetag einen Marsch auf Berlin zu unternehmen. Die Putschisten wollten auf Basis »falscher Gerüchte« (Wien 2023, S. 233) verhindern, dass auf der Veranstaltung im Bürgerbräukeller Tatsachen geschaffen würden, die ihren eigenen Umsturzintentionen entgegenstanden. Das konspirative Treffen endete erst in der Nacht zum 8.11.1923. Den Ablauf des Putschversuches am Abend des 8.11.1923 und am Folgetag fasst Wolfgang Schieder so zusammen:
Nach Beginn der Versammlung ließ Hitler den Bürgerbräukeller durch die SA abriegeln und drang unangemeldet mit einigen Getreuen in den überfüllten Saal ein. Er stieg auf einen Stuhl und schoss, als der Lärm sich nicht legen wollte, mit einer Pistole in die Decke. Dann brüllte er martialisch: »Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt. Niemand darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Galerie stellen lassen. Die bayerische Regierung ist abgesetzt. Eine provisorische Regierung ist gebildet.« Nichts davon traf zu, die Ausrufung einer ’nationalen Revolution‘ war nicht mehr als eine Farce. Es gelang Hitler zwar, die drei wichtigsten Führer der bayerischen Konservativen, den Generalkommissar von Kahr, den Befehlshaber der Reichswehr in Bayern, Otto von Lossow, und den Chef der bayrischen Landespolizei, Hans Ritter von Seißer, zur Zustimmung zu seinen nationalrevolutionären Absichten zu zwingen. Selbst das aber scheint ihm erst gelungen zu sein, nachdem auch General Ludendorff im Bürgerbräukeller auf den Plan getreten war und Hitlers nationale Revolution gebilligt hatte. Kaum war das bayerische Politikertrio dem Bürgerkeller jedoch entkommen, widerrief es alle Zusagen und beschloss, sich gegen Hitlers und Ludendorffs Putschpläne zu stellen. […]
In der Nacht vom 8. auf den 9. November wurde den Putschisten klar, dass ihre Pläne gescheitert waren. Für Hitler war das eine Katastrophe, zu deren Überwindung er keine Idee hatte. Es war Ludendorff, der mit seiner apodiktischen Formel »Wir marschieren« einen Ausweg wusste. Auf seinen ‒ nicht Hitlers ‒ Vorschlag hin beschlossen die Putschisten am Morgen des 9. November einen Marsch durch die Innenstadt, möglicherweise, um das bayerische Kriegsministerium zu besetzen. … Der Demonstrationszug von etwa 2000 Mann formierte sich gegen Mittag. Mit Ludendorff, Hitler, seinem Intimus Scheubner-Richter, seinem Leibwächter Graf, Hermann Göring sowie Friedrich Weber, dem nationalsozialistischen Führer des rechtsradikalen »Bundes Oberland«, an der Spitze. An der Feldherrnhalle, dem bayerischen Gedenkort früherer monarchischer Siege, stießen die Putschisten auf eine bewaffnete Einheit der Landespolizei, welche allem Anschein nach ohne Vorwarnung sofort das Feuer gegen sie eröffnete. Einige Putschisten schossen zurück. In wenigen Minuten lagen vierzehn Putschisten sowie vier Polizisten tot am Boden. Hitler wurde nicht getroffen… (S. 42f.)
Nach einem misslungenen Fluchtversuch wurde Hitler am 11. November verhaftet und in Untersuchungshaft genommen.
1.4 Zum Aufbau der vorliegenden Erörterung
Nach dieser Einführung (Abschnitt 1) wird im Folgenden der Artikel mit dem »Hitler-Interview« vom 8.11.1923 inhaltlich beschrieben, um die nötige Grundlage für die weiteren Ausführungen zu legen (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 kommen die spanischen Kritiker zu Wort, die begründete Zweifel an der Echtheit des Interviews angemeldet haben. Im Anschluss daran (Abschnitt 4) werden zusätzliche quellenkritische Einwände vorgebracht. Es folgen Erläuterungen zum modernen Vernichtungsantisemitismus in Deutschland, der den Kontext bildet, in dem die Sätze zur Judenvernichtung im »Interviewtext« stehen und zu interpretieren sind. (Abschnitt 5). Im Anschluss daran wird versucht, den Tagesablauf Adolf Hitlers am 8. November 1923 zu rekonstruieren, um besser einschätzen zu können, ob ein Interview mit Xammar an dem Tag hätte stattfinden können (Abschnitt 6). Danach wird auf die Rezeption des »Interviews« in Deutschland eingegangen, wo das »Hitler-Interview« zur veritablen Quelle der Geschichtswissenschaft avancieren konnte (Abschnitt 7). In Abschnitt 8 wird auf die fantastische Reportage Xammars über den gescheiterten Hitlerputsch, der am Abend des 8. November begann, eingegangen. In der Schlussbetrachtung (Abschnitt 9) wird versucht, das fingierte Interview und den »Augenzeugenbericht« ohne Augenzeugenschaft unter dem Aspekt des Schadens, den die Artikel verursachen konnten, zu bewerten und ansatzweise in den Kontext der damaligen Medienkultur in Spanien einzuordnen.
2. Beschreibung des Artikels mit dem »Hitler-Interview« vom 8.11.1923
Am 24. November 1923 erschien der Artikel »Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit« in der Veu de Catalunya.9 Der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8. November lag mehr als zwei Wochen zurück. Hitler saß seit dem 11.11.1923 in der Strafanstalt Landsberg am Lech ein.
Zur Interview-Situation gibt es folgende Hinweise in dem Artikel: Ort ist ein Büro Hitlers in den Redaktionsräumen des VB. Hitler trägt seinen bekannten Regenmantel mit aufgesticktem Hakenkreuz am Ärmel, behält seine Mütze auf, grüßt mit militärischem Hackenschlag, bietet Xammar (und seinem Begleiter Josep Pla) Stühle an und legt los, dass Spanier in Bayern willkommen seien, während man den Italienern, Engländern, Rumänen und Holländern nicht trauen dürfe. Das seien alles Juden. Damit ist die Judenfrage als Thema gesetzt.
[Hitler:] Die Judenfrage ist ein Krebsgeschwür, das unseren deutschen nationalen Organismus zerfrisst. Ein politisches und soziales Krebsgeschwür. Glücklicherweise sind die sozialen und politischen Geschwüre nicht unheilbar. Man kann sie herausschneiden. Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Juden vernichten…
[Xammar:] Mit Prügeln?
[Hitler] Das wäre das beste, aber sie sind zu viele. Ein Pogrom ist eine großartige Sache, aber heutzutage hat es einen Gutteil seiner mittelalterlichen Wirkungskraft verloren. […] Was hätten wir davon, die jüdische Bevölkerung von München auszurotten, wenn die Juden im übrigen Land, so wie jetzt, weiterhin über Geld und Politik herrschen? In ganz Deutschland gibt es mehr als eine Million Juden. Was wollen Sie tun? Sie alle über Nacht umbringen? Das wäre natürlich die beste Lösung, und wenn man das zuwege brächte, wäre Deutschland gerettet. Aber das ist nicht möglich. Ich habe das Problem von allen Seiten untersucht: es ist nicht möglich. Die Welt würde über uns herfallen, anstatt uns zu danken, was sie eigentlich tun sollte. […] Wir haben schon gesehen, dass es mit Pogromen nicht geht. Also bleibt nur die Vertreibung: die Massenvertreibung. Spanien hat vor mehr als vierhundert Jahren mit der Vertreibung der Juden…
[Xammar:] Glauben Sie, dass Spanien sich damit einen Gefallen getan hat? (Xammar 2007, S. 146f., Hervorhebungen, KB)
An zwei Stellen also unterbricht Xammar den monologisierenden Hitler. Einmal fragt er etwas maliziös-provozierend nach, ob die Juden mit Prügeln vernichtet werden sollen. Der Hitler des »Interviews« antwortet sinngemäß, dass das zwar die beste Lösung wäre, dass ein Pogrom heute jedoch keine Lösung mehr sein könne, sondern die Massenvertreibung das Mittel der Wahl sei.
Als Hitler auf die Vertreibung der Juden in Spanien zu sprechen kommen will, unterbricht ihn Xammar erneut mit einer Frage, die auf die bekannte Diskussion anspielt, ob die Vertreibung der Juden der spanischen Ökonomie geschadet hat. Der Hitler des »Interviews« geht auf diese Frage nicht ein. Stattdessen entwickelt er seine Argumentation, dass der Fehler der Katholischen Könige gewesen sei, den Juden die Konvertierung zu gestatten, um der Vertreibung zu entgehen, und er wiederholt, dass die Lösung des Problems in der Vertreibung der gesamten jüdischen Rasse liege.
Das Judenproblem […] ist kein religiöses Problem. Es ist ein rassisches Problem, und seine Lösung liegt in der Vertreibung. Aber in der strikten Vertreibung der gesamten jüdischen Rasse, sowohl der praktizierenden Juden wie auch der gleichgültigen oder der konvertierten (Xammar 2007, S. 147., Hervorhebung, KB).
In dem Artikel finden sich auch Hinweise auf den konkreten Antisemitismus in Bayern in jener Zeit. Der Hitler des »Interviews« teilt Xammar mit, dass er mit seiner Nase sicherlich Prügel bezogen hätte. Hitler lacht, Xammar ebenfalls »allerdings nicht ganz so aus vollem Herzen« (Xammar 2007, S. 146). Angriffe auf und Verletzungen von Juden durch die Nazis aus der Zeit sind dokumentiert (Reinicke 2018).
Bekannt und historisch belegt ist auch die Ausweisung von Juden aus Bayern auf Veranlassung des Generalstaatskommissars Gustav von Kahr, den das bayerische Kabinett am 26. September 1923 mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet hatte. Der Hitler des »Interviews« geht darauf ein:
[Hitler:] In Bayern hat die Judenvertreibung schon begonnen, aber zaghaft. Von Kahr weist nach und nach alle Juden aus, die keine bayerischen Bürger sind. Das ist sehr wenig, aber man muss von Kahr zugestehen, dass er nicht mehr tun kann. Ihm sind die Hände gebunden.« (S. 147).
[Xammar:] Darf man wissen, von wem?
[Hitler:] Sie werden bass erstaunt sein. Der größte Verteidiger der Juden in Bayern ist der Erzbischof von München, Kardinal Faulhaber (Xammar 2007, S. 147f.).
Diese Aussage gab es nicht nur aus dem Munde des »Interview-Hitlers«. Sie war bereits zwei Tage zuvor schon im Völkischen Beobachter zu lesen gewesen.
Am 6. November, also zwei Tage vor dem Putsch, hatte der Völkische Beobachter unter dem Titel »Kardinal Faulhaber als Judenschützer« auf Faulhabers Allerseelenpredigt reagiert und griff ihn als »Judenschützer« an, weil er gesagt habe, »dass auch die Juden Menschen seien, und dass wir auch diese im Winter nicht hungern und frieren lassen dürften.« Noch auf dem Katholikentag 1922 habe er aber »ganz anders« gesprochen »indem er sehr scharfe Worte gegen die Judenpresse gebrauchte« (Antonia Leugers 2014).
Aus Sicht der katalanischen Leserschaft dürfte es sich bei dem »Interview« um eine höchst unterhaltsame Lektüre, die mit Entsetzlichem spielt, gehandelt haben: Infotainment. Wie das Thema Vertreibung der Juden in dem »Interview« journalistisch aufgezogen wird, ist beeindruckend. Die Vertreibung von Ostjuden aus Bayern 1923, die Judenvertreibung in Spanien unter den Katholischen Königen und in Zukunft die Massenvertreibung durch Hitler werden erzählerisch in einen Zusammenhang gebracht. Die aufmerksame spanische Leserschaft versteht durch den Vergleich: dieser Hitler ist noch antisemitischer, noch radikaler, noch rassistischer als die Katholischen Könige.
Wollte man das »Interview« als Stück aufführen, ähnelte es je nach Akzentsetzung des Regisseurs einer Groteske (Esperpento) oder einem Bauernschwank.10 Das Lachen könnte dabei manchem im Halse stecken bleiben. Die Protagonisten des Stücks: auf der einen Seite ein kultivierter, blitzgescheiter, provozierender, sich einmischender spanischer Reporter, auf der anderen Seite ein Dummkopf mit einem fast delirierendem Antisemitismus, den man zur Belustigung und Belehrung (!) des Publikums vorführen kann. Das »Interview« mutet heute wie eine literarische Fantasie an. Auf inhaltliche Aspekte wird im Folgenden noch näher eingegangen.
3. Die Zweifel katalanischer Intellektueller an der Echtheit des »Interviews«
In Spanien, besonders in Katalonien, wurden immer wieder Zweifel laut, ob es sich bei dem »Hitler‑Interview« nicht um einen Fake handele. Im Jahr 2000, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung der katalanischen Ausgabe der zwischen 1922 und 1924 geschriebenen Artikel Xammars (Xammar 1998), wurde erstmals öffentlich räsoniert, ob es sich bei dem »Interview« um eine Erfindung handele. Es sind im Wesentlichen zwei kleinere Artikel in katalanischen Zeitungen, in denen die Zweifel an der Echtheit argumentativ ausgeführt werden. Dazu kommt ein längerer Beitrag von Pla Barbero (2018) in der Literaturzeitschrift Cuadernos Hispanoamericanos, der die Debatte zu rekonstruieren versucht und eigene Akzente setzt.11
Der Journalist Lluís Permanyer (2000) schreibt in La Vanguardia, dass es sich bei dem »Hitler-Interview« um eine Erfindung handeln dürfte, wenngleich er das nicht mit unbestreitbaren Daten beweisen könne (Permanyer 2000, S. 2). Erstens kommt es Permanyer unwahrscheinlich vor, dass Hitler just am hektischen Tage des Putsches den beiden Journalisten ein Interview gewährt haben sollte.
Zweitens sei der Artikel erst am 24.11.1923 veröffentlicht worden, also zu einem Zeitpunkt als Hitler nach dem fehlgeschlagenen Putsch bereits inhaftiert war und sich gewissermaßen nicht mehr gegen das wehren konnte, was ihm zugeschrieben wurde, oder andersherum, sich der Journalist ungestraft viele inhaltliche Freiheiten herausnehmen konnte.
Das dritte und wichtigste Argument gegen die Echtheit des Interviews ergibt sich bei Permanyer aus einer Überprüfung der gesamten Werke von Xammar und Pla, die niemals mehr – auch nicht in ihren autobiografischen Texten – auf dieses »Interview« zu sprechen kamen. Es sei doch schwer vorstellbar, – so Permanyer –, dass jemand eine Begegnung mit Hitler, auch wenn sie nur kurz war, einfach vergessen haben sollte.
Permanyers Fazit: »una diablura inocente« also ein unschuldiges Schelmenstück, dass seiner Meinung nach zum Charakter von Xammar und Pla sowie zu dem Stil der Epoche passen würde.12
Einige Jahre später, 2009, geht der auch in Deutschland nicht unbekannte Schriftsteller Albert Sánchez Piñol in einem kurzen Beitrag »Mèrit i misteri« in der katalanischen Zeitung Avui noch einmal auf den Fall ein und schließt an Permanyer an. Wie dieser hält er es für sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem »Hitler-Interview« um eine Erfindung handelt und das »Interview« niemals stattgefunden hat, aber ganz festlegen möchte auch er sich nicht.
Er bezweifelt, ähnlich wie schon Permanyer zuvor, dass sich Hitler am Tag des Putsches am 8.11.1923 Zeit für ein Interview genommen hätte. Er vermutet, dass das, was man da inhaltlich vor sich hat, eher vom Hören-Sagen oder von Dritten aus der Umgebung Hitlers stammen könnte und nicht von Hitler selbst. Die Journalisten könnten hinzugefügt haben, was ihnen in den Sinn kam. Er rekurriert auch wiederum darauf, dass Hitler zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nach dem gescheiterten Putsch in Haft war. Mit anderen Worten: Xammar hatte genügend Informationen, aus welchen Quellen auch immer, um sich ein Hitler-Interview ohne Rücksichten auf Hitler auszudenken.
Insbesondere bezweifelt Sánchez Piñol, dass Hitler gerade zwei Fremden gegenüber etwas offenbart haben sollte, was er sonst tunlichst vermied: sich öffentlich konkret zum Ziel der Judenvernichtung zu äußern.13 Sánchez Piñol vermutet auch, dass die Bezüge zur spanischen Geschichte in dem »Interview« quasi freie Zugaben von Xammar sind, die nicht durch Kenntnisse Hitlers gedeckt scheinen.14
Für das lebenslange Schweigen Xammars zum »Hitler-Interview« hat Sánchez Piñol eine plausible Erklärung. Der Umstand, dass Hitler 1933 tatsächlich an die Macht kam, machte aus einem gescheiterten Hanswurst einen Gegenstand der historischen Forschung und ließ damit auch frühe Äußerungen hoch relevant für die NS- und Hitler-Forschung werden. Da wäre es peinlich gewesen, mit einem erfundenen Interview in Verbindung gebracht zu werden.
Wie schon bei Permanyer ist das Fazit wieder vom Typ: »typisch Pla und Xammar« und mit einer Dosis Humor endet der kurze Artikel (sinngemäß): »Was für ein Paar. Sehen Sie, wie genial sie waren? Selbst wenn sie etwas Unerlaubtes anstellen, kann man nicht anders, als über sie zu reden«.15
Von Interesse ist weiter der Artikel von Pla Barbero, Philologe und Josep-Pla-Spezialist, der die Artikel Permanyers und Sánchez Piñols kannte, und sich eingehend mit dem Status des »Interviews« befasste (Pla Barbero 2018, online). Er hält daran fest, dass es das »Interview« irgendwie gegeben hat, sieht aber gleichzeitig, dass der Inhalt des veröffentlichten »Interviews« ganz von den Journalisten abhing. Er schreibt: »[Xammar und Pla] verfügten über alle notwendigen literarischen Qualifikationen, um die Erinnerung an ihr Interview mit Adolf Hitler neu zu schreiben, wie auch immer dieses Treffen war, flüchtig, improvisiert, vorher festgelegt, exklusiv oder mit anderen Journalisten« (Pla Barbero 2018 online, Übersetzung KB).16
Pla Barbero zeigt damit, wie schwer es ihm fällt, sich von der Vorstellung zu trennen, dass es das »Interview« doch irgendwie gab. Anders als Permanyer und Sánchez Piñol nimmt er das Beschweigen des »Interviews« folglich auch nicht als deutlichen Hinweis dafür, dass es sich um ein fingiertes Interview handelte. Stattdessen überlegt er, warum die Journalisten nie mehr auf das »Interview« zu sprechen kamen »[Aber] Vielleicht waren sie nie besonders stolz darauf. Oder sie hatten Angst, sich dem Vorwurf auszusetzen, in dem Diktator nicht den gefährlichen Wahnsinnigen erkannt zu haben, der er damals bereits war« (Übersetzung KB).17
Es bleibt als Ergebnis der spanischen Diskussion festzuhalten, dass es massive Zweifel gibt, dass das »Interview«, wie von Xammar behauptet, am 8.11.2013, dem Tag des Putsches, hätte stattfinden können. Es gibt allerdings keine Zweifel daran, dass Xammar genug Wissen aus diversen Quellen haben konnte, um ein »Hitler-Interview« zu erfinden. Gegen die Authentizität des »Interviews« wird außerdem angeführt, dass es Äußerungen Hitlers enthält, die nicht zu ihm zu passen scheinen, wie die offene Thematisierung der Judenvernichtung gegenüber Fremden oder die Einlassungen zur spanischen Geschichte. Der Umstand, dass Hitler in Haft war, als das »Interview« erschien, nährt weiter den Verdacht, dass Hitler ungehemmt Dinge in den Mund gelegt wurden, die der Fantasie Xammars entstammten.
Selbst wenn es also ein Treffen Xammar-Hitler gegeben haben sollte, wäre der Inhalt, der in dem Artikel Xammars wiedergegeben wird, manipuliert und verfälscht und damit als historische Quelle völlig unbrauchbar. Es wäre ununterscheidbar, was sich der Fantasie Xammars verdankt und was Hitler wirklich geäußert hat. Ein starkes Argument dafür, dass das »Interview« gänzlich oder großenteils erfunden wurde, ist der Umstand, dass die Journalisten, nachdem Hitler an die Macht gekommen und zur geschichtlichen Figur geworden war, nicht auf das »Interview« zu sprechen kamen – nie mehr in ihrem ganzen Leben.
4. Einige ergänzende quellenkritische Aspekte
Quellenkritisch wäre zu fragen, welchen Status das Treffen und das Gespräch gehabt haben sollen. Es heißt bei Xammar, dass das Interview »gewährt« wurde, aber handelt es sich überhaupt um ein Interview? Bei einem Interview weiß der Interviewte, dass das, was er äußert, in einem bestimmten Presseorgan veröffentlicht wird. Im Interview eines Auslandskorrespondenten mit einem Politiker ist zudem zu unterstellen, dass der Politiker gezielt versucht, den Journalisten mitzuteilen, was er öffentlich verbreitet sehen will. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob der Hitler des Interviews davon ausging, dass er ein für die Veröffentlichung bestimmtes Interview für eine (katalanische) Zeitung gab oder er das Treffen für ein informelles, privates Gespräch unter Gesinnungsgenossen hielt.
Schon die Überschrift des Artikels und die Charakterisierung Hitlers als ein »gewaltiger, großartiger Dummkopf, der zu einer glanzvollen Karriere berufen ist (wovon er noch fester überzeugt ist, als wir es sind« (Xammar 2007, S. 145), macht deutlich, dass dieser Artikel weder Hitler noch einem seiner Mitstreiter zur Kenntnis gebracht wurde. Xammar, der bis 1937 als Auslandskorrespondent in Deutschland tätig war, dürfte erleichtert registriert haben, dass die Nazis seine ätzenden Einschätzungen Hitlers offensichtlich nie in Erfahrung brachten. Das hätte ihn angesichts einer rachsüchtigen und mordbereiten SA und Gestapo teuer zu stehen kommen können. Von daher hatte Xammar bis 1945 sicher keine Motivation, auf seine Artikel über Hitler, aufmerksam zu machen.
Eine zweite Frage wurde schon bei den skeptischen katalanischen Autoren angesprochen. In wieweit kann das Veröffentlichte vom wirklich Gesagten abweichen und wie geht der Historiker mit dieser Differenz um? Die spanischen Autoren fragten sich in erster Linie, was Xammar an Erfundenem hinzugefügt hat. Ergänzend wäre zu fragen, ob Xammar alles korrekt erinnerte, als er seinen Artikel schrieb. Es wäre in Erfahrung zu bringen, ob das Interview in irgendeiner Form aufgezeichnet wurde oder ob allein das Gedächtnis und die Erinnerungsfähigkeit des Journalisten der Wiedergabe zugrunde lagen. Außerdem wäre zu fragen, wie gut Xammar damals, 1923, (Hitlers) Deutsch verstehen konnte. Dass er nach dem zweiten Weltkrieg den Dr. Faustus von Thomas Mann übersetzte, muss nicht heißen, dass er bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor, im Herbst 1923 schon perfekt Deutsch konnte.
Es gibt weitere Einzelheiten in dem Artikel, die nicht stimmen wollen. Es wird von einer Mütze (gorra in der katalanischen und spanischen Fassung des Artikels) gesprochen, die Hitler nicht absetzte. Die Fotos aus der Zeit, die etwa im Netz und in gedruckten Publikationen kursieren, zeigen Hitler entweder ohne Kopfbedeckung oder mit einem weichen Hut. Auch die Vorstellung, dass Hitler vor Xammar und Pla die Hacken zusammenschlug, wirkt nicht glaubwürdig. Übertrieben klingt auch die, die Zunge Hitlers lösende Freude über die Spanier, weil in Spanien, so wird nahegelegt, seit wenigen Wochen der Diktator Primo de Rivera an der Macht war.18 Die Italiener kommen dagegen (»alles Juden«) unerwartet schlecht weg, obwohl Hitler für den italienischen Faschismus schwärmte, sich daran orientierte und gerne Kontakt mit Mussolini aufgenommen hätte.19
Inhaltlich will die Art, wie der Hitler des »Interviews« sich über die »beste Lösung« auslässt, nicht zu Hitlers damals üblicher Argumentation passen. In einer Zeit, in der Hitler sich öffentlich gegen Pogrome und für einen »Antisemitismus der Vernunft« aussprach, klingt das Schwadronieren über Pogrome nicht stimmig.20 In dem Zusammenhang ist auch ein Vergleich mit dem Artikel Josep Plas über die angebliche Begegnung mit Hitler aufschlussreich.
Beide erfanden (oder verfälschten) das »Interview«, jeder auf seine Weise. Der Artikel Plas erschien am 28. November 1923, ein paar Tage später als der Artikel Xammars (abgedruckt in: Xammar 2007, S. 149-152). Interessant ist, dass der ganze verbale Exzess zur Judenvernichtung, den Xammar seinem Hitler in den Mund gelegt hat, bei Pla nicht vorkommt. Anders gesagt, der delirierende antisemitische Fanatismus Hitlers, der bei Xammar im Zentrum steht, spielt bei Pla keine Rolle.
Ein weiteres interessantes Detail ist, dass (der nicht deutsch verstehende) Josep Pla in seiner Version von einem Monolog spricht und erst gar nicht den Anschein eines Gesprächs mit Hitler erwecken will. Andersherum, während Pla in seinem Artikel als wichtige Information herausstellt, dass Hitler einen neuen Krieg will, taucht dieser Aspekt in dem Artikel Xammars nicht auf. In der Wiedergabe des Interviews durch Pla und Xammar fallen Form und Inhalt so unterschiedlich aus, dass die Glaubwürdigkeit der Darstellung beider Journalisten leidet.
Inhaltlich will auch die einseitige Festlegung, die der »Hitler des Interviews« vornimmt, wenn er die Massenvertreibung als Mittel der Wahl herausstellt, nicht recht stimmig erscheinen. Zum einen legte die NSDAP bis 1933 nicht fest, welche Methoden sie bei der Verfolgung der Juden anwenden würde. Zum anderen taucht schon im 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 eine Kombination an vorgesehenen Maßnahmen auf: »Entzug der vollen Bürgerrechte, ein Berufsverbot für öffentliche Ämter und Presseleitung für die deutschen Juden, bei Erwerbslosigkeit ihre Ausweisung sowie die Vertreibung eines Großteils zugewanderter Juden« (Wikipedia: Endlösung 2024). Die Herausgeber der kritischen Ausgabe von »Mein Kampf« sehen Hitlers damals vertretenen Antisemitismus geprägt durch die Ablehnung von Pogromen, die gesetzliche Bekämpfung und Beseitigung der Rechte der Juden und in letzter Konsequenz die Entfernung der Juden überhaupt (Institut für Zeitgeschichte 2022: Mein Kampf, Band 1, Kapitel 2, Kommentar 172). Die Mittel, die für das Erreichen des Ziel anzuwenden sind, werden auch hier nicht explizit genannt, weil es keine entsprechende Festlegung gab.
Aufs Gesamt gesehen ist die Fülle der Indizien, die für ein fingiertes Interview sprechen, erdrückend. Das stärkste Argument gegen die Echtheit des Interviews liefert allerdings die Tatsache, dass es bis heute keinerlei Dokument oder Zeugnis von dritter Seite gibt, mit dem sich belegen ließe, dass es das »Interview« gegeben hat. Oder anders formuliert: Die Frage kann nicht sein, ob jemand beweisen kann, dass das »Interview« nicht stattgefunden hat, sondern dass es stattgefunden hat. Zu fordern ist also in diesem Sinne eine Beweislastumkehr. In Memoiren von Mitarbeitern des VB, in Tagebüchern und Notizen von Kollegen, Freunden und Verwandten, in Notizen von anderen Auslandsjournalisten, die mit Xammar zu tun hatten, wäre zu fahnden. Solange es keinen positiven Nachweis für ein entsprechendes Treffen Xammars mit Hitler gibt, ist von einem fingierten Interview auszugehen.
5. Zum Vernichtungsantisemitismus in Deutschland und in Xammars »Interview«
Es wird gelegentlich behauptet, dass Hitler in dem »Interview« seinen radikalen Antisemitismus ungewöhnlich offen, wie sonst nie, kommunizierte. In der spanischen Verlagsankündigung wird noch heute von dem verstörenden Interview gesprochen, das Xammar (und Pla) bereits 1923 mit dem späteren Diktator führten und in dem dieser bereits den Holocaust vorgezeichnet habe.21 Auch im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches wird von dem Interview gesprochen, »in dem Hitler seine Pläne zur Judenvernichtung […] in aller Offenheit darlegte« (Berenberg, S. 9).
Andere Autoren gehen noch weiter und finden in dem »Interview« sogar Hinweise auf Pläne zur Judenvernichtung, den Holocaust und die Endlösung. In einer Einlassung von Arcadi Espada (2005) in El País zum Beispiel wird eine Stelle aus dem »Interview« herausgegriffen und in Richtung Holocaust-Vorwegnahme interpretiert. Espada liest das »Interview« so, als wäre der Massenmord an den Juden das, was Hitler vorschlüge und das wäre ja dann eigentlich die erstmalige Ankündigung der Endlösung (la solución final).22
Hitlers Denkwelt in den Kontext des »Vernichtungsantisemitismus« zu stellen, wie Peter Schäfer das Phänomen nennt (2000. S. 229 ff), kann helfen, die entsprechenden Passagen im »Interview« besser einzuordnen. Tatsache ist, dass seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Vernichtungsantisemitismus in Deutschland anzutreffen ist, der sich in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch rassentheoretisch radikalisierte. Die Juden sollten nicht integriert, sondern entfernt werden. Moderner ließe sich vom Ziel rassistisch begründeter ethnischer Säuberung sprechen. Die Mittel dazu heissen: Abschiebung, Umsiedlung, Deportation (etwa nach Madagaskar wie 1885 von de Lagarde vorgeschlagen), Vernichtung.
Diesem althergebrachten radikalen Antisemitismus wohnte latent immer schon die Frage und dumpfe Drohung inne, mit welchen drastischen Mitteln man die Juden loswerden, wie man sie entfernen kann. Von daher lässt sich in den Dokumenten des Vernichtungsantisemitismus auch der »Vorschein« einer Endlösung ausmachen. An zwei Beispielen lässt sich das zeigen.
Christian Jansen hat den »Judenspiegel« des Hartwig von Hundt-Radowskys von 1818 analysiert. Er kann zeigen, wie früh bereits zentrale Elemente des rassistischen und eliminatorischen Antisemitismus formuliert wurden, wie das folgende Zitat verdeutlicht.
[Hundt schlägt] die Sterilisation aller männlichen Juden vor – ein weiterer Beleg für seine rassische Überzeugung von der Unverbesserlichkeit der Juden und für die Modernität seines genetischen Verfolgungsprogramms. Unumstößlich stand für ihn fest, dass nur eine vollständige Elimination des Judentums die Mehrheitsgesellschaft retten könne: ‚Am Beßten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer, und hierzu giebt es gleichfalls zwei Mittel. Entweder, sie durchaus zu vertilgen, oder sie […] zum Lande hinauszujagen. […] Am Gerathensten wäre es daher, man brächte die Juden, welche in Deutschland […] sämmtlich auf den Schub, und nach dem gelobten Land hin’« (Jansen 2011, S. 32)
Alexander Bein, der zum modernen Antisemitismus geforscht hat, sieht »den ersten und bedeutendsten Versuch, die nun entstehende antisemitische Bewegung […] durch Philosophie, Biologie und Geschichte wissenschaftlich zu unterbauen« in der Schrift »Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage« (1881) des Berliner Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring (1833-1921). Die Argumentation der Antisemiten, dass die Judenfrage eine Frage der Rasse und keine der Religion sei, und dass der Übertritt zum Christentums deshalb keine Lösung darstellen kann, ist folglich im Jahre 1923 keineswegs neu.
Sie [die Judenfrage] als Frage der Religion darzustellen, ist nach Dührings Meinung eine bewusste Irreführung und Verdunkelung. »Selbst wenn alle Juden zu den herrschenden Kirchen überträten, wie es die Liberalen wünschten, würde die Judenfrage nicht zu existieren aufhören. Im Gegenteil, Gefahr und Bedrohung für die Völker würden dadurch nur wachsen«. Dühring ist sicher, dass sich die Erkenntnis durchsetzen wird, »wie unverträglich mit unseren besten Trieben die Einimpfung der Eigenschaften der Judenrace in unsere Zustände sei. Hiernach liegt die Judenfrage weniger hinter uns als vor uns«. … »Wo diese Race einmal gründlich erkannt ist«, meint Dühring mit klaren Andeutungen für die Zukunft, »da steckt man sich von vornherein ein weiteres Ziel, zu welchem der Weg nicht ohne die kraftvollsten Mittel zu bahnen ist. Die Juden sind […] ein inneres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden« und an anderer Stelle schreibt Dühring: »Die Judenhaftigkeit lässt sich … nicht anders als mit den Juden selbst beseitigen« (Bein 1958, S. 347).
Bein kommt zu dem Schluss »Die Hitlerzeit hatte tatsächlich gedanklich nichts den Theoretikern des Antisemitismus hinzuzufügen« (Bein 1958, S. 360).23 Das Neue liegt hier nicht im Denken, sondern darin, dass mit der NSDAP eine politische Partei entsteht, zu deren Markenzeichen ein extremer, je nach Umständen mehr oder weniger deutlich vorgetragener und gewaltsam praktizierter Antisemitismus gehört.24
Eine Rede vom 6. April 1920 zeigt Hitler deutlich in dieser Tradition stehend, einerseits die größtmögliche Drohung auszusprechen, andererseits aber die Mittel nicht konkret zu machen:
[…] es beseelt uns die unerbittliche Entschlossenheit, das Übel an der Wurzel zu packen und mit Stumpf und Stiel auszurotten. Um unser Ziel zu erreichen, muss uns jedes Mittel recht sein, selbst wenn wir uns mit dem Teufel verbinden müssten (abgedruckt in Jäckel/Kuhn 1986, Dokument 61, S. 184-204).
Aber selbst das Vokabular »Ausmerzen«, »Ausschalten«, »Beseitigen«, »Entfernen«, »Unschädlichmachen«, »Vertilgen«, »Vernichten« oder sogar wie hier zitiert »Ausrotten« bezogen auf Krankheiten, Ungeziefer oder Parasiten, gehört noch zum traditionellen Vernichtungsantisemitismus.
Wenn Hitler in dem »Interview« vom »Krebsgeschwür, das man herausschneiden kann« spricht, dann ist das noch die Sprache des alten Vernichtungsantisemitismus. Dem Hitler des »Interviews« wird an Antisemitismus nichts in den Mund gelegt oder zugeschrieben, was nicht schon denen, wie Xammar, bekannt sein konnte, die sich mit Hitler, seinen Aussagen und Auftritten in Bierkellern oder im Circus Krone, dem Programm der NSDAP, dem Denkhorizont des überkommenen und rassistisch modernisierten Antisemitismus und den Münchener Verhältnissen im Jahr 1923 auskannten.
Das bestätigt ein Interview Hitlers vom Oktober 1923, das er dem Journalisten George Sylvester Viereck, laut Domeier ein »Nazi-Sympathisant« (2021, S. 426) vom The American Monthly gewährte.25 In dem Interview26 sagt Hitler:
Die Juden sind keine Deutschen. Sie sind ein fremdes Volk in unserer Mitte und treten als solches auf. […] Wir sind wie ein Schwindsüchtiger, der nicht begreift, dass er dem Untergang geweiht ist, wenn er nicht die Mikroben aus seiner Lunge austreibt. Nationen, wie auch Individuen, neigen dazu, am wildesten zu tanzen, wenn sie dem Abgrund am nächsten sind. Deshalb, sage ich, brauchen wir gewaltsame Korrektive, starke Medizin, vielleicht eine Amputation. […] Wir wollen uns von den Juden säubern, nicht weil sie Juden sind, sondern weil sie einen schädlichen Einfluss haben (Jäckel/Kuhn 1986, Dokument 578, S. 1023-1026; Übersetzung, KB).
In der Sprache des alten Vernichtungsantisemitismus schwingt latent stets der (Alp)Traum einer Endlösung mit. Aber daraus lässt sich weder bei Hundt, Düring oder Hitler eine gedankliche Vorwegnahme oder Ankündigung dessen ableiten, was Endlösung historisch im Zuge des Zweiten Weltkriegs bedeuten sollte. Was unter Historikern und in der Öffentlichkeit als Endlösung verstanden wird, ist die systematische Ermordung aller europäischen Juden in allen Gebieten mit Zugriff des NS-Regimes noch während des Zweiten Weltkrieges. In dem Zusammenhang war Endlösung damals als Euphemismus zu verstehen, um nicht vom systematisch geplanten Massenmord sprechen zu müssen. Die politische Entscheidung zur systematischen Ermordung aller europäischen Juden wird von Historikern auf Herbst/Winter 1941 datiert. Es ist deshalb eine geschichtswissenschaftlich abzulehnende Rückprojektion, die Endlösung, also den Holocaust, in die Gedankenwelt von 1923 zu versetzen.
6. Hitlers Tagesablauf am 8. November 1923, ein Tag ohne Interview
Die Skeptiker (darunter auch Jordi Amat 2019) bezweifeln, dass das »Hitler-Interview«, wie von Xammar behauptet, am Tage des Putsches am 8.11. in den Redaktionsräumen des VB stattgefunden haben könnte. Die Rekonstruktion von Hitlers Tagesablauf am 8.11.1923 legt jedenfalls nahe, dass es das »Interview« nicht gegeben hat, nicht an jenem Ort und nicht an jenem Tag.27 Für die Alternative, dass das Hitler-Interview an anderem Ort, zu anderer Zeit stattgefunden haben könnte, gibt es bis heute keinen konkreten Hinweis.
Erst am Abend des 7.11.1923 um 20 Uhr war die Entscheidung gefallen, am 8.11.1923 zu putschen. Die kurze Vorbereitungszeit erhöhte zwangsläufig den Zeitdruck und senkte die Erfolgschancen des Vorhabens. Die Zahl der Aktionen, die in kürzester Zeit geplant, organisiert und auf den Weg gebracht werden mussten, war folglich beachtlich. Dazu gehörten die genaue Festlegung des Ablaufs, das Einweihen und die Verpflichtung von Mitverschwörern, die Organisation der Truppen des Kampfbundes sowie die propagandistische Begleitung durch Agitatoren und Redner, die Herausgabe einer Sondernummer des VB, der Druck von Flugblättern und Plakaten.
Nach Mitternacht, gegen ein Uhr am 8.11.1923, soll Hitler sich noch in seiner Wohnung in der Thierschstr. 41 mit Hermann Esser (1920 Schriftleiter des VB, 1923-1925 Reichspropagandaleiter der NSDAP) besprochen haben. Am Morgen bestellte Hitler Rudolf Heß auf 10 Uhr zu sich in seine Wohnung, um ihm seine Aufgaben bei der Durchführung des Putsches zu erklären (Wien 2023, S. 268). Ob Hitler danach, wie etwa ein Heß-Biograph schreibt, zu Hermann Esser fuhr, »der mit einer Gelbsucht das Bett hütete« (Görtemaker 2023, S. 144) ist zweifelhaft.28 Unstrittig ist, dass sich Hitler an jenem Morgen zur Privatwohnung von Ernst Pöhner chauffieren lässt und mit ihm ein etwa einstündiges Gespräch führte. Dem ehemaligen Polizeichef von München wurde angetragen, nach dem Putsch Ministerpräsident zu werden. Er war einverstanden.
In den Redaktionsräumen des VB tauchte Hitler erst gegen Mittag auf, wie Volker Ullrich anschaulich beschreibt: »Um die Mittagszeit stürmte Hitler, bleich vor Erregung, die Reitpeitsche in der Hand, in die Redaktion des ‚Völkischen Beobachters‘ und erklärte dem überraschten Chefredakteur Alfred Rosenberg und dem ebenfalls anwesenden Ernst Hanfstaengl, dass er sich zum Putsch entschlossen habe« (Ullrich 2022, S. 199). In der Redaktion des VB werden daraufhin publizistische und propagandistische Vorbereitungen zur Flankierung des Putsches und der erwarteten Regierungsübernahme Hitlers in Gang gesetzt. Da der geplante Putsch noch Geheimsache ist, wird man in der Redaktion des VB ab diesem Zeitpunkt darauf geachtet haben, Unbekannten keinen Zutritt in die Redaktionsräume zu gewähren.29
Ernst Hanfstaengl, deutsch-amerikanischer Hitlerbewunderer, der zu der Zeit eine Art Auslands-Pressesprecher der NSDAP war, kontaktiert die amerikanischen Journalisten Larry Rue (Chicago Tribune) und H. R. Knickerbocker (Conradi 2007, S. 86) und versorgt offenbar auch weitere Auslandskorrespondenten mit Hinweisen, dass es sich lohne, abends in den Bürgerbräukeller zu gehen.
Was Hitler am Nachmittag des 8.11. tat und wo er sich jeweils befand, ist nicht ohne Weiteres minutiös zu rekonstruieren. Ein Hinweis von Hanfstaengl, der Hitler nachmittags dringend sprechen wollte, lautet: »Hitler war nirgends zu erreichen. Es hieß, er sei zu wichtigen Beratungen im Divisionskommando bei Hauptmann Dietl« (Hanfstaengl 1970, S. 131).30 Wäre Hitler nachmittags in den Räumen des VB gewesen, wäre das Hanfstaengl nicht verborgen geblieben. Welche Personen Hitler an jenem Nachmittag an welchen Orten sonst noch getroffen hat, kann an dieser Stelle offenbleiben. Gesichert scheint jedenfalls, dass es keine Begegnungen in den Räumen des VB gab, wo Xammar Hitler interviewt haben will.31
Ab ca. 18 Uhr war Hitler beim Oberkommandos der SA in der Schellingstrasse und erwartete dort Max Erwin Scheubner-Richter. Um 19 Uhr besuchte Hitler »noch einmal die Redaktion des Völkischen Beobachters und das Oberkommando der SA in der Schellingstraße. Hitler lud Rosenberg ein, mit ihm zum Bürgerbräu zu fahren. Vorn saß Hitler neben dem Fahrer, hinten Leibwächter Graf neben Rosenberg« (Wien, S. 283). Kurz nach 20 Uhr kamen Hitler und Rosenberg am Bürgerbräu an (Wien 2023, S. 283).
Aus der Lektüre der herangezogenen Sekundärliteratur ist zu folgern, dass Hitler einmal mittags aufgeregt im VB erscheint, um ausgewählte Personen in die Putschpläne einzuweihen, vorher an diesem Tag aber nicht in der Redaktion gewesen war. Nachmittags war er vermutlich auch nicht im VB, da Hanfstaengl, der ihn suchte, das mitbekommen hätte. Ein Interview mit unbekannten, ausländischen Besuchern in den Räumen des VB am Nachmittag des 8.11.1923 erscheint auch wegen der hohen Organisations- und Kommunikationserfordernisse der Putschvorbereitung, der damit verbundenen Hektik und Anspannung sowie der Geheimhaltungs- bzw. Sicherheitserfordernisse wegen unwahrscheinlich. Abends ist Hitler dann nur noch kurz vor der Abfahrt zum Bürgerbräu mit Chauffeur, Leibwächter und Rosenberg im VB.
Dass Hitler sich unter diesen Umständen beachtliche Zeit für zwei ihm unbekannte Spanier genommen hätte, um seine Ansichten zur Judenfrage darzulegen, aber auch seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu erläutern,32 ist höchst unwahrscheinlich, wie es auch unwahrscheinlich ist, dass solch ein Interview unbeobachtet geblieben wäre und von niemandem für aufzeichnungs- oder erinnerungswert befunden worden wäre. Weder bei Ernst Hanfstaengl, dem »Verbindungsmann zur ausländischen Presse« (Hanfstaengl 1970, S. 135), der in seinen Memoiren mehrere Seiten dem Geschehen am Tage des Putschversuchs widmete, noch im Tagebuch von Paula Schlier, die als Sekretärin in der Redaktion des VB tätig war, finden sich Hinweise auf das Interview und die spanischen Journalisten. Beide hätten ein solches von Hitler am Tag des Putsches gewährtes Interview sicher für bemerkenswert gehalten.
7. Das »Hitler-Interview« als Quelle der NS-Forschung in Deutschland
In deutscher Übersetzung erschien der Artikel Xammars, in dem die Schilderung eines Interviews mit Hitler im Zentrum steht, erstmals 2007 im Berenberg Verlag als Teil der Aufsatzsammlung mit dem Titel »Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924« (S. 145-148).
Zweifel an der Authentizität des beschriebenen Interviews gab es zunächst nicht. Dazu gab es auch keinen Grund. Denn die redaktionelle Einleitung zur katalanischen und spanischen Ausgabe (González Prada 2005, S. 10) hat selbst an keiner Stelle in Zweifel gezogen, dass dieses Interview tatsächlich stattgefunden hat. Wie bereits bemerkt, wird im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches davon gesprochen, dass Xammar und Pla »ein Exklusivinterview gewährt« worden sei, »in dem Hitler seine Pläne zur Judenvernichtung […] in aller Offenheit darlegte« (Berenberg 2007, S. 9).
Das Buch insgesamt erfuhr zu Recht bei deutschen Journalisten und Historikern eine außerordentlich positive Aufnahme. Und damit begann auch die Karriere des »Interviews« als relevanter Quelle der Forschungen zu Hitler.33 Anknüpfend an die einleitenden Bemerkungen des Verlegers, die niemand weiter hinterfragte, wurde eine bestimmte Lesart bei den Rezensenten dominant. Nirgends wird bezweifelt, dass es das »Interview« wirklich am 8.11.1923 gegeben hat.
Christian Welzbacher (Süddeutsche Zeitung 9.10.2007) greift die Rede vom Exklusivinterview auf und spricht von einer »journalistischen Sternstunde« und Volker Ullrich von einem »der seltenen Interviews, die ein ausländischer Korrespondent damals mit Hitler, nur wenige Stunden vor dem Staatsstreichversuch, führen durfte« (DIE ZEIT 4.10.2007). Der Historiker Ernst Piper (Tagesspiegel 07.01.2008) liest in dem Text, dass Hitler »ganz offen über seine Pläne zur Vernichtung der Juden schwadronierte«. Wera Reusch (Deutschlandfunk 4.10.2007) liest heraus, dass Hitler in dem Interview völlig unverblümt sein politisches Programm erklärt und unter anderem die Vernichtung der Juden angekündigt habe. Die genaue Lektüre des »Hitler-Interviews«, wie bereits oben argumentiert, zeigt jedoch, dass nicht davon die Rede sein kann, dass dort Hitlers Pläne zur Vernichtung der Juden offengelegt würden.
Ausführlich, und nicht nur für das Feuilleton, geht die Historikerin Edith Raim 2014 auf das »Hitler-Interview« ein. Das Interview soll ihr helfen, »die Rolle von Hitlers Antisemitismus hinsichtlich des eklatanten Gegensatzes von gesprochenem und geschriebenem Wort neu zu bestimmen« (S. 53). Es könnte als Beleg dafür dienen, dass Hitler in der mündlichen Rede seinen Antisemitismus unverblümter zum Ausdruck brachte als in schriftlicher Form. Die höheren Weihen der Historiker erhält das »Interview« schließlich dadurch, dass es als Quelle in der kritischen Ausgabe von »Mein Kampf« verwendet wird (Institut für Zeitgeschichte 2022, Anmerkung 172, online). Die Historiker Domeier (2021) und Dipper (2022), um zwei Beispiele zu nennen, nutzen das »Interview« in ihren Arbeiten bereits wie selbstverständlich als nicht weiter zu hinterfragende Quelle.
An den Besprechungen lässt sich die erstaunliche Macht von »Paratexten«, hier insbesondere die Rahmung durch Vorworte und Einführungen, zeigen. Das »Framing« durch kompetente HerausgeberInnen erzeugt Vertrauen und reduziert mögliche Skepsis und Zweifel an der Echtheit des Interviews. Es wundert folglich nicht, dass die Rezensionen in den Tageszeitungen auf den Vorgaben der Vorworte aufbauen.
Von HistorikerInnen, die sich fragen müssen, was das Interview als historische Quelle wert ist, wäre freilich eine quellenkritischere Herangehensweise zu erwarten gewesen. Unabhängig davon, ob es das Treffen und das Interview wirklich gab oder nicht, hätte eingehende Quellenkritik zu der Einsicht führen können, dass der Wert des Interviews als historische Quelle äußerst fragwürdig ist. Die wichtigsten quellenkritischen Argumente, die gegen die Echtheit des Interviews sprechen, wurden weiter oben bereits genannt.
Eine spezifische quellenkritische Frage ergibt sich mit Blick auf die Übersetzung, von der die deutschen Rezensenten und Historiker ausgingen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Übersetzung von »eliminar« als »vernichten« interessant. Im Katalanischen und Spanischen kann »eliminar« sowohl »entfernen« als auch »vernichten« heißen. Da Hitler die Formel von der Entfernung der Juden mehrfach benutzte, wäre auch »entfernen« eine mögliche und im Kontext des Interviews plausible Übersetzung gewesen. Entfernung der Juden wäre semantisch mit Massenvertreibung kompatibel, Vernichtung impliziert dagegen Tötung und Ermordung.
Zweifel an der Echtheit des Interviews wurden in Deutschland erst spät, und nicht vonseiten der Historikerzunft, laut. Im Jahr 2022 kommt Frank Henseleit, Herausgeber, Übersetzer und Verleger der Werke von Manuel Chavez Nogales, in seiner Einleitung zu dem Band »Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes«, einer Sammlung von Reportagen aus Deutschland im April und Mai 1933 für die Zeitung Ahora34, auch auf das »Hitler-Interview« von 1923 zu sprechen (Henseleit 2022, S. 30). Dazu dient ihm eine Art Exkurs mit dem Titel »Eugeni Xammar und Josep Pla erfinden ein ‚Interview‘ mit Adolf Hitler – eine Farce«. In diesem Exkurs wirft er Xammar (und Pla) bezogen auf das »Hitler-Interview« »Betrug« vor und dem deutschen Verlag eine »zweifelhafte Editionspraxis«, weil dieser dem »journalistischen Betrug trotz mehrfachen Hinweises nicht nachging« (ebd., S. 35).
Den Kern des fingierten Interviews sieht Henseleit in »Hitlers Ankündigung, die Juden auslöschen zu wollen, und zwar als vorrangige politische Agenda« (ebd., S. 31). Da diese Aussagen dem Hitler des »Interviews« von Xammar in den Mund gelegt wurden, entsteht für Henseleit die Frage, wie Xammar dazu kam. Seiner Ansicht nach zeugt das »Hitler-Interview« »von einem tiefen Antisemitismus in Teilen der spanischen und katalanischen Elite« (ebd., S. 32). »Die Fantasterei Xammars, wie man das ‚Problem‘ lösen könne, […] entsprang ganz offensichtlich einem tiefen Antisemitismus…« (ebd., S. 33). Begründungen und Belege, in welcher Weise Xammars Artikel vom 24.11.1923 nicht Hitlers, sondern Xammars Antisemitismus und den gewisser spanischer Eliten zum Ausdruck bringt, bleiben aus.
Festzuhalten bleibt, dass Henseleit die Debatte um die Echtheit des Interviews in den deutschen Sprachraum getragen hat und beizupflichten ist ihm auch, dass es in der katalanisch-spanischen Diskussion schwerfällt, sich von dem Gedanken zu trennen, dass es das »Hitler-Interview« doch irgendwie gab (Henseleit 2022, S. 30f.).
8. Ein perfekter Artikel über den Hitler-Putsch von einem, der nicht dabei war
Xammars Schilderung des Putsches im Bürgerbräukeller wurde vielfach in höchsten Tönen in der deutschen Presse gelobt. Es folgen einige wenige Beispiele: Der Verleger und Verfasser der Einleitung, Heinrich von Berenberg (2007) gibt den Ton vor: »Dem Münchener Hitler-Putsch im November 1923 hat er einige der besten und sarkastischten Seiten gewidmet, die je darüber geschrieben wurden. Fast könnte man meinen, Lion Feuchtwanger habe sie studiert, ehe er seinen politischen Schlüsselroman ‚Erfolg‘ schrieb« (2007, S. 9).
Paul Stänner (2008) sagt im Deutschlandfunk: »Xammar betrachtet die Geschehnisse in Deutschland, das er ausgiebig bereiste, wie ein Theaterzuschauer ein Drama oder ein Kinogänger einen Film. Hitler als Cowboy-Darsteller. Die Reportage dieses Putsches im Bier- und Tabaksdunst des Bürgerbräukellers ist eine hinreißend komische Schilderung einer makabren Posse. Xammar wusste, mit wem er es zu tun hatte, er hatte Hitler kurz zuvor interviewt.«
Volker Ullrich (Die ZEIT) liest »eine der aufschlussreichsten Schilderungen dieses zwischen blutigem Ernst und Groteske schwankenden Ereignisses« (Ullrich 2007). Andreas Mix (Berliner Zeitung) fasst zusammen: »In einer grandiosen Reportage charakterisierte Xammar den Hitler-Putsch als dilettantischen Streich bramabasierender Kleinbürger: ein Spektakel aus dumpfer Bierseligkeit und großen Gesten« (Mix 2007). Ernst Piper (Tagesspiegel) erkennt »eine klare Analyse des Geschehens, die den Putschversuch in seiner ganzen Lächerlichkeit entlarvt« (Piper 2008).
Der Punkt, um den es in der vorliegenden Erörterung geht, ist die allseits unterstellte Augenzeugenschaft Xammars, die hier bestritten wird. Liest man in dem Standardwerk zum Hitlerputsch 1923 von Harold J. Gordon jr die Passage zum Ablauf des Putsches nach (1971, S. 256 -261), sind deutliche Unterschiede zur Version Xammars in Details, aber auch im Gesamtablauf der Ereignisse im Bürgerbräukeller festzustellen. Da Xammar für eine spanische Leserschaft schrieb, mag ihm Exaktheit weniger wichtig gewesen sein als effektvolle Zuspitzung und Vereinfachung ‒ unabhängig davon, ob er dabei war oder nicht.
Das Besondere an der Schilderung des Putsches durch Xammar liegt weder im Neuigkeitswert seines Berichts noch in der Genauigkeit des Dargestellten, sondern in seinen außergewöhnlichen stilistischen Fähigkeiten, wozu unter anderem Selbstironie und Sarkasmus (siehe das Zitat in Abschnitt 1.4) gehören. Den Artikel über den Putsch einleitend schreibt Xammar selbstironisch (wissend, dass er nicht dabei war):
Ich gebe zu, es übersteigt meine Fähigkeiten, den Putsch in Bayern so zu schildern, dass der Leser ihn sich vorstellen kann, ohne dabei gewesen zu sein. Wenn ich es dennoch versuche, so deshalb, weil ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene und mir nichts anderes übrigbleibt (Xammar 2007, S. 134).
Den Beweis dafür, dass er selbst nicht dabei war, liefert eine Passage aus seinen Memoiren35, aufgezeichnet 1974/75, die nicht eindeutiger sein kann:
An diesem Abend löschten Josep Pla und ich unseren Durst im Franziskaner Bräu. […] Ich habe es schon gesagt, nicht wahr, dass wir an diesem Abend, als Josep Pla und ich unseren Durst im Franziskaner Bräu löschten, in einem anderen Münchner Keller – dem Hofbräu, wenn ich mich nicht irre – große Dinge passierten. Kurzlebig, aber groß. Genau gesagt, ein Staatsstreich, organisiert von einem bunt zusammengewürfelten Haufen rechter Gruppen und Grüppchen, öffentlich zugelassenen und klandestinen, an deren Spitze sich drei große Persönlichkeiten positioniert hatten: der General Ludendorff, während des Krieges erster Stellvertreter des Marschalls von Hindenburg, der Kopf der bayerischen Regierung von Kahr und der junge Stern des delirierenden germanischen Patriotismus, Adolf Hitler. Als Josep Pla und ich in der ziemlich kalten Nacht des 9. November zu Bett gingen, ahnten weder er noch ich, dass in dieser Nacht Geschichte geschrieben wurde. Und zwar, wie wir in den Zeitungen des nächsten Tages lasen, auf spektakuläre Weise (Xammar 1991, S. 265f., Übersetzung KB).
In der Tat wurde der Hergang des Putschversuches durch verschiedene Erklärungen von Kahrs, die die Grundlage viele Zeitungsberichte bildete, recht detailliert bekannt (Bischl 2023). Alsbald hatten auch Teile der deutschen Presse nach der Niederschlagung das Dilettantische und Komische des Vorgangs erkannt und schlachteten es aus. Am 10.11.1923 titelte Ernst Feder im Berliner Tageblatt »Das Ende der Hanswurstiade«, und auch in Amerika weiß man Bescheid. Larry Rue, der wirklich dabei war, schreibt am 11. November in der Chicago Tribune über die Ereignisse unter dem Titel »Tribune Man Gives First Eyewitness Story of Ludendorff’s Ill-fated Bavarian Coup«. In dem Artikel wird nebenbei auch die Bezeichnung »opera bouffe revolt« für den Putschversuch erfunden.36
Xammar hatte also noch etwas Zeit, um sich umzuhören, Kollegen zu treffen, deutsche und internationale Zeitungen zu lesen und an seinem Artikel zu arbeiten, der dann am 17. November 1923 in der katalanischen Zeitung La Veu de Catalunya mit dem Titel »Der Putsch als Spektakel« (2007, S. 134f.) veröffentlicht wurde.
9 Schlussbetrachtung
In dem vorliegenden Diskussionsbeitrag wurde argumentiert, dass davon auszugehen ist, dass ein »Interview«, das von niemandem bestätigt wird – nicht von Xammar selbst und auch von keinem anderen –, nicht stattgefunden hat. Plädiert wird für eine Beweislastumkehr. Es muss nicht bewiesen werden, dass das Interview nicht stattfand, sondern es müssen positive Belege gefunden werden, die anzeigen, dass es das fragliche Interview gab. Solange es einen solchen Nachweis nicht gibt, ist davon auszugehen, dass das Interview eine literarische Erfindung ist.
HistorikerInnen sollten das Interview nicht mehr als verlässliche Quelle verwenden. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Eugeni Xammar vermutlich deshalb niemals auf sein erfundenes Hitler-Interview zu sprechen kam, um vor der Historikerzunft und der Öffentlichkeit nicht als Fälscher dazustehen. Dieses Beschweigen aber ermöglichte erst, das »Interview« bei seiner Wiederentdeckung und erneuten Veröffentlichung für authentisch zu halten und als historische Quelle zu verwenden.
Ein wichtiges Ergebnis der vorgelegten Erörterung liegt auch darin, dass selbst für den Fall, dass doch noch Belege für ein Gespräch Xammar-Hitler auftauchen sollten, aus dem »Hitler-Interview« keine historisch belastbare Quelle würde. Denn zu offenkundig ist, dass die Ausführungen Hitlers in diesem »Interview« entscheidend von Xammars literarischer Imagination abhängen.
Erstaunt hat die außerordentliche Prägekraft der Vorworte und Einleitungen renommierter Verlage und HerausgeberInnen für die Wahrnehmung und Interpretation der Texte in relevanten Rezensionen. Vertrauenswürdigkeit und Renommee dieser Instanzen haben skeptische Nachfragen und erforderliche Quellenkritik erst gar nicht aufkommen lassen.
Ein Beispiel, das diese Problematik besonders deutlich macht, ist die Interpretation der Passagen zur Judenfrage in dem »Interview«. Die Verleger und Herausgeber haben den Ton vorgegeben. Es wurden die Pläne Hitlers zur Judenvernichtung herausgelesen und sogar Vorzeichen des Holocaust und der Endlösung darin erkannt. Manche halten den Text in dieser Hinsicht sogar für prophetisch.
Der Text aber gibt solche Deutungen, genau gelesen, nicht her. Wissenschaftlich unzulässige Rückprojektionen nach der Katastrophe führen zu falschen Interpretationen. Diese Interpretationen verdrehen zudem die offenkundige Intention Xammars. Dieser wollte nichts prophezeien, sondern Hitler und seinen fanatischen Antisemitismus als entsetzlich und gleichzeitig als geradezu lächerlich und grotesk vorführen.
Ein Fake ist ein Fake. Insofern ist Xammar nicht von dem Vorwurf zu entlasten, gegen das journalistische Berufsethos verstoßen zu haben. Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, welchen Schaden Xammar mit seinem fingierten Interview angerichtet hat. Der Schaden, den er bei seinen LeserInnen anrichtete, dürfte zu vernachlässigen sein. Auf der Habenseite wäre zu verbuchen, dass Xammar seinen Lesern den radikalen, eliminatorischen Antisemitismus Hitlers drastisch vor Augen führte, aber zusätzlich auch Detailkenntnisse über das antisemitische Bayern vermittelte, wenn er über die Ausweisung der Ostjuden in Bayern oder über den Konflikt der NSDAP mit der katholischen Kirche in Gestalt des Kardinals Michael von Faulhaber informierte.
Die Berichte Xammars aus Deutschland waren, so die Annahme, nicht wegen ihrer Aktualität (die oft nicht gegeben war) attraktiv, sondern wegen seiner außergewöhnlich guten Kenntnisse der deutschen Verhältnisse und wegen seines unverwechselbaren, unterhaltsamen Stils, die zu einer spezifischen Form des Infotainment zusammenkamen.
Für eine angemessene Bewertung, die nicht nur Maßstäbe von heute auf die Vergangenheit anwendet, wären im Sinne einer erweiterten Quellenkritik auch die zeittypischen Rahmenbedingungen des »spanischen Zeitungswesens und seiner Schreibweisen« quellenkritisch einzubeziehen, »um die Zusammenhänge zu verstehen, unter denen die Beiträge entstanden« (Welzbacher 2007).
Zu erinnern ist an die Einschätzung Permanyers, dass ein fingiertes Interview damals durchaus zum Charakter von Xammar und Pla sowie dem Stil der Epoche passte. Der Hinweis auf den Stil der Epoche ist interessant, weil damit gemeint sein könnte, dass es (bereits) damals in den 1920er Jahren unter Umständen wichtiger war, eine gute Geschichte abzuliefern als eine, die sich strikt an die Tatsachen hielt und bei der man unbedingt selbst dabei gewesen sein musste.
Eine gute story bedeutete, der Leserschaft etwas Spannendes als selbst Erlebtes aus der Ich-Perspektive zu erzählen. Eine ausdrückliche Versicherung der Augenzeugenschaft des Reporters war dafür hilfreich. Das lässt sich zum Beispiel auch für den Journalisten und Star-Reporter Manuel Chavez Nogales zeigen, der wie kein anderer den Nimbus des »Mannes, der dabei war« besaß. In seiner Reportage über die Verteidigung Madrids im Bürgerkrieg ist er als Autor in Madrid dabei, als Person hielt er sich jedoch in den Tagen nachweislich in Valencia auf (Morató 2023, S. 20).
Die Erwartung der damaligen LeserInnen, dass der Autor dabei zu sein und über Erlebtes zu berichten habe, konnte auch Xammar nicht enttäuschen. Seine Artikel, die am Tag des Hitlerputsches vom 8.11.1923 angesiedelt sind, bloß als Kompilation von Gelesenem und über Gespräche Erfahrenem zu erkennen, wäre frustrierend und langweilig gewesen. Auch das »Interview« hätte als Darstellung des radikalen, fanatischen Antisemitismus des Adolf Hitler aus Reden, Dokumenten und Gesprächen mit Nazis rekonstruiert und präsentiert werden können. Das war indes keine attraktive Option. Angesichts eines wehrlosen Adolf Hitler in Haft, riskierte Xammar den Versuch, ein fingiertes Interview als Groteske durchzubringen, um aus einem zu dem Zeitpunkt nur noch mäßig interessanten Thema (NSDAP verboten, Hitler in Haft) noch einmal Funken zu schlagen.
Wie immer man die Artikel Xammars vom 8.11.1923 versteht, sie regen heute noch an, über Fake, literarische Wahrheit und rigorose Quellenkritik nachzudenken.
Anmerkungen
- La Veu de Catalunya (Die Stimme Kataloniens) war das katalanische Sprachrohr der von Francesc Cambó angeführten bürgerlich-konservativen, katalanisch-nationalistischen Partei Lliga Regionalista. Außer den beiden genannten Zeitungsartikeln veröffentlichte Xammar noch am 23.11.1923 im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch quasi als Ergänzung »von Kahr erklärt den Münchener Putsch« (ebd., S. 142-144). Mehr als einen Monat vorher, am 9.10.1923, hatte er schon in derselben Zeitung, auf Basis eines Fotos, eine kurze, ätzende Charakterisierung Hitlers veröffentlicht (ebd., S. 116). ↩︎
- Politisch ist von Interesse, dass die mit der Diktatur Primo de Riveras (13.9.1923-28.1.1930) eingeführte Zensur in Xammars Beitrag vom 24. November eingriff, indem sie drei Zeilen einer Spalte schwärzen lies. Immer wieder wurde spekuliert, dass es bei der Streichung um eine Passage zur Vertreibung der Juden aus Spanien ging. Ein weiterer Anlass für Spekulationen ist der Umstand, dass Xammar nach dem 24. November eine Zeit lang nicht mehr für die Veu de Catalunya schrieb, was ohne Belege und ohne Zögern mit dem zensierten Artikel in Verbindung gebracht wird, der ihn seine Stelle gekostet haben soll (González Prada 1998, von Berenberg 2007, Henseleit 2022). Übrigens erschien der Artikel vier Tage später (ohne die Schwärzungen und selbstverständlich ohne den unbekannten in La Veu de Catalunya zuvor geschwärzten Text) auf Spanisch in La Correspondencia de Valencia (Xammar 1923, online), einer Zeitung, die zu dem Zeitpunkt die Position der valencianischen Regionalisten vertrat, die Francesc Cambó nahestanden. Bei der politischen Beurteilung der Vorgänge innerhalb der Lliga Regionalista und ihrer Presseorgane ist zu bedenken, dass viele konservative Katalanisten der Lliga, aber eben nicht alle, die Diktatur Primo de Riveras zumindest anfangs begrüßten (Smith 2010). Innerhalb der Correspondencia de Valencia kam es deswegen sogar zu einer Abspaltung, bei der die Gegner der Diktatur die Redaktion verließen (Eintrag La Correspondencia de Valencia in der Enciclopèdia.cat 2024, online). ↩︎
- Im Original: »la peça més controvertida del periodisme català«. ↩︎
- Ergänzt sei an dieser Stelle, dass der später sehr berühmte Journalist und Schriftsteller Josep Pla einige Tage später als Xammar, nämlich am 28. November, in der katalanischen Zeitung La Publicitat einen Artikel »Geschichten aus Bayern: Hitlers Monolog« veröffentlichte, dessen Inhalt ebenfalls das Treffen mit Hitler wiedergeben soll (Xammar 2007, S. 149-152). »Hitlers Monolog« ist als genau so fiktiv anzusehen wie das »Hitler-Interview«. Als sicher gilt übrigens, dass Pla kein Deutsch verstand. ↩︎
- 1998 wurden zunächst die frühen Artikel Xammars auf Katalanisch unter dem Titel L’ou de la serp veröffentlicht (Xammar 1998). Es folgte im Jahr 2005 die spanische Übersetzung El huevo de la serpiente (Xammar 2005). In deutscher Übersetzung erschien die Aufsatzsammlung unter dem Titel Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924 im Berenberg Verlag (Xammar 2007). Bislang nur auf Spanisch erschien eine Sammlung der für Ahora geschriebenen Beiträge (Xammar 2005) unter dem Titel Crónicas desde Berlín (1930-1936). ↩︎
- Über Xammar als Persönlichkeit informieren kurz die online verfügbaren Artikel von Charo González Prada (1998) und Jordi Amat (2019), und etwas ausführlicher die vorzügliche Einleitung von Charo González Prada (2005) zu den Crónicas desde Berlín. ↩︎
- Josep Pla charakterisierte Xammar als »un terrible devorador de diarios« (zit. nach González Prada 2005, S. 18.). ↩︎
- Zum »Deutschen Kampfbund«, eine Vereinigung paramilitärischer Organisationen, gehörten die SA (Hermann Göring), die Reichsflagge (Adolf Heiß) und der Bund Oberland (Friedrich Weber). Militärischer Führer des Kampfbundes war Oberstleutnant a.D. Hermann Kriebel (1878-1941), das Amt des Geschäftsführers hatte Max Erwin von Scheubner-Richter (1884-1923) inne. Am 25. September 1923 hatte Adolf Hitler die politische Leitung des Kampfbunds übernommen (Zelnhefer 2024). ↩︎
- Beide, die katalanische und die spanischsprachige Veröffentlichung des Artikels sind online verfügbar (siehe im Literaturverzeichnis Xammar 1923). ↩︎
- Die Historikerin Edith Raim, die von der Echtheit des »Interviews« ausgeht, bestätigt indirekt den Eindruck, es mit der Inszenierung eines Schwanks zu tun zu haben. Sie liest aus dem »Interview« heraus, dass Hitler sich am 8.11.1923 den katalanischen Journalisten gegenüber »aufgeräumt und redselig« äußerte, und sie spekuliert, dass ihn womöglich »die Aussicht auf die geplante ‚Machtübernahme‘ durch den Putsch zu einem offeneren Wort animierte« und die außergewöhnlich deutliche Sprache womöglich damit zusammenhing, dass er in den Spaniern, die sich als Anhänger des Diktators Primo de Riveras ausgaben, »verwandte Seelen« erkannte (Raim 2014, S. 58-60). ↩︎
- Diese drei Autoren haben explizit die Frage nach der Echtheit des Interviews untersucht. Zweifel an der Echtheit des Interviews finden sich als Nebenbemerkungen auch bei einer Reihe anderer Autoren, etwa bei dem bereits zitierten Jordi Amat (2019). Der Historiker und Medienforscher Guillamet Lloveras schreibt: »Es ist eine plausible Hypothese, dass es sich um ein fiktives Interview handelt« (im Original: »Una hipòtesi versemblant és que es tracti d’una entrevista fictícia« (2022, S. 16f.). Der Historiker Josep Maria Fradera (zitiert in Nopca 2023, online) meint: »Es ist legitim, sich zu fragen, ob das berühmte Interview tatsächlich stattgefunden hat oder nicht« (im Original: »Es lícito pregutarse sí la famosa entrevista se produjo o no«). ↩︎
- Im Original: »En fin, una diablura inocente que cuadra con el perfil de Xammar, de Pla y también con el estilo de la época« (Permanyer 2000, S. 2). ↩︎
- In der Tat ist es als unwahrscheinlich anzusehen, dass Hitler gerade zwei Fremden gegenüber etwas mit Neuigkeitswert offenbaren sollte. Anders als Sánchez Piñol nahelegt, wird nach der hier vertretenen Meinung (ausführlich dazu Abschnitt 5) in dem »Interview« aber nichts Neues zur Judenvernichtung kundgetan, sondern aus der bekannten antisemitischen Ideenwelt geschöpft. ↩︎
- Es ist schwer zu beurteilen, wie gut Hitler die spanische Geschichte kannte. Erwähnenswert mag immerhin sein, dass er in »Mein Kampf« die Judenvertreibung der katholischen Könige nicht aufgreift, und sich den spanischen Diktator Primo de Rivera als eine Art Mussolini zurechtlegt: »Ein katalanischer General zog aus gegen Madrid, erst mit einer Brigade, aber es wird eine Division daraus, und endlich liegt ihm das ganze Land zu Füßen. Als er marschiert, ist noch immer nicht ganz Spanien gewonnen, Madrid ist nicht Spanien, aber es wird gewonnen« (Jäckl/Kuhn 1986, S. 1116 (28.2.1924 = Dritter Verhandlungstag im Hitler-Ludendorff-Prozess). ↩︎
- Im Original: »Quin parell. Veuen com eren uns genis? Fins i tot quan l’espifien no pots no parlar d’ells«. ↩︎
- Im Original: »[Xammar y Pla] tenían todas las credenciales literarias necesarias para haber reescrito el recuerdo de su entrevista con Adolf Hitler, fuera como fuera este encuentro, fugaz, improvisado, predeterminado, exclusivo o con otros periodistas«. ↩︎
- Im Original: »[Pero] quizás no se sintieron nunca muy orgullosos de ello. O temían que se les reprochara no haber detectado en el dictador al loco peligroso que ya era«. ↩︎
- Nachweisbar hatte die neu errichtete spanische Diktatur bei Alfred Rosenberg, damals Chefredakteur des VB, großes Interesse gefunden, wie ein Tagebucheintrag von Paula Schlier belegt. Diese, eine sozialdemokratisch denkende Journalistin, hatte sich als Sekretärin im VB einstellen lassen, um undercover Erkenntnisse über die NSDAP zu gewinnen. Sie notiert in ihrem Tagebuch, dass am 28. Oktober 1923 ein spanischer Anhänger Primo de Riveras in die Redaktion kam und ein intensives Gespräch mit Rosenberg führte: »Heute war ein Spanier da, ein fanatischer Revolutionär, der von dem Umsturz in seiner Heimat Kunde brachte. Er wurde wie ein Fürst empfangen und saß im Zimmer des Chefredakteurs. R. hatte mich rufen lassen, damit ich Wichtiges aus der Erzählung des Spaniers mitstenographiere. […] Während der Erzählung des Spaniers schien es mir, als werde es dem Chefredakteur immer leichter und freier zu Mute. Er stand auf, schüttelte dem Spanier die Hand. Seine Ironie war geschwunden. Er sagte nicht: Spaniens Revolution wird uns ein Ansporn sein, aber es sprach aus dem Blick, mit dem er dem fremden Herrn, ihn zur Tür geleitend, bedeutsam in die Augen sah.« (Schlier 2018, Kindle-Version, S. 85). ↩︎
- In diesem Zusammenhang sind die Aufzeichnungen Leo Lanias von Interesse. Ebenfalls im Oktober 1923 hatte sich dieser politisch links stehende, ausgezeichnet Italienisch sprechende Journalist ebenfalls undercover mit einem selbst gefälschten Empfehlungsschreiben von Mussolinis Bruder als »Verbindungsmann zwischen faschistischer Partei und der ‚deutschen Bruderbewegung’« in der Redaktion des VB vorgestellt (Lania 1954, S. 227). Er wurde vorzüglich behandelt, bekam einen Dolmetscher, führte Gespräche mit Hitler und weiteren Nazi-Größen, bevor er nach acht Tagen enttarnt wurde und nur knapp mit dem Leben davon kam. Seine Erfahrung belegt das überaus große Interesse der Nationalsozialisten an Kontakten mit den italienischen Faschisten. Zu Hitler schreibt er auf Basis seiner Begegnungen: »seine [Hitlers] Überzeugung von seiner Mission und seiner Größe, die war unbedingt echt. In diesem Punkt war er ehrlich. Und in seinem Antisemitismus.« (1954, S. 227). Lania verstand auch, dass Hitler eine künftige Machteroberung mit dem Ziel der Militarisierung Deutschlands und einem neuen Krieg verband. Lania schrieb über sein Abenteuer und seine Erkenntnisse wenig später in der »Vossischen Zeitung«. ↩︎
- Die Ablehnung von Pogromen findet sich explizit in folgenden Dokumenten: (1) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 61: München, 16. September 1919: Brief an Adolf Gemlich = Gutachten über den Antisemitismus erstellt im Auftrag seiner militärischen Vorgesetzten, S. 88-90f. (2) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 91: München, 6. April 1920: Diskussionsbeitrag auf einer NSDAP-Versammlung, S. 119f. (3) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 136: München, 13. August 1920: Rede auf einer NSDAP-Versammlung »Warum sind wir Antisemiten«, S. 184-204. ↩︎
- Aus der aktuellen Verlagsbeschreibung (Acantilado 2024): »Viajaron [Xammar und Pla] juntos a Renania y a Baviera, desde donde describieron entre otras cosas los consejos de guerra franceses a ciudadanos alemanes poco dispuestos a colaborar o el frustrado golpe de Estado de Hitler en una cervecería de Múnich, así como una turbadora entrevista que mantuvieron con el futuro dictador en una época tan temprana como 1923, en la que éste ya prefigura el holocausto«. ↩︎
- Und wenn Xammar, so eine weitere Überlegung Espadas, das »Interview« erfunden hätte, dann hätte ja der Journalist die Endlösung prophetisch vorausgesagt. Diese Sichtweise ist vom Text her, aber auch von der Intention Xammars nicht gedeckt. Xammar wollte nicht von einer düsteren Zukunft raunen, sondern, so die hier vorgeschlagene Sichtweise, seiner Leserschaft vor Augen führen, dass die Ansichten Hitlers zum Judenproblem zwar entsetzlich, aber auch »äußerst erheiternd« wären (Xammar 2007, S. 148) und Hitler nicht ernst zu nehmen sei. ↩︎
- Roman Töppel, der untersucht hat, welche zeitgenössischen Antisemiten Hitlers Rassedenken in besonderer Weise beeinflusst haben, nennt Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Julius Langbehn, Heinrich Claß, Theodor Fritsch, Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz sowie Paul Bang, Dietrich Eckart, Otto Hauser, Hans F. K. Günther und Alfred Rosenberg (Töppel 2016, S. 31). ↩︎
- Töppel weist (2016, S. 21) auch darauf hin, dass »Jude« und »jüdisch« letztendlich zu Chiffren werden für alles, was die Nationalsozialisten bekämpften. Und in der Tat sind die Kombinationen von Judentum mit Marxismus, Pazifismus, Demokratie vielfach anzutreffen. Dazu ein Beispiel: »Deutschland wird nur leben können, wenn der Saustall jüdischer Korruption, demokratischer Heuchelei und sozialistischen Betrugs mit eisernem Besen ausgefegt wird« (Völkischer Beobachter vom 15. Mai 1921, abgedruckt in Jäckel/Kuhn 1986, S. 393f.). ↩︎
- Das erste Auslandsinterview überhaupt gab Hitler dem Auslandskorrespondenten Karl von Wiegand, das am 13. November 1922 in The Bridgeport Telegram erschien (Domeier 2021, S. 350). Der Korrespondent der Tageszeitung ABC in Berlin, Javier Bueno García, der seine Artikel mit Azpeitua zeichnete, veröffentlichte am 6. April 1923 das vermutlich erste Interview mit Hitler in einer spanischen Zeitung (Pla Barbero 2018, online). ↩︎
- Im Original: »The Jews are not German. They are an alien people in our midst, and manifest themselves as such […] We are like a consumptive, who does not realize that he is doomed unless he expels the microbes from his lungs. Nations, like individuals, are apt to dance most wildly when they are nearest the abyss. Hence, I say, we need violent correctives, strong medicine, maybe amputation. […] We wish to purge ourselves from the Jews not because they are Jews, but because they are a disturbing influence.« ↩︎
- Bei der Rekonstruktion der Ereignisse am 8.11.1923 wurde in erster Linie auf die akribische Arbeit von Bernhard Wien zu den Putschversuchen des Jahres 1923 zurückgegriffen (Wien 2023). Anzumerken ist gleichwohl, dass bislang keine konsolidierte, von der Forschergemeinschaft anerkannte minutiöse Chronologie von Hitlers Tagesablauf vorzuliegen scheint. ↩︎
- Hitler hatte Esser zwar erst vor ein paar Stunden gesprochen, aber das schließt nicht aus, dass er dem »gesundheitlich Angeschlagenen« (Wien 2023, S. 311) einen Besuch abstattete. Jedenfalls steht fest, dass Esser am 8.11.1923 auf unterschiedliche Weise mittat, etwa bei der den Putsch flankierenden Propagandaarbeit (ebd., S. 307f.) oder als Redner abends im Löwenbräukeller (ebd., S. 311f.). ↩︎
- Das Geschehen in der Redaktion am Abend des 8.11. und am Folgetag hat Paula Schlier in ihrem Tagebuch anschaulich beschrieben und später auch veröffentlicht (Schlier 2018). ↩︎
- Im Wikipedia-Eintrag zu Eduard Dietl (Wikipedia: Eduard_Dietl 2024) heißt es, dass dieser seit dem Frühjahr 1923 die Münchner SA militärisch ausbildete, und dass am Abend des 8. November 1923 eine Nachtausbildung von Einheiten der SA, des Bundes Oberland und des Hermannbundes stattfinden sollte. Ein Treffen Hitlers mit Dietl am Nachmittag vor dem geplanten Putsch, bei dem Truppen des Kampfbundes zum Einsatz kommen sollten, anzunehmen, ist plausibel. ↩︎
- Übrigens setzte Xammar selbst eine Falschmeldung über den Aufenthalt Hitlers am Nachmittag des 8.11.1923 in die Welt, indem er in seinem Artikel vom 23. November »von Kahr erklärt den Münchener Putsch« schrieb, Hitler habe zu der Zeit an einer Sitzung mit von Kahr teilgenommen. Dem war nachweislich nicht so. Der Sachverhalt ist kompliziert und nur am Rande interessant. Der Artikel Xammars beruht auf einer gut dokumentierten Erklärung des Generalstaatskommissariats vom 9.11.1923 und einer weiteren Erklärung auf einer Pressekonferenz vom 10.11.1923, an der Xammar teilnahm. Xammar gibt von Kahr wie folgt wieder: »Noch am Nachmittag des achten November habe ich mich mit Vertretern der vaterländischen Vereine und Gesellschaften zu einem letzten Gespräch getroffen.« Dort argumentierte von Kahr, dass es für eine direkte Aktion zu früh sei, und fuhr fort: »Das ist meine Ansicht, und nachdem ich sie kundgetan hatte, zeigten sich alle Anwesenden, darunter Hitler und Ludendorff, einverstanden«. Von Kahr bezieht sich in seiner Verlautbarung aber auf eine Versammlung vom 6. November. Dort heißt es wörtlich: »Ich hatte zwei Tage vor der Versammlung, die durch Hitlers Überfall gestört wurde, eine eingehende vertrauensvolle Aussprache mit allen Vertretern und Führern der bayrischen vaterländischen Verbände; auch Hitler und der militärische Führer des Kampfbundes waren anwesend« (Bischel 2023, S. 68 – Erklärungen auf der Pressekonferenz des Generalstaatskommissariats am 10. November 1923). Es ging also um den Nachmittag des 6. November. Dazu kommt, was Xammar nicht wissen konnte, dass das Generalstaatskommissariat später, am 10. Dezember, sogar eingestehen musste, »dass Hitler bei der Aussprache nicht anwesend war« (Bischel 2023, S. 105). Pla Barbero (2018 online) nimmt auf Basis des irreführenden Artikels von Xammar an, Hitler habe am 8.11. nachmittags an jener Sitzung teilgenommen und habe deshalb bloß am Morgen des 8.11. Zeit gehabt, um sich mit Xammar und Pla zu treffen. ↩︎
- »Morgen werden wir seine wirtschaftlichen und politischen Ideen darstellen« (Xammar 2007, S. 148), lautet eine Ankündigung am Ende des »Interviews«. Zu dem Artikel kommt es aber nicht, so die Herausgeber des Bandes, weil Xammar nach dem ersten Teil des »Interviews« nicht weiter bei der Veu de Catalunya beschäftigt wurde (ebd., S. 148). ↩︎
- Weitere Rezensionen, die ebenfalls die Echtheit des Interviews annehmen, stammen von Sabine Fröhlich (NZZ v. 8.10.2007), Marie Luise Knott (taz v. 13.10.2007), Rainer Hank (FAZ v. 3.6.2008), Wolfgang Benz (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2007), o.A. (Cicero 2007) und dem Nachzügler Armin Fuhrer (Focus 3.6.2022). ↩︎
- Eine ausführliche Besprechung dieses Buches erfolgte im Spanienecho (Böhle 2024). ↩︎
- Im Original: »Aquell vespre Josep Pla i jo ens fèiem passar la set al celler de la Franziskaner Bräu […]. Deia, doncs, que aquell vespre, mentre Josep Pla i jo ens fèiem passar la set a la Franziskaner Bräu, en un altre celler de Munic ―el de la Hofbräu, si no vaig errat― passaven coses grosses. Efímeres, però grosses. Exactament, un cop d’Estat organitzat per una munió bigarrada de grups i grupets de dreta, públics i clandestins, al davant de la qual s’havien posat tres grans personatges: el general Ludendorff, primer lloctinent del mariscal Von Hindenburg durant la guerra, el cap del govern bavarès Von Kahr, i la jove estrella del patriotisme germànic delirant, Adolf Hitler. En ficar-nos al llit Josep Pla i jo, aquella nit del 9 de novembre era més aviat freda, ni ell ni jo no sospitàvem que fos històrica. Ho fou, segons llegírem als diaris de l’endemà d’una manera espectacular« (Xammar 1991, S. 265f.). ↩︎
- In der Arbeit von Gary Klein (1997) wird ein Kapitel dem Echo und der journalistischen Verarbeitung des Putsches in drei Zeitungen nachgegangen: New York Times, Chicago Daily Tribune, Chicago Daily News. Nach Klein war Ludendorff weit mehr als Hitler dem schonungslosen Spott und Hohn der amerikanischen Presse ausgesetzt (S. 18). In einer Karikatur wird dieser, nicht Hitler (wie bei Xammar) als »Diktator für einen Tag« ausgemalt. Katherine Blunt (2015) untersuchte die Einschätzung Hitlers vonseiten der New York Times, The Christian Science Monitor und The Washington Post vor und nach dem Hitlerputsch (1923-1924). Sie fand heraus, dass Hitler nach dem gescheiterten Putsch nicht mehr recht ernst genommen wurde und sein späterer Aufstieg umso überraschender für viele US-Amerikaner kam. ↩︎
Verwendete Literatur
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Amat, Jordi: El hombre tras el mito. La Vanguardia vom 14.06.2019; online: https://www.lavanguardia.com/edicion-impresa/20190614/462866908349/el-hombre-tras-el-mito.html [zuletzt überprüft am 15.04.2024].
ders.: Munich: de la revolución al nazismo. La Vanguardia vom 29.09.2019; online: https://www.lavanguardia.com/cultura/culturas/20190929/47652660580/hitler-primera-guerra-mundial.html [zuletzt überprüft am 14.6.2024]
Bein, Alexander: Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 6(1958)4, S. 340-360.
Benz, Wolfgang: Eugeni Xammar: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924. Berlin 2007. (Rezension von Xammar 2007). Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 55 (2007), 12, S. 1054-1055.
Berenberg, Heinrich von: Einleitung. In: Xammar, Eugeni: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Berlin 2007, S. 7- 13.
Bischel, Matthias (Hg.): Generalstaatskommissar Gustav von Kahr und der Hitler-Ludendorff-Putsch. Dokumente zu den Ereignissen am 8./9. November 1923. Verlag C.H. Beck: München 2023.
Blunt, Katherine: Yesterday’s News: Media Framing of Hitler’s early years, 1923-1924. In: The Elon Journal of Undergraduate Research in Communications, Vol 6, No. 1, Spring 2015, S. 92-104.
Böhle, Knud: Eine Momentaufnahme mit Tiefenschärfe. Wie ein spanischer Sonderkorrespondent die NS-Diktatur bereits im Mai 1933 durchschaute (Rezension von Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hankreuzes. Kupido Literaturverlag: Köln 2022). In: Spanienecho 15.2.2024, online: https://spanienecho.net/2024/02/15/manuel-chaves-nogales-deutschland-im-zeichen-des-hakenkreuzes/ [zuletzt überprüft am 03.05.2024].
Conradi, Peter: Hitlers Klavierspieler. Ernst Hanfstaengl: Vertrauter Hitlers, Verbündeter Roosevelts. Scherz: Frankfurt am Main 2007.
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Görtemaker, Manfred: Rudolf Hess. Der Stellvertreter. C. H. Beck Verlag: München 2023.
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Henseleit, Frank: Eugeni Xammar und Josep Pla erfinden ein ‚Interview‘ mit Adolf Hitler – eine Farce. In ders.: Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe von Chavez Nogales, Manuel: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido: Köln 2022, S. 29-35.
Institut für Zeitgeschichte: Hitler, Mein Kampf, eine kritische Edition; herausgegeben von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser. Band I und II. Institut für Zeitgeschichte: München 2016. Die Onlineausgabe entspricht der dreizehnten Auflage der Printausgabe von 2022: https://www.mein-kampf-edition.de/.
Jäckel, Eberhard, und Kuhn, Axel (Hrsg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1986
‒ Dokument Nr. 61: München, 16. September 1919: Brief an Adolf Gemlich = Gutachten über den Antisemitismus erstellt im Auftrag seiner militärischen Vorgesetzten, S. 88-90f.
‒ Dokument Nr. 91: München, 6. April 1920: Diskussionsbeitrag auf einer NSDAP-Versammlung, S. 119f.
‒ Dokument Nr. 136: München, 13. August 1920: Rede auf einer NSDAP-Versammlung »Warum sind wir Antisemiten«, S. 184-204.
‒ Dokument Nr. 578: Interview mit George Sylvester Viereck veröffentlicht in The American Monthly vom Oktober 1923, S. 1023-1026.
‒ Dokument Nr. 239: München 15. Mai 1921. »Pollakenbüttelgemeinheiten«. Aufsatz im Völkischen Beobachter, S. 393-394.
‒ Dokument Nr. 607: München, 28.2.1924. Vor dem Volksgericht. Dritte Verhandlungstag, S. 1109-1120.
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