Eugeni Xammar: Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit

Das mysteriöse »Hitler-Interview« des Eugeni Xammar vom 8. November 1923

Diskussionsbeitrag von Knud Böhle


1. Worum es in diesem Diskussionsbeitrag geht

1.1 Zielsetzungen

Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 8.11.1923, begann der Hitler-Ludendorff Putsch im Münchner Bürger­bräukeller. An dem Tag hielt sich auch der spanische Auslandskorrespondent Eugeni Xammar in München auf. Nach seinen Angaben gewährte Hitler ihm (und seinem Freund und Kollegen Josep Pla) tagsüber ein Interview.

Nur wenige Stunden vor dem Staatsstreich, der ihn für eine Nacht zum Diktator von Deutschland machen sollte, hat uns Adolf Hitler ein Interview gewährt, das man zweifellos als interessant bezeichnen kann (Xammar 2007, S. 145).

Abends war er dann, so lässt er seine LeserInnen wissen, Augenzeuge des Hitlerputsches im Bürgerbräu­keller.

Es gibt wenig Eindrucksvolleres als einen gut organisierten und inszenierten Putsch, wie den, den mitzuerleben ich das Glück und das Vergnügen hatte, kaum dass ich vierundzwan­zig Stunden in München war (ebd., S. 134).

So steht es in den Artikeln, die von Xammar in der Veu de Catalunya veröffentlicht wurden.1 Am 17.11.1923 erschien dort sein Artikel »Der Putsch als Spektakel« (Xammar 2007, S. 134f.), am 24.11.1923 folgte »Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit« (ebd. S. 145-148), dessen wesentlicher In­halt das Interview ist, das Xammar mit Hitler in den Räumen des Völkischen Beobachters, im Folgenden kurz VB, am 8.11.1923 geführt haben will.2

Um diese beiden Artikel geht es im Folgenden. Dabei ist der Artikel über den Putsch im Bürgerbräukeller eine Nebensache und von Interesse nur insofern als sich zeigen lässt, dass Xammar bei dem Ereignis, über das er schrieb, schlicht nicht zuge­gen war. Bei dem »Hitler-Interview« indes handelt es sich um das »umstrittenste Stück des katalanis­chen Journalismus« (Sánchez Piñol 2009, ähnlich auch Pla Barbero 2018).3 Denn wenn es an jenem geschichtsträchtigen Tag ein Treffen und ein Gespräch zwischen Hitler und Xammar gab, wäre das für die Forschungen zur Person Adolf Hitlers und des Nationalsozialis­mus höchst interessant.

Die Bedeutung eines solchen Interviews als historische Quelle würde freilich weiter stei­gen, wenn es dar­in inhaltlich etwas Neues zu erfahren gäbe. Das zu beurteilen, setzt allerdings textkritische und quellen­kritische Akribie und Rigorismus voraus. Dabei wäre etwa zu klären, ob die Interview-Situation formell oder informell war, ob der ausländische Interviewer die Worte seines Gesprächspartners richtig verstan­den hat, ob der Interviewer sich korrekt erinnert hat, ob der Interviewer wortgetreu und wahrhaftig wie­dergab, was gesagt wurde, oder er seinem Interviewpartner etwas unterschob, was dieser nicht gesagt oder so nicht gemeint hatte. Auch in diesem Fall wäre das Interview als his­torische Informationsquelle weitgehend wertlos. Dass ein gänzlich fingiertes Hitler-Interview eines Journalisten aus dem Jahr 1923 für die NS-Forschung wertlos ist, versteht sich von selbst. Die vorrangig zu klärende Streitfrage ist demnach, ob Eugeni Xammar das »Hitler-Interview« tatsächlich geführt oder bloß erfunden hat. Gab es dieses Interview, wäre es weiter text- und quellenkritisch zu prü­fen.

In diesem Beitrag wird – die spanische Diskussion um die Echtheit des Interviews aufgrei­fend – argu­mentiert, dass die Annahme, es habe dieses Interview gegeben, aufzugeben ist. Wenn im Fol­genden von diesem, wie gezeigt werden soll, fingierten Interview die Rede ist, wird das, wo nö­tig, typogra­fisch deut­lich gemacht als »Interview« oder »Hitler-Interview«.4

Es wird darüber hinaus nachgezeichnet und diskutiert, wie nach dem Erscheinen der deutschen Überset­zung, das »Interview« erstaunlicherweise in der deut­schen For­schung zum Nationalsozialismus den Status einer vertrauens­würdigen historischen Quelle erlangen konn­te.

Die Absicht der folgenden Erörterung ist es, die Diskussion um die Echtheit des »Interviews« voranzu­treiben, um Klarheit darüber zu gewinnen, ob es sich um ein für die historische Forschung wertloses, fin­giertes Interview handelt oder um eine wertvolle historische Quelle.

1.2 Der Auslandskorrespondent Eugeni Xammar

Bevor näher auf den Artikel mit dem »Interview« eingegangen wird, soll Eugeni Xammar (1888-1973) kurz vorgestellt werden. Der Katalane gehört zu den bedeuten­den spanischen Journalisten, die in den lan­gen Jahren des Franquismus weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden waren. Die Ar­tikel, die er als Auslandskorrespondent aus Deutschland zwischen 1922 und 1924 für katalanische Zeitun­gen und von 1930 bis 1936 für die Madrider Tagesz­eitung Ahora verfasste, wurden erst mehr als 25 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur in Auswahlbänden wieder öffentlich zugänglich gemacht.5

Als Auslandskorrespondent nahm Xammar die Perspektive eines unbeteiligten Beobachters ein, dem es gerade aus dieser Distanz heraus gelang, seinem spanischen Publikum die grotesken und tragikomi­schen Sei­ten der deutschen Verhältnisse vor Augen zu führen. Gleichzeitig war Xammar stets bestens und bis ins De­tail über die Personen, Konstellationen und Ereignisse in Deutschland, über die er schrieb, infor­miert.6 Die Lektüre mehrerer, sicherlich nicht nur deutscher Tageszeitun­gen, war ein wichtiges Mittel, um gut informiert zu sein.7 Beides zusammen, unverwechselbarer Stil und um­fassende Kenntnisse, charakte­risieren seine Berichte aus Deutschland, die auch für eine deutsche Leserschaft und die HistorikerInnen, die sich mit den 1920er und 1930er Jahren befassen, hoch interessant sind. Im vorlie­genden Beitrag inter­essiert Xammar nicht als politisch konservativer katalanischer Nationalist, sondern nur als katalanisch-spanischer, bürgerlich-de­mokratischer Auslandskorrespondent, der zur Zeit der Wei­marer Republik in Deutschland tätig war.

1.3 Einige Fakten zum Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923

Die Novemberrevolution von 1918 begann mit dem Kieler Matrosenaufstand und erfasste alsbald ganz Deutschland. Sie führte am 9.11.1918 in Berlin zur Ausrufung der Republik und zum Sturz der Monar­chie. Am 11. 11.1918 wurden mit dem Waffenstillstand von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beendet, der Versailler Vertrag wurde dann am 28. Juni 1919 unterzeichnet.

Von Seiten monarchistischer, völkischer, rechtsextremer und antisemitischer Gruppen und Parteien wurde die Legitimität der Weimarer Republik in Frage gestellt. Auf propagandistischer Ebene spielte die Kriegs­schuldfrage eine große Rolle. Die Oberste Heeresleitung (OHL) versuchte die Schuld an der von ihr zu verantwortenden militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg auf die Sozialde­mokratie, demokratische Politiker und das »Judentum« zu schieben (»Dolchstoßlegende«).

Der 9. November hatte gerade für die Feinde der Weimarer Republik eine hohe symbolische Bedeutung. Sarkastischer als Xammar hätte auch ein deutscher Satiriker den Katzenjammer und die Lü­gengespinste, die nach der Niederlage Deutsch­lands im Ersten Weltkrieg kursierten, nicht auf den Punkt bringen kön­nen, wobei Xammar zudem die Brücke zu schlagen weiß vom 9. November 1918 zum Hitler-Ludendorff-Putsch.

Der Tag nach meiner Ankunft [in München] war der achte November, der Vor­abend des fünften Jah­restags der deutschen Revolution. Die deutsche Revoluti­on vom neunten No­vember wurde in aller Eile von einer Handvoll von Belgien bezahlter Juden organisiert, und zwar genau in dem Augenblick, in dem Deutschland vor dem entscheidenden Sieg stand. Das wissen in Bayern selbst die Hunde und Kinder, und an jenem Tag der verbrecherischen Revolution strö­men die Bayern mit trauernder Seele in Massen in die Bierkeller. … Es gibt Re­den, Geschrei, patriotische Lieder und Bier. Vor allem Bier. … Die Luft wird immer di­cker, und man kann den Putsch förmlich riechen. Es ist erstaunlich, dass er fünf Jahre auf sich hat warten lassen (Xammar 2007, S. 134f.).

Ein zeitgenössisches Titelblatt des Simplicissimus, das an dieser Stelle nur der Illustration dient, gilt den Bayern, von denen bei Xammar die Rede ist.

Quelle: http://www.simplicissimus.info/

Wolfgang Schieder (2023) hat den Hitler-Ludendorff konzis beschrieben:

Seit dem frühen Herbst 1923 gab es in Bayern schon Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der NSDAP. Mit Massenversammlungen und mehrfachen Reden im Zirkus Krone heizte Hitler die Stim­mung an. Er versäumte es jedoch, seinen Putsch logistisch vorzubereiten ‒ wenn er ihn den ursprüng­lich überhaupt riskieren wollte. Es war nicht das erste und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Hit­ler zögerlich handelte […]. Am 26. September nämlich verhängte die bayerische Staatsregierung unter Eugen von Knilling überraschend den Ausnahmezustand und setzte den früheren Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr als Generalkommissar mit diktatorischen Vollmachten ein. Kahr verbot öffent­liche Kundgebungen der NSDAP und riss damit das Ruder an sich. Für den 8. November setzte er eine Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller an, zu der alle republikfeindlichen Kräfte Bayerns ein­geladen wurden ‒ außer der NSDAP. […] Hitlers Bewegung stand mit einem Mal in Konkurrenz zu den konservativen Gruppierungen Bayerns. Er wurde dadurch unvorbereitet zum Handeln gezwungen. Um Kahr zuvorzukommen, improvisierte er und zog den Termin für einen Putsch […] vor (S. 41).

Am 6. 11.1923 war auf Seiten Hitlers und seiner Mitstreiter die grundsätzliche Entscheidung für einen Putsch gefallen. Das zunächst ange­dachte Datum für die Aktion war der 10. oder 11. November gewesen. Am 7.11.1923 traf sich Hitler mit den Füh­rern der paramilitärischen Organisationen, die zum Kampfbund ge­hörten, zur weiteren Vorbereitung des Putsches.8 Erst bei diesem Treffen wurde ausgemacht, den Putsch vorzuverlegen. Am Abend des 7.11. um 20 Uhr fiel dann die Entscheidung, bereits selbst am 8.11. loszu­schlagen und dafür die Veranstaltung von Kahrs im Beisein der Bayrischen Regierung und vieler Hono­ratioren zu nutzen, um selbst die Regierung zu erobern und am Folgetag einen Marsch auf Berlin zu un­ternehmen. Die Putschisten wollten auf Basis »falscher Gerüchte« (Wien 2023, S. 233) verhindern, dass auf der Ver­anstaltung im Bürgerbräukeller Tatsachen geschaffen würden, die ihren eigenen Umsturzintent­ionen entgegenstan­den. Das konspira­tive Treffen endete erst in der Nacht zum 8.11.1923. Den Ab­lauf des Putschversuches am Abend des 8.11.1923 und am Folgetag fasst Wolfgang Schieder so zusam­men:

Nach Beginn der Versammlung ließ Hitler den Bürgerbräukeller durch die SA abriegeln und drang un­angemeldet mit einigen Getreuen in den überfüllten Saal ein. Er stieg auf einen Stuhl und schoss, als der Lärm sich nicht legen wollte, mit einer Pistole in die Decke. Dann brüllte er martialisch: »Die na­tionale Revolution ist ausgebrochen. Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt. Niemand darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Galerie stellen lassen. Die bayerische Regierung ist abgesetzt. Eine provisorische Regierung ist gebildet.« Nichts davon traf zu, die Ausrufung einer ’nationalen Revolution‘ war nicht mehr als eine Farce. Es gelang Hitler zwar, die drei wichtigsten Führer der bayerischen Konservativen, den Generalkommissar von Kahr, den Befehlshaber der Reichswehr in Bayern, Otto von Lossow, und den Chef der bayrischen Landespolizei, Hans Ritter von Seißer, zur Zustimmung zu seinen nationalrevolutionären Absichten zu zwingen. Selbst das aber scheint ihm erst gelungen zu sein, nachdem auch General Ludendorff im Bürgerbräukeller auf den Plan getreten war und Hitlers nationale Revolution gebilligt hatte. Kaum war das bayerische Politikertrio dem Bürgerkeller jedoch entkommen, widerrief es alle Zusagen und be­schloss, sich gegen Hitlers und Ludendorffs Putschpläne zu stellen. […]

In der Nacht vom 8. auf den 9. November wurde den Putschisten klar, dass ihre Pläne gescheitert wa­ren. Für Hitler war das eine Katastrophe, zu deren Überwindung er keine Idee hatte. Es war Luden­dorff, der mit seiner apodiktischen Formel »Wir marschieren« einen Ausweg wusste. Auf seinen ‒ nicht Hitlers ‒ Vorschlag hin beschlossen die Putschisten am Morgen des 9. November einen Marsch durch die Innenstadt, möglicherweise, um das bayerische Kriegsministerium zu besetzen. … Der De­monstrationszug von etwa 2000 Mann formierte sich gegen Mittag. Mit Ludendorff, Hitler, seinem In­timus Scheubner-Richter, seinem Leibwächter Graf, Hermann Göring sowie Friedrich Weber, dem na­tionalsozialistischen Führer des rechtsradikalen »Bundes Oberland«, an der Spitze. An der Feldherrn­halle, dem bayerischen Gedenkort früherer monarchischer Siege, stießen die Putschisten auf eine be­waffnete Einheit der Landespolizei, welche allem Anschein nach ohne Vorwarnung sofort das Feuer gegen sie eröffnete. Einige Putschisten schossen zurück. In wenigen Minuten lagen vierzehn Putschis­ten sowie vier Polizisten tot am Boden. Hitler wurde nicht getroffen… (S. 42f.)

Nach einem misslungenen Fluchtversuch wurde Hitler am 11. November verhaftet und in Untersuchungs­haft genommen.

1.4 Zum Aufbau der vorliegenden Erörterung

Nach dieser Einführung (Abschnitt 1) wird im Folgenden der Artikel mit dem »Hitler-In­terview« vom 8.11.1923 inhaltlich beschrieben, um die nötige Grundlage für die weiteren Ausführun­gen zu legen (Ab­schnitt 2). In Abschnitt 3 kommen die spanischen Kritiker zu Wort, die begründete Zweifel an der Echt­heit des Inter­views angemeldet haben. Im Anschluss daran (Abschnitt 4) werden zusätzliche quellenkriti­sche Ein­wände vorgebracht. Es folgen Erläuterungen zum modernen Vernichtungsantisemitismus in Deutschland, der den Kontext bildet, in dem die Sätze zur Judenvernichtung im »Interviewtext« stehen und zu interpre­tieren sind. (Abschnitt 5). Im Anschluss daran wird versucht, den Tagesablauf Adolf Hit­lers am 8. November 1923 zu rekonstruieren, um besser ein­schätzen zu können, ob ein Interview mit Xammar an dem Tag hätte stattfinden können (Abschnitt 6). Danach wird auf die Rezeption des »Inter­views« in Deutschland eingegangen, wo das »Hitler-Inter­view« zur veritablen Quelle der Geschichtswis­senschaft avancieren konnte (Ab­schnitt 7). In Abschnitt 8 wird auf die fantastische Report­age Xammars über den gescheiterten Hitlerputsch, der am Abend des 8. November begann, ein­gegangen. In der Schlussbetrachtung (Abschnitt 9) wird versucht, das fingierte Interview und den »Augenzeugenbe­richt« ohne Augenzeugenschaft unter dem Aspekt des Schadens, den die Artikel verursachen konn­ten, zu bewer­ten und ansatzweise in den Kontext der damaligen Medienkultur in Spanien einzuord­nen.

2. Beschreibung des Artikels mit dem »Hitler-Interview« vom 8.11.1923

Am 24. November 1923 erschien der Artikel »Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit« in der Veu de Catalunya.9 Der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8. November lag mehr als zwei Wochen zu­rück. Hitler saß seit dem 11.11.1923 in der Strafanstalt Landsberg am Lech ein.

Zur Interview-Situation gibt es folgende Hinweise in dem Artikel: Ort ist ein Büro Hitlers in den Redakti­onsräumen des VB. Hitler trägt seinen bekannten Regenmantel mit aufgesticktem Haken­kreuz am Ärmel, behält seine Mütze auf, grüßt mit militärischem Hacken­schlag, bietet Xammar (und seinem Begleiter Jo­sep Pla) Stühle an und legt los, dass Spanier in Bay­ern willkommen seien, während man den Italienern, Engländern, Rumänen und Holländern nicht trauen dürfe. Das seien alles Juden. Damit ist die Juden­frage als Thema gesetzt.

[Hitler:] Die Judenfrage ist ein Krebsgeschwür, das unseren deutschen nationalen Organismus zer­frisst. Ein politi­sches und soziales Krebsgeschwür. Glücklicherweise sind die sozialen und politischen Geschwüre nicht unheilbar. Man kann sie herausschneiden. Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Ju­den vernichten…

[Xammar:] Mit Prügeln?

[Hitler] Das wäre das beste, aber sie sind zu viele. Ein Po­grom ist eine großartige Sache, aber heutzu­tage hat es einen Gutteil seiner mittelalterlichen Wirkungskraft verloren. […] Was hätten wir davon, die jüdische Be­völkerung von München auszurotten, wenn die Juden im übrigen Land, so wie jetzt, weiterhin über Geld und Politik herrschen? In ganz Deutschland gibt es mehr als eine Million Juden. Was wollen Sie tun? Sie alle über Nacht umbringen? Das wäre natürlich die beste Lösung, und wenn man das zuwege brächte, wäre Deutschland ge­rettet. Aber das ist nicht möglich. Ich habe das Pro­blem von allen Seiten un­tersucht: es ist nicht möglich. Die Welt würde über uns herfallen, anstatt uns zu danken, was sie eigentlich tun sollte. […] Wir haben schon gesehen, dass es mit Pogromen nicht geht. Also bleibt nur die Vertrei­bung: die Massenvertreibung. Spanien hat vor mehr als vierhun­dert Jah­ren mit der Vertreibung der Juden…

[Xammar:] Glauben Sie, dass Spanien sich damit einen Gefallen getan hat? (Xammar 2007, S. 146f., Hervorhebungen, KB)

An zwei Stellen also unterbricht Xammar den monologisierenden Hitler. Einmal fragt er etwas maliziös-pro­vozierend nach, ob die Juden mit Prügeln vernichtet werden soll­en. Der Hitler des »Interviews« ant­wortet sinngemäß, dass das zwar die beste Lösung wäre, dass ein Pogrom heute jedoch keine Lö­sung mehr sein könne, sondern die Massen­vertreibung das Mittel der Wahl sei.

Als Hitler auf die Vertreibung der Juden in Spanien zu sprechen kommen will, unterbricht ihn Xam­mar erneut mit einer Frage, die auf die bekannte Diskussion anspielt, ob die Vertreibung der Juden der spani­schen Ökonomie geschadet hat. Der Hitler des »Interviews« geht auf diese Frage nicht ein. Stattdessen entwi­ckelt er seine Argumentation, dass der Fehler der Katholischen Könige gewesen sei, den Ju­den die Konvertierung zu gestatten, um der Vertreibung zu entgehen, und er wiederholt, dass die Lösung des Pro­blems in der Vertreibung der gesamten jüdischen Rasse liege.

Das Judenproblem […] ist kein religiöses Problem. Es ist ein rassisches Problem, und seine Lösung liegt in der Vertreibung. Aber in der strikten Vertreibung der gesamten jüdischen Rasse, sowohl der praktizie­renden Juden wie auch der gleichgültigen oder der konvertierten (Xammar 2007, S. 147., Hervorhebung, KB).

In dem Artikel finden sich auch Hinweise auf den konkreten Antisemitismus in Bayern in jener Zeit. Der Hitler des »Interviews« teilt Xammar mit, dass er mit seiner Nase si­cherlich Prügel bezogen hätte. Hitler lacht, Xammar ebenfalls »allerdings nicht ganz so aus vollem Herzen« (Xammar 2007, S. 146). Angriffe auf und Verletzungen von Juden durch die Nazis aus der Zeit sind dokumentiert (Reinicke 2018).

Bekannt und historisch belegt ist auch die Ausweisung von Juden aus Bayern auf Veranlassung des Gene­ralstaatskommissars Gustav von Kahr, den das bayeri­sche Kabinett am 26. September 1923 mit diktatori­schen Vollmachten ausgestattet hatte. Der Hitler des »Interviews« geht darauf ein:

[Hitler:] In Bayern hat die Judenvertreibung schon begonnen, aber zaghaft. Von Kahr weist nach und nach alle Juden aus, die keine bayerischen Bürger sind. Das ist sehr wenig, aber man muss von Kahr zugestehen, dass er nicht mehr tun kann. Ihm sind die Hände gebunden.« (S. 147).

[Xammar:] Darf man wissen, von wem?

[Hitler:] Sie werden bass erstaunt sein. Der größte Verteidiger der Juden in Bayern ist der Erzbischof von München, Kardinal Faulhaber (Xammar 2007, S. 147f.).

Diese Aussage gab es nicht nur aus dem Munde des »Interview-Hitlers«. Sie war bereits zwei Tage zuvor schon im Völkischen Beobachter zu lesen gewesen.

Am 6. November, also zwei Tage vor dem Putsch, hatte der Völkische Beobach­ter unter dem Titel »Kardinal Faulhaber als Judenschützer« auf Faulhabers Al­lerseelenpredigt re­agiert und griff ihn als »Judenschützer« an, weil er gesagt habe, »dass auch die Juden Men­schen seien, und dass wir auch diese im Winter nicht hungern und frieren lassen dürften.« Noch auf dem Katholikentag 1922 habe er aber »ganz anders« gesprochen »indem er sehr scharfe Worte gegen die Judenpresse gebrauchte« (An­tonia Leugers 2014).

Aus Sicht der katalanischen Le­serschaft dürfte es sich bei dem »Interview« um eine höchst unter­haltsame Lektüre, die mit Entsetzlichem spielt, gehandelt haben: Infotainment. Wie das Thema Vertreibung der Ju­den in dem »In­terview« journalistisch aufge­zogen wird, ist beeindruckend. Die Vertreibung von Ostjuden aus Bayern 1923, die Judenvertreibung in Spanien unter den Katholischen Königen und in Zukunft die Massenvertrei­bung durch Hitler werden er­zählerisch in einen Zusammenhang gebracht. Die aufmerksame spani­sche Leserschaft versteht durch den Vergleich: dieser Hitler ist noch antisemitischer, noch radikaler, noch rassistischer als die Katholischen Könige.

Wollte man das »Interview« als Stück aufführen, ähnelte es je nach Ak­zentsetzung des Regisseurs einer Groteske (Esperpento) oder einem Bauernschwank.10 Das La­chen könnte dabei manchem im Halse ste­cken bleiben. Die Protagonisten des Stücks: auf der einen Seite ein kultivierter, blitzge­scheiter, provozie­render, sich einmischender spanischer Reporter, auf der anderen Seite ein Dummkopf mit einem fast deli­rierendem Antisemitismus, den man zur Be­lustigung und Belehrung (!) des Publikums vorführen kann. Das »Interview« mutet heute wie eine literarische Fantasie an. Auf inhaltliche Aspekte wird im Folgenden noch näher eingegangen.

3. Die Zweifel katalanischer Intellektueller an der Echtheit des »Interviews«

In Spanien, besonders in Katalonien, wurden immer wieder Zweifel laut, ob es sich bei dem »Hit­ler‑In­terview« nicht um einen Fake handele. Im Jahr 2000, also zwei Jahre nach der Veröffentli­chung der kata­lanischen Ausgabe der zwischen 1922 und 1924 geschriebenen Artikel Xammars (Xammar 1998), wurde erstmals öffentlich räsoniert, ob es sich bei dem »Interview« um eine Erfin­dung han­dele. Es sind im We­sentlichen zwei kleinere Artikel in katalanischen Zeitungen, in denen die Zwei­fel an der Echtheit argu­mentativ ausgeführt werden. Dazu kommt ein längerer Beitrag von Pla Bar­bero (2018) in der Literatur­zeitschrift Cuadernos Hispanoamericanos, der die Debatte zu rekonstru­ieren versucht und eigene Akzen­te setzt.11

Der Journalist Lluís Permanyer (2000) schreibt in La Vanguardia, dass es sich bei dem »Hitler-Inter­view« um eine Erfindung handeln dürfte, wenngleich er das nicht mit unbestreitbaren Daten beweisen könne (Permanyer 2000, S. 2). Erstens kommt es Permanyer unwahrscheinlich vor, dass Hitler just am hekti­schen Tage des Put­sches den beiden Journal­isten ein Interview gewährt haben sollte.

Zweitens sei der Artikel erst am 24.11.1923 veröffentlicht worden, also zu einem Zeitpunkt als Hit­ler nach dem fehlgeschlagenen Putsch bereits inhaftiert war und sich gewissermaßen nicht mehr ge­gen das wehren konnte, was ihm zugeschrieben wurde, oder andersherum, sich der Journalist un­gestraft viele in­haltliche Frei­heiten herausnehmen konnte.

Das dritte und wichtigste Argument gegen die Echtheit des Interviews ergibt sich bei Permanyer aus einer Überprüfung der gesamten Werke von Xammar und Pla, die niemals mehr – auch nicht in ihren autobio­grafischen Texten – auf dieses »Interview« zu sprechen kamen. Es sei doch schwer vorstellbar, – so Per­manyer –, dass jemand eine Begegnung mit Hitler, auch wenn sie nur kurz war, einfach vergessen haben sollte.

Permanyers Fazit: »una diablura inocente« also ein unschuldiges Schelmenstück, dass seiner Meinung nach zum Charakter von Xammar und Pla sowie zu dem Stil der Epoche passen würde.12

Einige Jahre später, 2009, geht der auch in Deutschland nicht unbekannte Schriftsteller Albert Sán­chez Piñol in einem kurzen Beitrag »Mèrit i misteri« in der katalanischen Zeitung Avui noch einmal auf den Fall ein und schließt an Permanyer an. Wie die­ser hält er es für sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem »Hitler-Interview« um eine Erfindung handelt und das »Interview« niemals stattgefun­den hat, aber ganz festlegen möchte auch er sich nicht.

Er bezweifelt, ähnlich wie schon Permanyer zuvor, dass sich Hitler am Tag des Putsches am 8.11.1923 Zeit für ein Interview genommen hätte. Er vermutet, dass das, was man da inhaltlich vor sich hat, eher vom Hören-Sagen oder von Dritten aus der Umgebung Hitlers stammen könnte und nicht von Hitler selbst. Die Journalisten könnten hinzugefügt haben, was ihnen in den Sinn kam. Er rekurriert auch wie­derum darauf, dass Hitler zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nach dem gescheiterten Putsch in Haft war. Mit anderen Worten: Xammar hatte genügend In­formationen, aus welchen Quellen auch immer, um sich ein Hitler-Interview ohne Rücksichten auf Hitler auszu­denken.

Insbesondere bezweifelt Sánchez Piñol, dass Hitler gerade zwei Fremden gegenüber etwas offenbart ha­ben sollte, was er sonst tunlichst vermied: sich öffentlich konkret zum Ziel der Judenvernichtung zu äu­ßern.13 Sánchez Piñol vermutet auch, dass die Bezüge zur spanischen Geschichte in dem »In­terview« qua­si freie Zugaben von Xammar sind, die nicht durch Kenntnisse Hitlers gedeckt schei­nen.14

Für das lebenslange Schweigen Xammars zum »Hitler-Interview« hat Sánchez Piñol eine plausible Erklä­rung. Der Um­stand, dass Hitler 1933 tatsächlich an die Macht kam, machte aus einem gescheiterten Hanswurst ei­nen Gegen­stand der historischen Forschung und ließ damit auch frühe Äußerungen hoch re­levant für die NS- und Hitler-Forschung werden. Da wäre es peinlich gewesen, mit einem erfun­denen Interview in Ver­bindung gebracht zu werden.

Wie schon bei Permanyer ist das Fazit wieder vom Typ: »typisch Pla und Xammar« und mit einer Dosis Humor endet der kurze Artikel (sinngemäß): »Was für ein Paar. Sehen Sie, wie genial sie wa­ren? Selbst wenn sie etwas Unerlaubtes anstellen, kann man nicht anders, als über sie zu reden«.15

Von Interesse ist weiter der Artikel von Pla Barbero, Philologe und Josep-Pla-Spezialist, der die Artikel Perma­nyers und Sánchez Piñols kannte, und sich eingehend mit dem Status des »Interviews« be­fasste (Pla Bar­bero 2018, online). Er hält daran fest, dass es das »Interview« irgendwie gegeben hat, sieht aber gleichzei­tig, dass der Inhalt des veröffentlichten »Interviews« ganz von den Jour­nalisten abhing. Er schreibt: »[Xammar und Pla] verfügten über alle notwen­digen literarischen Qua­lifikationen, um die Erinnerung an ihr Interview mit Adolf Hitler neu zu schreiben, wie auch immer dieses Treffen war, flüchtig, improvi­siert, vorher festgelegt, exklusiv oder mit anderen Journalisten« (Pla Barbero 2018 online, Übersetzung KB).16

Pla Barbero zeigt damit, wie schwer es ihm fällt, sich von der Vorstellung zu trennen, dass es das »Inter­view« doch irgendwie gab. Anders als Permanyer und Sánchez Piñol nimmt er das Beschweigen des »In­terviews« folglich auch nicht als deutlichen Hinweis dafür, dass es sich um ein fingiertes In­terview han­delte. Statt­dessen überlegt er, warum die Journalisten nie mehr auf das »Interview« zu sprechen kamen »[Aber] Vielleicht waren sie nie besonders stolz darauf. Oder sie hatten Angst, sich dem Vorwurf auszu­setzen, in dem Diktator nicht den gefährlichen Wahnsinnigen erkannt zu haben, der er damals bereits war« (Übersetzung KB).17

Es bleibt als Ergebnis der spanischen Diskussion festzuhalten, dass es massive Zweifel gibt, dass das »In­terview«, wie von Xammar behauptet, am 8.11.2013, dem Tag des Putsches, hätte stattfinden können. Es gibt allerdings keine Zweifel daran, dass Xammar genug Wissen aus diversen Quellen haben konn­te, um ein »Hit­ler-Interview« zu erfinden. Gegen die Authentizität des »Interviews« wird außerdem angeführt, dass es Äußerungen Hitlers enthält, die nicht zu ihm zu passen scheinen, wie die offene Thematisierung der Ju­denvernichtung gegenüber Fremden oder die Einlassungen zur spanischen Geschichte. Der Um­stand, dass Hitler in Haft war, als das »Inter­view« erschien, nährt weiter den Verdacht, dass Hitler unge­hemmt Dinge in den Mund gelegt wurden, die der Fantasie Xammars ent­stammten.

Selbst wenn es also ein Treffen Xammar-Hitler gegeben haben sollte, wäre der Inhalt, der in dem Artikel Xammars wieder­gegeben wird, manipuliert und verfälscht und damit als historische Quelle völlig un­brauchbar. Es wäre ununterscheidbar, was sich der Fantasie Xammars verdankt und was Hitler wirklich geäußert hat. Ein starkes Argument dafür, dass das »Interview« gänzlich oder gro­ßenteils erfunden wurde, ist der Umstand, dass die Jour­nalisten, nachdem Hitler an die Macht ge­kommen und zur geschichtlichen Figur geworden war, nicht auf das »Interview« zu sprechen kamen – nie mehr in ihrem ganzen Leben.

4. Einige ergänzende quellenkritische Aspekte

Quellenkritisch wäre zu fragen, welchen Status das Treffen und das Gespräch gehabt haben sollen. Es heißt bei Xammar, dass das Interview »gewährt« wurde, aber handelt es sich überhaupt um ein Interview? Bei einem Interview weiß der Interviewte, dass das, was er äußert, in einem be­stimmten Presseorgan ver­öffentlicht wird. Im Interview eines Auslandskorrespondenten mit einem Politiker ist zudem zu unterstel­len, dass der Politiker gezielt versucht, den Journalisten mitzuteilen, was er öffentlich verbreitet sehen will. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob der Hitler des Interviews davon ausging, dass er ein für die Veröffentlichung bestimmtes Interview für eine (kata­lanische) Zeitung gab oder er das Treffen für ein informelles, privates Gespräch unter Gesinnungs­genossen hielt.

Schon die Überschrift des Artikels und die Charakterisierung Hitlers als ein »gewaltiger, großartiger Dummkopf, der zu einer glanzvollen Karriere berufen ist (wovon er noch fester überzeugt ist, als wir es sind« (Xammar 2007, S. 145), macht deutlich, dass dieser Artikel weder Hitler noch einem seiner Mit­streiter zur Kenntnis gebracht wurde. Xammar, der bis 1937 als Auslandskorrespondent in Deutschland tätig war, dürfte erleichtert registriert haben, dass die Nazis seine ätzenden Einschät­zungen Hitlers offen­sichtlich nie in Erfahrung brachten. Das hätte ihn angesichts einer rachsüchti­gen und mordbe­reiten SA und Gestapo teuer zu stehen kommen können. Von daher hatte Xammar bis 1945 sicher keine Motivation, auf seine Artikel über Hitler, aufmerksam zu machen.

Eine zweite Frage wurde schon bei den skeptischen katalanischen Autoren angesprochen. In wie­weit kann das Veröffentlichte vom wirklich Gesagten abweichen und wie geht der Historiker mit dieser Differenz um? Die spanischen Autoren fragten sich in erster Linie, was Xammar an Erfunde­nem hinzugefügt hat. Ergänzend wäre zu fragen, ob Xammar alles korrekt erinnerte, als er seinen Artikel schrieb. Es wäre in Er­fahrung zu bringen, ob das Interview in ir­gendeiner Form aufgezeich­net wurde oder ob allein das Ge­dächtnis und die Erinnerungsfähigkeit des Journalisten der Wieder­gabe zugrunde lagen. Außerdem wäre zu fragen, wie gut Xam­mar damals, 1923, (Hitlers) Deutsch verstehen konnte. Dass er nach dem zweiten Weltkrieg den Dr. Faustus von Thomas Mann übersetz­te, muss nicht heißen, dass er bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor, im Herbst 1923 schon perfekt Deutsch konnte.

Es gibt weitere Einzelheiten in dem Artikel, die nicht stimmen wollen. Es wird von einer Mütze (gorra in der kata­lanischen und spanischen Fassung des Artikels) gesprochen, die Hitler nicht ab­setzte. Die Fotos aus der Zeit, die etwa im Netz und in gedruckten Publikationen kursieren, zeigen Hitler entweder ohne Kopfbedeckung oder mit einem weichen Hut. Auch die Vorstellung, dass Hit­ler vor Xammar und Pla die Hacken zusammenschlug, wirkt nicht glaubwürdig. Übertrieben klingt auch die, die Zunge Hitlers lösen­de Freude über die Spani­er, weil in Spanien, so wird nahegelegt, seit wenigen Wo­chen der Diktator Primo de Rivera an der Macht war.18 Die Italiener kommen dagegen (»alles Juden«) uner­wartet schlecht weg, obwohl Hitler für den italie­nischen Faschismus schwärmte, sich daran orient­ierte und gerne Kontakt mit Mussolini aufgenommen hätte.19

Inhaltlich will die Art, wie der Hitler des »Interviews« sich über die »beste Lösung« auslässt, nicht zu Hitlers damals üblicher Argumentation passen. In einer Zeit, in der Hitler sich öffentlich gegen Pogrome und für einen »Antisemitismus der Vernunft« aussprach, klingt das Schwadronieren über Pogrome nicht stimmig.20 In dem Zusammenhang ist auch ein Vergleich mit dem Artikel Josep Plas über die angebliche Begegnung mit Hitler aufschlussreich.

Bei­de erfanden (oder verfälschten) das »Interview«, jeder auf seine Weise. Der Artikel Plas erschien am 28. No­vember 1923, ein paar Tage später als der Artikel Xammars (abgedruckt in: Xammar 2007, S. 149-152). Interessant ist, dass der gan­ze verbale Exzess zur Judenvernichtung, den Xammar seinem Hitler in den Mund gelegt hat, bei Pla nicht vorkommt. Anders gesagt, der delirierende antisemitische Fanatis­mus Hitlers, der bei Xammar im Zen­trum steht, spielt bei Pla keine Rolle.

Ein weiteres interessantes Detail ist, dass (der nicht deutsch verstehende) Josep Pla in seiner Ver­sion von einem Monolog spricht und erst gar nicht den Anschein eines Gesprächs mit Hitler erwe­cken will. An­dersherum, während Pla in seinem Artikel als wichtige Informati­on herausstellt, dass Hitler einen neuen Krieg will, taucht dieser Aspekt in dem Artikel Xammars nicht auf. In der Wiedergabe des Interviews durch Pla und Xammar fallen Form und Inhalt so unterschiedlich aus, dass die Glaubwürdigkeit der Dar­stellung beider Journalisten leidet.

Inhaltlich will auch die einseitige Festlegung, die der »Hitler des Interviews« vornimmt, wenn er die Massenvertreibung als Mittel der Wahl herausstellt, nicht recht stimmig erscheinen. Zum einen legte die NSDAP bis 1933 nicht fest, welche Methoden sie bei der Verfolgung der Juden anwenden würde. Zum anderen taucht schon im 25-Punkte-Pro­gramm der NSD­AP von 1920 eine Kombination an vorgesehenen Maßnahmen auf: »Entzug der vollen Bürgerrechte, ein Berufsverbot für öf­fentliche Ämter und Presselei­tung für die deutschen Juden, bei Erwerbslosigkeit ihre Ausweisung sowie die Vertreibung eines Großteils zugewanderter Juden« (Wikipedia: Endlösung 2024). Die Herausgeber der kritischen Ausgabe von »Mein Kampf« sehen Hitlers damals vertretenen Antisemitismus ge­prägt durch die Ablehnung von Pogromen, die gesetzliche Bekämpfung und Besei­tigung der Rechte der Juden und in letzter Konsequenz die Entfer­nung der Juden überhaupt (Institut für Zeitge­schichte 2022: Mein Kampf, Band 1, Kapitel 2, Kommentar 172). Die Mittel, die für das Erreichen des Ziel anzuwenden sind, werden auch hier nicht explizit genannt, weil es keine entsprechende Festlegung gab.

Aufs Gesamt gesehen ist die Fülle der Indizien, die für ein fingiertes Interview sprechen, erdrückend. Das stärkste Argument gegen die Echtheit des Interviews liefert allerdings die Tatsache, dass es bis heute kei­nerlei Dokument oder Zeugnis von dritter Seite gibt, mit dem sich belegen ließe, dass es das »Interview« gegeben hat. Oder an­ders for­muliert: Die Frage kann nicht sein, ob jemand beweisen kann, dass das »In­terview« nicht stattge­funden hat, sondern dass es stattgefunden hat. Zu fordern ist also in diesem Sinne eine Beweislastum­kehr. In Memoiren von Mitarbeitern des VB, in Tagebüchern und Notizen von Kolle­gen, Freunden und Ver­wandten, in Notizen von anderen Auslandsjournalisten, die mit Xam­mar zu tun hatten, wäre zu fahnden. Solange es keinen positiven Nachweis für ein entsprechendes Treffen Xammars mit Hitler gibt, ist von ei­nem fingierten Interview auszugehen.

5. Zum Vernichtungsantisemitismus in Deutschland und in Xammars »Interview«

Es wird gelegentlich behauptet, dass Hitler in dem »Interview« sei­nen radikalen Antisemitismus unge­wöhnlich offen, wie sonst nie, kommunizierte. In der spanischen Verlagsankündigung wird noch heute von dem verstörenden Interview gespro­chen, das Xammar (und Pla) bereits 1923 mit dem späteren Dikta­tor führten und in dem dieser be­reits den Holocaust vorgezeichnet habe.21 Auch im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches wird von dem Interview gesprochen, »in dem Hitler seine Pläne zur Judenver­nichtung […] in aller Offenheit darlegte« (Berenberg, S. 9).

Andere Autoren gehen noch weiter und finden in dem »Interview« sogar Hinweise auf Pläne zur Juden­vernichtung, den Holocaust und die Endlösung. In einer Einlassung von Arcadi Espada (2005) in El País zum Beispiel wird eine Stelle aus dem »Interview« her­ausgegriffen und in Richtung Holocaust-Vorweg­nahme interpretiert. Espada liest das »Interview« so, als wäre der Massenmord an den Juden das, was Hit­ler vorschlüge und das wäre ja dann eigent­lich die erstmalige Ankündigung der Endlösung (la solución fi­nal).22

Hitlers Denkwelt in den Kontext des »Vernichtungsantisemitismus« zu stellen, wie Peter Schä­fer das Phä­nomen nennt (2000. S. 229 ff), kann helfen, die entsprechenden Passagen im »Interview« besser ein­zuordnen. Tatsache ist, dass seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Vernichtungsantisemitismus in Deutsch­land anzutreffen ist, der sich in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch rassentheore­tisch radikalisier­te. Die Juden sollten nicht integriert, sondern entfernt werden. Moderner ließe sich vom Ziel rassistisch begründeter ethnischer Säu­berung sprechen. Die Mittel dazu heissen: Abschiebung, Umsied­lung, Depor­tation (etwa nach Mada­gaskar wie 1885 von de Lagar­de vorgeschlagen), Vernichtung.

Diesem althergebrachten radikalen Antisemitismus wohnte latent immer schon die Frage und dumpfe Dro­hung inne, mit welchen drastischen Mitteln man die Juden loswerden, wie man sie ent­fernen kann. Von daher lässt sich in den Dokumenten des Vernich­tungsantisemitismus auch der »Vor­schein« einer Endlösung ausmachen. An zwei Beispielen lässt sich das zeigen.

Christian Jansen hat den »Judenspiegel« des Hartwig von Hundt-Radowskys von 1818 ana­lysiert. Er kann zeigen, wie früh bereits zentrale Elemente des rassistischen und eliminatorischen Antisemi­tismus formuliert wurden, wie das folgende Zitat verdeutlicht.

[Hundt schlägt] die Sterilisation aller männlichen Juden vor – ein weiterer Be­leg für seine rassische Überzeugung von der Unverbesserlichkeit der Juden und für die Modernität seines genetischen Verfol­gungsprogramms. Unumstößlich stand für ihn fest, dass nur eine vollständige Elimination des Juden­tums die Mehrheitsgesell­schaft retten könne: ‚Am Beßten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer, und hierzu giebt es gleichfalls zwei Mittel. Entweder, sie durchaus zu vertilgen, oder sie […] zum Lande hinauszujagen. […] Am Gerathensten wäre es daher, man brächte die Juden, welche in Deutschland […] sämmtlich auf den Schub, und nach dem gelobten Land hin’« (Jansen 2011, S. 32)

Alexander Bein, der zum modernen Antisemitismus geforscht hat, sieht »den ersten und bedeutends­ten Versuch, die nun entstehende antisemitische Bewegung […] durch Philosophie, Biologie und Geschichte wissenschaftlich zu unterbauen« in der Schrift »Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage« (1881) des Berliner Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring (1833-1921). Die Argumentation der Antisemiten, dass die Judenfrage eine Frage der Rasse und keine der Religi­on sei, und dass der Über­tritt zum Christentums deshalb keine Lösung darstellen kann, ist folglich im Jahre 1923 keineswegs neu.

Sie [die Judenfrage] als Frage der Religion darzustellen, ist nach Dührings Mei­nung eine bewusste Ir­reführung und Verdunkelung. »Selbst wenn alle Juden zu den herrschenden Kirchen überträten, wie es die Liberalen wünschten, würde die Ju­denfrage nicht zu existieren aufhören. Im Gegenteil, Gefahr und Bedro­hung für die Völker würden dadurch nur wachsen«. Dühring ist sicher, dass sich die Erkenntnis durchsetzen wird, »wie unverträglich mit unseren besten Trieben die Einimpfung der Eigenschaften der Judenrace in unsere Zustände sei. Hier­nach liegt die Juden­frage weniger hinter uns als vor uns«. … »Wo diese Race ein­mal gründlich erkannt ist«, meint Dühring mit klaren Andeutungen für die Zu­kunft, »da steckt man sich von vornherein ein weiteres Ziel, zu welchem der Weg nicht ohne die kraft­vollsten Mittel zu bahnen ist. Die Juden sind […] ein in­neres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden« und an anderer Stelle schreibt Dühring: »Die Judenhaftigkeit lässt sich … nicht anders als mit den Juden selbst be­seitigen« (Bein 1958, S. 347).

Bein kommt zu dem Schluss »Die Hitlerzeit hatte tatsächlich gedanklich nichts den Theoretikern des An­tisemitismus hinzuzufügen« (Bein 1958, S. 360).23 Das Neue liegt hier nicht im Denken, son­dern darin, dass mit der NSDAP eine politische Partei entsteht, zu deren Markenzeichen ein extrem­er, je nach Um­ständen mehr oder weniger deutlich vorgetragener und gewaltsam praktizierter Anti­semitismus gehört.24

Eine Rede vom 6. April 1920 zeigt Hitler deutlich in dieser Tradition stehend, einer­seits die größtmögli­che Drohung auszusprechen, andererseits aber die Mittel nicht konkret zu machen:

[…] es beseelt uns die unerbittliche Entschlossenheit, das Übel an der Wurzel zu packen und mit Stumpf und Stiel auszur­otten. Um unser Ziel zu erreichen, muss uns jedes Mittel recht sein, selbst wenn wir uns mit dem Teufel verbinden müssten (abgedruckt in Jäckel/Kuhn 1986, Doku­ment 61, S. 184-204).

Aber selbst das Vokabular »Ausmerzen«, »Ausschalten«, »Beseitigen«, »Ent­fernen«, »Unschädlichma­chen«, »Vertilgen«, »Vernichten« oder sogar wie hier zitiert »Ausrotten« bezogen auf Krankheiten, Unge­ziefer oder Parasiten, gehört noch zum traditionellen Vernichtungs­antisemitismus.

Wenn Hitler in dem »Interview« vom »Krebsgeschwür, das man herausschneiden kann« spricht, dann ist das noch die Sprache des alten Vernichtungsantisemitismus. Dem Hitler des »Interviews« wird an Antise­mitismus nichts in den Mund gelegt oder zuges­chrieben, was nicht schon denen, wie Xammar, bekannt sein konnte, die sich mit Hitler, seinen Aussagen und Auftritten in Bier­kellern oder im Circus Krone, dem Programm der NSDAP, dem Denkhorizont des überkommenen und rassistisch modernisierten Antisemi­tismus und den Münchener Verhältnissen im Jahr 1923 auskannt­en.

Das bestätigt ein Interview Hitlers vom Oktober 1923, das er dem Journalisten George Sylvester Viereck, laut Domeier ein »Nazi-Sympathisant« (2021, S. 426) vom The American Monthly gewähr­te.25 In dem In­terview26 sagt Hitler:

Die Juden sind keine Deutschen. Sie sind ein fremdes Volk in un­serer Mitte und treten als solches auf. […] Wir sind wie ein Schwindsüchtiger, der nicht begreift, dass er dem Unter­gang geweiht ist, wenn er nicht die Mikroben aus seiner Lun­ge austreibt. Natio­nen, wie auch Individuen, neigen dazu, am wil­desten zu tan­zen, wenn sie dem Abgrund am nächs­ten sind. Deshalb, sage ich, brauchen wir gewaltsa­me Korrektive, starke Medizin, vielleicht eine Amputation. […] Wir wollen uns von den Juden säu­bern, nicht weil sie Juden sind, sondern weil sie einen schädlichen Einfluss haben (Jäckel/Kuhn 1986, Dokument 578, S. 1023-1026; Übersetzung, KB).

In der Sprache des alten Vernichtungsantisemitismus schwingt latent stets der (Alp)Traum einer Endlö­sung mit. Aber daraus lässt sich weder bei Hundt, Düring oder Hitler eine gedankliche Vorwegnahme oder Ankündigung dessen ableiten, was Endlösung historisch im Zuge des Zweiten Weltkriegs bedeuten sollte. Was unter Historikern und in der Öffentlichkeit als Endlösung verstanden wird, ist die systemati­sche Er­mordung aller europäi­schen Juden in allen Gebieten mit Zugriff des NS-Regimes noch wäh­rend des Zweiten Weltkrieges. In dem Zusammenhang war Endlösung damals als Euphemismus zu verstehen, um nicht vom syste­matisch geplanten Massenmord sprechen zu müssen. Die politische Entscheidung zur sys­tematischen Ermordung aller europäischen Juden wird von Historikern auf Herbst/Winter 1941 datiert. Es ist deshalb eine geschichtswissenschaftlich abzulehnende Rückpro­jektion, die Endlösung, also den Holo­caust, in die Gedankenwelt von 1923 zu ver­setzen.

6. Hitlers Tagesablauf am 8. November 1923, ein Tag ohne Interview

Die Skeptiker (darunter auch Jordi Amat 2019) bezweifeln, dass das »Hitler-Interview«, wie von Xammar behauptet, am Tage des Putsches am 8.11. in den Redaktionsräumen des VB stattgefunden haben könnte. Die Rekonstruktion von Hitlers Tagesablauf am 8.11.1923 legt jedenfalls nahe, dass es das »Interview« nicht gegeben hat, nicht an jenem Ort und nicht an jenem Tag.27 Für die Alternati­ve, dass das Hitler-Inter­view an anderem Ort, zu anderer Zeit stattgefunden haben könnte, gibt es bis heute keinen konkreten Hin­weis.

Erst am Abend des 7.11.1923 um 20 Uhr war die Entscheidung gefallen, am 8.11.1923 zu putschen. Die kurze Vorbereitungszeit erhöhte zwangsläufig den Zeitdruck und senkte die Erfolgschancen des Vorha­bens. Die Zahl der Aktionen, die in kürzester Zeit geplant, orga­nisiert und auf den Weg gebracht werden mussten, war folglich beachtlich. Dazu gehörten die ge­naue Festlegung des Ablaufs, das Einweihen und die Verpflichtung von Mitverschwörern, die Organisati­on der Truppen des Kampf­bundes sowie die propa­gandistische Begleitung durch Agitatoren und Redner, die Herausgabe ei­ner Sondernummer des VB, der Druck von Flugblättern und Plakaten.

Nach Mitternacht, gegen ein Uhr am 8.11.1923, soll Hitler sich noch in seiner Wohnung in der Thierschstr. 41 mit Hermann Esser (1920 Schriftleiter des VB, 1923-1925 Reichspropagandaleiter der NSDAP) besprochen haben. Am Morgen bestellte Hitler Rudolf Heß auf 10 Uhr zu sich in seine Woh­nung, um ihm sei­ne Aufgaben bei der Durchführung des Putsches zu erklären (Wien 2023, S. 268). Ob Hitler danach, wie etwa ein Heß-Biograph schreibt, zu Hermann Esser fuhr, »der mit einer Gelbsucht das Bett hütete« (Gör­temaker 2023, S. 144) ist zweifelhaft.28 Unstrittig ist, dass sich Hitler an jenem Morgen zur Privatwoh­nung von Ernst Pöhner chauffieren lässt und mit ihm ein etwa einstündi­ges Gespräch führ­te. Dem ehema­ligen Polizeichef von München wurde angetragen, nach dem Putsch Ministerpräsident zu werden. Er war einverstanden.

In den Redaktionsräumen des VB tauchte Hitler erst gegen Mittag auf, wie Volker Ullrich anschaulich be­schreibt: »Um die Mittagszeit stürmte Hitler, bleich vor Erregung, die Reitpeitsche in der Hand, in die Redaktion des ‚Völkischen Beobachters‘ und erklärte dem überraschten Chefredakteur Alfred Rosenberg und dem ebenfalls anwesenden Ernst Hanfstaengl, dass er sich zum Putsch entschlossen habe« (Ullrich 2022, S. 199). In der Redaktion des VB werden daraufhin publizistische und propagandistische Vorbereitun­gen zur Flankierung des Putsches und der erwarteten Regierungsübernahme Hitlers in Gang gesetzt. Da der ge­plante Putsch noch Geheimsache ist, wird man in der Redaktion des VB ab diesem Zeitpunkt darauf ge­achtet haben, Unbekannten keinen Zutritt in die Redaktionsräu­me zu gewähren.29

Ernst Hanfstaengl, deutsch-amerikanischer Hitlerbewunderer, der zu der Zeit eine Art Auslands-Presse­sprecher der NSDAP war, kontaktiert die amerikanischen Journalisten Larry Rue (Chicago Tribune) und H. R. Knickerbocker (Conradi 2007, S. 86) und versorgt offenbar auch weitere Aus­landskorrespondenten mit Hinweisen, dass es sich lohne, abends in den Bürgerbräukeller zu gehen.

Was Hitler am Nachmittag des 8.11. tat und wo er sich jeweils befand, ist nicht ohne Weite­res mi­nutiös zu rekonstruieren. Ein Hinweis von Hanfstaengl, der Hitler nachmittags dringend sprechen wollte, lautet: »Hitler war nir­gends zu erreichen. Es hieß, er sei zu wichtigen Beratungen im Divisionskommando bei Haupt­mann Dietl« (Hanfstaengl 1970, S. 131).30 Wäre Hitler nachmittags in den Räumen des VB gewe­sen, wäre das Hanfstaengl nicht verborgen geblieben. Welche Personen Hitler an jenem Nachmittag an welchen Orten sonst noch getroffen hat, kann an dieser Stelle offenbleiben. Gesichert scheint jedenfalls, dass es keine Begegnungen in den Räumen des VB gab, wo Xammar Hitler interviewt haben will.31

Ab ca. 18 Uhr war Hitler beim Oberkom­mandos der SA in der Schellingstrasse und erwartete dort Max Erwin Scheubner-Richter. Um 19 Uhr besuchte Hitler »noch ein­mal die Redaktion des Völkischen Beob­achters und das Oberkommando der SA in der Schellingstraße. Hitler lud Rosenberg ein, mit ihm zum Bürgerbräu zu fahren. Vorn saß Hitler neben dem Fahrer, hinten Leibwächter Graf neben Rosenberg« (Wien, S. 283). Kurz nach 20 Uhr kamen Hitler und Rosenberg am Bürgerbräu an (Wien 2023, S. 283).

Aus der Lektüre der herangezogenen Sekundärliteratur ist zu folgern, dass Hitler einmal mittags aufgeregt im VB erscheint, um ausgewählte Personen in die Putschpläne einzuweihen, vorher an diesem Tag aber nicht in der Redaktion gewesen war. Nachmittags war er vermutlich auch nicht im VB, da Hanfstaengl, der ihn suchte, das mitbekommen hätte. Ein Interview mit unbekannten, ausländischen Besuchern in den Räumen des VB am Nachmittag des 8.11.1923 erscheint auch wegen der hohen Organisations- und Kom­munikationserfordernisse der Putschvorbereitung, der damit verbundenen Hektik und Anspannung sowie der Geheimhaltungs- bzw. Si­cherheitserfordernisse wegen unwahrscheinlich. Abends ist Hitler dann nur noch kurz vor der Abfahrt zum Bürger­bräu mit Chauffeur, Leibwächter und Rosenberg im VB.

Dass Hitler sich unter diesen Umständen beachtliche Zeit für zwei ihm unbekannte Spanier genommen hätte, um seine Ansichten zur Judenfrage darzulegen, aber auch seine wirtschaftspolitischen Vorstellun­gen zu erläutern,32 ist höchst unwahrscheinlich, wie es auch unwahrscheinlich ist, dass solch ein Interview unbeobachtet ge­blieben wäre und von niemandem für aufzeichnungs- oder erinnerungswert befun­den worden wäre. Weder bei Ernst Hanf­staengl, dem »Verbindungsmann zur ausländischen Pres­se« (Hanf­staengl 1970, S. 135), der in seinen Memoiren mehrere Seiten dem Geschehen am Tage des Putschver­suchs widmete, noch im Tagebuch von Paula Schlier, die als Sekretärin in der Redaktion des VB tätig war, finden sich Hinweise auf das Interview und die spanischen Journalisten. Beide hätten ein solches von Hitler am Tag des Putsches gewährtes Interview sicher für bemerkenswert gehalten.

7. Das »Hitler-Interview« als Quelle der NS-Forschung in Deutschland

In deutscher Übersetzung erschien der Artikel Xammars, in dem die Schilderung eines Interviews mit Hitler im Zentrum steht, erstmals 2007 im Berenberg Verlag als Teil der Aufsatzsammlung mit dem Titel »Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924« (S. 145-148).

Zweifel an der Authentizität des beschriebenen Interviews gab es zunächst nicht. Dazu gab es auch keinen Grund. Denn die redaktionelle Einleitung zur katalanischen und spanischen Ausgabe (González Prada 2005, S. 10) hat selbst an keiner Stelle in Zweifel gezogen, dass dieses Interview tatsächlich stattgefunden hat. Wie bereits bemerkt, wird im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches davon gesprochen, dass Xammar und Pla »ein Exklusi­vinterview gewährt« worden sei, »in dem Hitler seine Pläne zur Judenver­nichtung […] in aller Of­fenheit darlegte« (Berenberg 2007, S. 9).

Das Buch insgesamt erfuhr zu Recht bei deutschen Journalisten und Historikern eine außerordent­lich po­sitive Aufnahme. Und damit begann auch die Karriere des »Interviews« als relevanter Quelle der For­schungen zu Hitler.33 Anknüpfend an die einlei­tenden Bemerkun­gen des Verlegers, die niemand weiter hinterfragte, wurde eine bestimmte Lesart bei den Rezensenten do­minant. Nirgends wird bezweifelt, dass es das »Interview« wirklich am 8.11.1923 gegeben hat.

Christian Welzbacher (Süddeutsche Zeitung 9.10.2007) greift die Rede vom Exklusivinterview auf und spricht von ei­ner »journalistischen Sternstunde« und Volker Ullrich von einem »der seltenen Interviews, die ein ausländi­scher Korrespondent damals mit Hitler, nur wenige Stunden vor dem Staatsstreichversuch, führen durfte« (DIE ZEIT 4.10.2007). Der Historiker Ernst Piper (Tagesspiegel 07.01.2008) liest in dem Text, dass Hit­ler »ganz offen über seine Pläne zur Vernichtung der Juden schwadronierte«. Wera Reusch (Deutschland­funk 4.10.2007) liest heraus, dass Hitler in dem Interview völlig un­verblümt sein politisches Pro­gramm erklärt und unter anderem die Vernichtung der Juden angekün­digt habe. Die genaue Lektüre des »Hitler-Interviews«, wie bereits oben argumentiert, zeigt jedoch, dass nicht davon die Rede sein kann, dass dort Hitlers Pläne zur Vernichtung der Juden offengelegt würden.

Ausführlich, und nicht nur für das Feuilleton, geht die Historikerin Edith Raim 2014 auf das »Hitler-In­terview« ein. Das Interview soll ihr helfen, »die Rolle von Hitlers Antisemitismus hinsichtlich des ekla­tanten Gegensatzes von gesprochenem und geschriebenem Wort neu zu bestimmen« (S. 53). Es könnte als Beleg dafür dienen, dass Hitler in der mündlichen Rede seinen Antisemitismus unverblümter zum Aus­druck brachte als in schriftlicher Form. Die höheren Weihen der Historiker erhält das »Interview« schließ­lich dadurch, dass es als Quelle in der kri­tischen Ausgabe von »Mein Kampf« verwendet wird (Institut für Zeitgeschichte 2022, Anmerkung 172, online). Die Historiker Domeier (2021) und Dipper (2022), um zwei Beispiele zu nennen, nutzen das »Interview« in ihren Arbeiten bereits wie selbstverständlich als nicht weiter zu hinterfragende Quelle.

An den Besprechungen lässt sich die erstaunliche Macht von »Paratexten«, hier insbesondere die Rah­mung durch Vorwor­te und Einführungen, zeigen. Das »Framing« durch kompetente HerausgeberInnen er­zeugt Ver­trauen und reduziert mögliche Skepsis und Zweifel an der Echtheit des Interviews. Es wundert folglich nicht, dass die Re­zensionen in den Tageszeitungen auf den Vorgaben der Vorworte aufbauen.

Von HistorikerInnen, die sich fragen müssen, was das Interview als historische Quelle wert ist, wäre frei­lich eine quellenkritischere Herangehensweise zu erwarten gewesen. Unabhängig davon, ob es das Tref­fen und das Interview wirklich gab oder nicht, hätte eingehende Quel­lenkritik zu der Einsicht führen kön­nen, dass der Wert des Interviews als historische Quelle äußerst fragwürdig ist. Die wichtigsten quellen­kritischen Argu­mente, die gegen die Echtheit des Interviews sprechen, wurden weiter oben bereits ge­nannt.

Eine spezifische quellenkritische Frage ergibt sich mit Blick auf die Übersetzung, von der die deut­schen Rezensenten und Historiker ausgingen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Übersetzung von »eliminar« als »vernichten« interessant. Im Katalanischen und Spanischen kann »eliminar« sowohl »entfernen« als auch »ver­nichten« heißen. Da Hitler die Formel von der Entfernung der Juden mehrfach benutzte, wäre auch »ent­fernen« eine mögliche und im Kontext des Interviews plausible Übersetzung gewesen. Entfer­nung der Juden wäre semantisch mit Massenvertreibung kompatibel, Vernich­tung impliziert dagegen Tö­tung und Ermordung.

Zweifel an der Echtheit des Interviews wurden in Deutschland erst spät, und nicht vonseiten der Histo­rikerzunft, laut. Im Jahr 2022 kommt Frank Hense­leit, Herausgeber, Übersetzer und Verleger der Werke von Manuel Chavez No­gales, in seiner Einleitung zu dem Band »Deutschland im Zeichen des Hakenkreu­zes«, einer Sammlung von Re­portagen aus Deutschland im April und Mai 1933 für die Zeitung Ahora34, auch auf das »Hitler-In­terview« von 1923 zu sprechen (Henseleit 2022, S. 30). Dazu dient ihm eine Art Exkurs mit dem Titel »Eu­geni Xammar und Josep Pla erfinden ein ‚Interview‘ mit Adolf Hitler – eine Far­ce«. In diesem Ex­kurs wirft er Xammar (und Pla) bezogen auf das »Hitler-Interview« »Betrug« vor und dem deutschen Verlag eine »zweifelhafte Editionspraxis«, weil dieser dem »journalistischen Betrug trotz mehrfachen Hinweises nicht nachging« (ebd., S. 35).

Den Kern des fingierten Interviews sieht Henseleit in »Hitlers Ankündigung, die Juden auslöschen zu wol­len, und zwar als vorrangige politische Agenda« (ebd., S. 31). Da diese Aussagen dem Hitler des »In­terviews« von Xammar in den Mund ge­legt wur­den, entsteht für Henseleit die Frage, wie Xammar dazu kam. Seiner Ansicht nach zeugt das »Hitler-In­terview« »von einem tiefen Antisemitismus in Teilen der spanischen und kata­lanischen Elite« (ebd., S. 32). »Die Fantasterei Xammars, wie man das ‚Problem‘ lö­sen könne, […] ent­sprang ganz offensichtlich einem tiefen Antisemitismus…« (ebd., S. 33). Begründun­gen und Belege, in welcher Weise Xammars Arti­kel vom 24.11.1923 nicht Hitlers, sondern Xammars An­tisemitismus und den gewisser spanischer Eliten zum Ausdruck bringt, bleiben aus.

Festzuhalten bleibt, dass Henseleit die Debatte um die Echtheit des Interviews in den deut­schen Sprach­raum getragen hat und beizupflichten ist ihm auch, dass es in der katalanisch-spanis­chen Diskussi­on schwerfällt, sich von dem Gedanken zu trennen, dass es das »Hitler-Interview« doch irgendwie gab (Henseleit 2022, S. 30f.).

8. Ein perfekter Artikel über den Hitler-Putsch von einem, der nicht dabei war

Xammars Schilderung des Putsches im Bürgerbräukeller wurde vielfach in höchsten Tönen in der deut­schen Presse gelobt. Es fol­gen einige wenige Beispiele: Der Verleger und Verfasser der Einleitung, Hein­rich von Beren­berg (2007) gibt den Ton vor: »Dem Münchener Hitler-Putsch im November 1923 hat er einige der besten und sarkas­tischten Seiten gewidmet, die je darüber geschrieben wurden. Fast könnte man meinen, Lion Feuchtwan­ger habe sie studiert, ehe er seinen politischen Schlüsselroman ‚Erfolg‘ schrieb« (2007, S. 9).

Paul Stänner (2008) sagt im Deutschlandfunk: »Xammar betrachtet die Geschehnisse in Deutsch­land, das er ausgiebig bereiste, wie ein Theaterzuschauer ein Drama oder ein Kinogänger einen Film. Hitler als Cowboy-Darsteller. Die Reportage dieses Putsches im Bier- und Tabaksdunst des Bürgerbräukellers ist eine hinreißend komische Schilderung einer makabren Posse. Xammar wuss­te, mit wem er es zu tun hat­te, er hatte Hitler kurz zuvor interviewt.«

Volker Ullrich (Die ZEIT) liest »eine der aufschlussreichsten Schilderungen dieses zwischen bluti­gem Ernst und Groteske schwankenden Ereignisses« (Ullrich 2007). Andreas Mix (Berliner Zei­tung) fasst zu­sammen: »In einer grandiosen Reportage charakterisierte Xammar den Hitler-Putsch als dilettantischen Streich bramabasierender Kleinbürger: ein Spektakel aus dumpfer Bierseligkeit und großen Gesten« (Mix 2007). Ernst Piper (Tagesspiegel) erkennt »eine klare Analyse des Ge­schehens, die den Putschversuch in seiner ganzen Lächerlichkeit entlarvt« (Piper 2008).

Der Punkt, um den es in der vorliegenden Erörterung geht, ist die allseits unterstellte Augenzeugenschaft Xammars, die hier bestritten wird. Liest man in dem Standardwerk zum Hitlerputsch 1923 von Harold J. Gor­don jr die Passa­ge zum Ablauf des Putsches nach (1971, S. 256 -261), sind deutliche Unterschiede zur Version Xammars in Details, aber auch im Gesamtablauf der Ereignisse im Bürgerbräukeller festzu­stellen. Da Xammar für eine spanische Leserschaft schrieb, mag ihm Exaktheit weni­ger wichtig gewesen sein als effektvolle Zuspitzung und Vereinfachung ‒ unabhängig davon, ob er dabei war oder nicht.

Das Besondere an der Schilderung des Putsches durch Xammar liegt weder im Neuigkeitswert seines Be­richts noch in der Ge­nauigkeit des Dargestellten, sondern in seinen außergewöhnlichen stilistischen Fä­higkeiten, wozu unter anderem Selbst­ironie und Sarkasmus (siehe das Zitat in Abschnitt 1.4) gehören. Den Artikel über den Putsch einleitend schreibt Xammar selbstironisch (wissend, dass er nicht dabei war):

Ich gebe zu, es übersteigt meine Fähigkeiten, den Putsch in Bayern so zu schil­dern, dass der Leser ihn sich vorstellen kann, ohne dabei gewesen zu sein. Wenn ich es dennoch versuche, so deshalb, weil ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene und mir nichts anderes übrig­bleibt (Xammar 2007, S. 134).

Den Beweis dafür, dass er selbst nicht dabei war, liefert eine Passage aus seinen Memoiren35, aufgezeichnet 1974/75, die nicht eindeutiger sein kann:

An diesem Abend löschten Josep Pla und ich unseren Durst im Franziskaner Bräu. […] Ich habe es schon gesagt, nicht wahr, dass wir an diesem Abend, als Josep Pla und ich unseren Durst im Franzis­kaner Bräu löschten, in einem ande­ren Münchner Keller – dem Hofbräu, wenn ich mich nicht irre – große Dinge passierten. Kurzlebig, aber groß. Genau gesagt, ein Staatsstreich, organisiert von einem bunt zusammengewürfelten Haufen rechter Gruppen und Grüppchen, öffentlich zugelassenen und klandestinen, an deren Spitze sich drei große Per­sönlichkeiten positioniert hatten: der General Luden­dorff, während des Krieges erster Stellvertreter des Marschalls von Hindenburg, der Kopf der bayeri­schen Regierung von Kahr und der junge Stern des delirierenden germanischen Patrio­tismus, Adolf Hitler. Als Josep Pla und ich in der ziemlich kalten Nacht des 9. November zu Bett gingen, ahnten we­der er noch ich, dass in dieser Nacht Ge­schichte geschrieben wurde. Und zwar, wie wir in den Zeitun­gen des nächsten Tages lasen, auf spektakuläre Weise (Xammar 1991, S. 265f., Übersetzung KB).

In der Tat wurde der Hergang des Putschversuches durch verschiedene Erklärungen von Kahrs, die die Grundlage viele Zeitungsberichte bildete, recht detailliert bekannt (Bischl 2023). Alsbald hatten auch Tei­le der deutschen Presse nach der Niederschlagung das Dilettantische und Komische des Vorgangs erkannt und schlachteten es aus. Am 10.11.1923 titelte Ernst Feder im Berliner Tageblatt »Das Ende der Hans­wurstiade«, und auch in Amerika weiß man Bescheid. Larry Rue, der wirklich dabei war, schreibt am 11. November in der Chicago Tribune über die Ereignisse unter dem Titel »Tribune Man Gives First Eyewit­ness Story of Ludendorff’s Ill-fated Bavarian Coup«. In dem Ar­tikel wird nebenbei auch die Bezeich­nung »opera bouffe revolt« für den Putschversuch erfunden.36

Xammar hatte also noch etwas Zeit, um sich umzuhören, Kollegen zu treffen, deutsche und interna­tionale Zeitungen zu lesen und an seinem Artikel zu arbeiten, der dann am 17. November 1923 in der katalani­schen Zeitung La Veu de Catalunya mit dem Titel »Der Putsch als Spektakel« (2007, S. 134f.) veröffent­licht wurde.

9 Schlussbetrachtung

In dem vorliegenden Diskussionsbeitrag wurde argumentiert, dass davon auszugehen ist, dass ein »Inter­view«, das von nie­mandem bestätigt wird – nicht von Xammar selbst und auch von keinem anderen –, nicht stattgefunden hat. Plädiert wird für eine Beweislastumkehr. Es muss nicht bewiesen werden, dass das Interview nicht stattfand, sondern es müssen positive Belege gefunden werden, die anzeigen, dass es das frag­liche Interview gab. Solange es einen solchen Nachweis nicht gibt, ist davon auszugehen, dass das Inter­view eine literarische Erfindung ist.

HistorikerInnen sollten das Interview nicht mehr als verlässliche Quelle verwenden. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Eugeni Xammar vermutlich deshalb niemals auf sein erfundenes Hitler-Interview zu sprechen kam, um vor der Historikerzunft und der Öffentlichkeit nicht als Fälscher dazustehen. Dieses Beschweigen aber ermöglichte erst, das »Interview« bei seiner Wiederentdeckung und erneuten Veröffent­lichung für authentisch zu halten und als historische Quelle zu verwenden.

Ein wichtiges Ergebnis der vorgelegten Erörterung liegt auch darin, dass selbst für den Fall, dass doch noch Belege für ein Gespräch Xammar-Hitler auftauchen sollten, aus dem »Hitler-Interview« keine histo­risch belastbare Quelle würde. Denn zu offenkundig ist, dass die Ausführungen Hitlers in diesem »Inter­view« entscheidend von Xammars literarischer Imagination abhängen.

Erstaunt hat die außerordentliche Prägekraft der Vorworte und Einleitungen renommierter Verlage und HerausgeberInnen für die Wahrnehmung und Interpretation der Texte in relevanten Rezensio­nen. Vertrau­enswürdigkeit und Renommee dieser Instanzen haben skeptische Nachfragen und erfor­derliche Quellen­kritik erst gar nicht aufkommen lassen.

Ein Beispiel, das diese Problematik besonders deutlich macht, ist die Interpretation der Passagen zur Ju­denfrage in dem »Interview«. Die Verleger und Herausgeber haben den Ton vorgegeben. Es wurden die Plä­ne Hitlers zur Judenvernichtung herausgelesen und sogar Vorzeichen des Holocaust und der Endlö­sung darin erkannt. Manche halten den Text in dieser Hinsicht sogar für prophetisch.

Der Text aber gibt solche Deutungen, genau gelesen, nicht her. Wissenschaftlich unzulässige Rückprojek­tionen nach der Katastrophe führen zu falschen Interpretationen. Diese Interpretationen verdrehen zudem die offenkundige Intention Xammars. Dieser wollte nichts prophezeien, sondern Hitler und seinen fanati­schen Antisemitismus als entsetzlich und gleichzeitig als geradezu lächerlich und gro­tesk vorführen.

Ein Fake ist ein Fake. Insofern ist Xammar nicht von dem Vorwurf zu entlasten, gegen das journa­listische Berufsethos verstoßen zu haben. Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, welchen Scha­den Xammar mit seinem fingierten Interview angerichtet hat. Der Schaden, den er bei seinen Lese­rInnen anrichtete, dürfte zu vernachlässigen sein. Auf der Habenseite wäre zu verbuchen, dass Xam­mar seinen Lesern den radika­len, eliminatorischen Antisemitismus Hitlers drastisch vor Augen führ­te, aber zusätzlich auch Detail­kenntnisse über das antisemitische Bayern vermittelte, wenn er über die Ausweisung der Ostjuden in Bay­ern oder über den Konflikt der NSDAP mit der ka­tholischen Kirche in Gestalt des Kardinals Michael von Faulhaber informierte.

Die Berichte Xam­mars aus Deutschland waren, so die Annahme, nicht wegen ihrer Aktualität (die oft nicht gegeben war) attraktiv, sondern wegen seiner außergewöhnlich guten Kenntnisse der deutschen Ver­hältnisse und wegen seines unverwechselbaren, unter­haltsamen Stils, die zu einer spezifi­schen Form des Infotainment zusammenkamen.

Für eine angemessene Bewertung, die nicht nur Maßstäbe von heute auf die Vergangenheit anwen­det, wä­ren im Sinne einer erweiterten Quellenkritik auch die zeittypischen Rahmenbedingungen des »spanischen Zeitungswesens und seiner Schreibweisen« quellenkritisch einzubeziehen, »um die Zu­sammenhänge zu verstehen, unter denen die Beiträge entstanden« (Welzbacher 2007).

Zu erinnern ist an die Einschätzung Permanyers, dass ein fingiertes Interview damals durchaus zum Cha­rakter von Xammar und Pla sowie dem Stil der Epoche passte. Der Hinweis auf den Stil der Epoche ist interessant, weil damit gemeint sein könnte, dass es (bereits) damals in den 1920er Jahren unter Umstän­den wichtiger war, eine gute Geschichte abzuliefern als eine, die sich strikt an die Tatsachen hielt und bei der man unbe­dingt selbst dabei gewesen sein musste.

Eine gute story bedeutete, der Leserschaft etwas Spannendes als selbst Erlebtes aus der Ich-Per­spektive zu er­zählen. Eine ausdrückliche Versicherung der Augenzeugenschaft des Reporters war dafür hilfreich. Das lässt sich zum Beispiel auch für den Journalisten und Star-Reporter Manuel Chavez Nogales zeigen, der wie kein anderer den Nimbus des »Mannes, der dabei war« be­saß. In seiner Re­portage über die Ver­teidigung Madrids im Bürgerkrieg ist er als Autor in Madrid dabei, als Person hielt er sich jedoch in den Tagen nachweislich in Valencia auf (Morató 2023, S. 20).

Die Erwartung der damaligen LeserInnen, dass der Autor dabei zu sein und über Erlebtes zu berich­ten habe, konnte auch Xammar nicht enttäuschen. Seine Artikel, die am Tag des Hitlerputsches vom 8.11.1923 an­gesiedelt sind, bloß als Kompilation von Gelesenem und über Gespräche Erfahrenem zu er­kennen, wäre frustrierend und langweilig gewesen. Auch das »Interview« hätte als Darstellung des radi­kalen, fa­natischen Antisemitis­mus des Adolf Hitler aus Reden, Dokumenten und Gesprächen mit Nazis re­konstruiert und präsentiert werden können. Das war indes keine attraktive Option. Angesichts eines wehrlosen Adolf Hitler in Haft, riskier­te Xammar den Versuch, ein fin­giertes Interview als Groteske durchzubringen, um aus einem zu dem Zeitpunkt nur noch mäßig interes­santen Thema (NSDAP verboten, Hitler in Haft) noch einmal Funken zu schlagen.

Wie immer man die Artikel Xammars vom 8.11.1923 versteht, sie regen heute noch an, über Fake, litera­rische Wahrheit und rigorose Quellenkritik nachzudenken.

Anmerkungen

  1. La Veu de Catalunya (Die Stimme Kataloniens) war das katalanische Sprachrohr der von Francesc Cambó an­geführten bürgerlich-konservativen, katalanisch-nationalistischen Partei Lliga Regionalista. Außer den beiden genannten Zeitungsartikeln veröffentlichte Xammar noch am 23.11.1923 im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch quasi als Ergänzung »von Kahr erklärt den Münchener Putsch« (ebd., S. 142-144). Mehr als einen Monat vorher, am 9.10.1923, hatte er schon in derselben Zeitung, auf Basis eines Fotos, eine kurze, ätzende Charakterisierung Hitlers veröf­fentlicht (ebd., S. 116). ↩︎
  2. Politisch ist von Interesse, dass die mit der Diktatur Primo de Riveras (13.9.1923-28.1.1930) eingeführte Zen­sur in Xammars Beitrag vom 24. November eingriff, indem sie drei Zeilen einer Spalte schwärzen lies. Immer wie­der wurde spekuliert, dass es bei der Streichung um eine Passage zur Vertreibung der Juden aus Spanien ging. Ein weiterer Anlass für Spekulationen ist der Umstand, dass Xammar nach dem 24. November eine Zeit lang nicht mehr für die Veu de Catalunya schrieb, was ohne Belege und ohne Zögern mit dem zensierten Artikel in Verbindung gebracht wird, der ihn seine Stelle gekostet haben soll (González Prada 1998, von Berenberg 2007, Henseleit 2022). Übrigens erschien der Artikel vier Tage später (ohne die Schwärzungen und selbstver­ständlich ohne den unbekannten in La Veu de Catalunya zuvor geschwärzten Text) auf Spanisch in La Correspondencia de Valencia (Xammar 1923, online), einer Zeitung, die zu dem Zeitpunkt die Position der valencianischen Regio­nalisten vertrat, die Francesc Cambó nahestanden. Bei der politischen Beurteilung der Vorgänge innerhalb der Lli­ga Regionalista und ihrer Presseorgane ist zu bedenken, dass viele konservative Katalanisten der Lliga, aber eben nicht alle, die Diktatur Primo de Riveras zumindest anfangs begrüßten (Smith 2010). Innerhalb der Correspondencia de Valencia kam es deswegen sogar zu einer Abspaltung, bei der die Gegner der Diktatur die Redaktion verließen (Eintrag La Correspondencia de Valencia in der Enciclopèdia.cat 2024, online). ↩︎
  3. Im Original: »la peça més controvertida del periodisme català«. ↩︎
  4. Ergänzt sei an dieser Stelle, dass der später sehr berühmte Journalist und Schriftsteller Josep Pla einige Tage später als Xammar, nämlich am 28. November, in der katalanischen Zeitung La Publicitat einen Artikel »Ge­schichten aus Bayern: Hitlers Monolog« veröffentlichte, dessen In­halt ebenfalls das Treffen mit Hitler wiederge­ben soll (Xammar 2007, S. 149-152). »Hitlers Monolog« ist als genau so fiktiv anzusehen wie das »Hitler-In­terview«. Als sicher gilt übrigens, dass Pla kein Deutsch verstand. ↩︎
  5. 1998 wurden zunächst die frühen Artikel Xammars auf Katalanisch unter dem Titel L’ou de la serp veröffent­licht (Xammar 1998). Es folgte im Jahr 2005 die spanische Übersetzung El huevo de la serpiente (Xammar 2005). In deutscher Übersetzung erschien die Aufsatzsammlung unter dem Titel Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924 im Berenberg Verlag (Xammar 2007). Bislang nur auf Spanisch erschien eine Sammlung der für Ahora geschriebenen Beiträge (Xammar 2005) unter dem Titel Crónicas desde Berlín (1930-1936). ↩︎
  6. Über Xammar als Persönlichkeit informieren kurz die online verfügbaren Artikel von Charo González Prada (1998) und Jordi Amat (2019), und etwas ausführlicher die vorzügliche Einleitung von Charo González Prada (2005) zu den Crónicas desde Berlín. ↩︎
  7. Josep Pla charakterisierte Xammar als »un terrible devorador de diarios« (zit. nach González Prada 2005, S. 18.). ↩︎
  8. Zum »Deutschen Kampfbund«, eine Vereinigung paramilitärischer Organisationen, gehörten die SA (Hermann Göring), die Reichsflagge (Adolf Heiß) und der Bund Oberland (Friedrich Weber). Militärischer Führer des Kampfbundes war Oberstleutnant a.D. Hermann Kriebel (1878-1941), das Amt des Geschäftsführers hatte Max Erwin von Scheubner-Richter (1884-1923) inne. Am 25. September 1923 hatte Adolf Hitler die politische Lei­tung des Kampfbunds übernommen (Zelnhefer 2024). ↩︎
  9. Beide, die katalanische und die spanischsprachige Veröffentlichung des Artikels sind online verfügbar (siehe im Literaturverzeichnis Xammar 1923). ↩︎
  10. Die Historikerin Edith Raim, die von der Echtheit des »Interviews« ausgeht, bestätigt indirekt den Eindruck, es mit der Inszenierung eines Schwanks zu tun zu haben. Sie liest aus dem »Interview« heraus, dass Hitler sich am 8.11.1923 den katala­nischen Jour­nalisten gegenüber »aufgeräumt und redselig« äußerte, und sie spekuliert, dass ihn womög­lich »die Aussicht auf die geplante ‚Machtübernahme‘ durch den Putsch zu einem offene­ren Wort animier­te« und die außergewöhnlich deutliche Sprache womöglich damit zusammenhing, dass er in den Spani­ern, die sich als Anhänger des Diktators Primo de Riveras ausgaben, »verwand­te Seelen« erkannte (Raim 2014, S. 58-60). ↩︎
  11. Diese drei Autoren haben explizit die Frage nach der Echtheit des Interviews untersucht. Zweifel an der Echtheit des Interviews finden sich als Nebenbemerkungen auch bei einer Reihe anderer Autoren, etwa bei dem bereits zitierten Jordi Amat (2019). Der Historiker und Medienforscher Guillamet Lloveras schreibt: »Es ist eine plausi­ble Hypothese, dass es sich um ein fiktives Interview handelt« (im Original: »Una hipòtesi versemblant és que es tracti d’una entrevista fictícia« (2022, S. 16f.). Der Historiker Josep Maria Fradera (zitiert in Nopca 2023, online) meint: »Es ist legitim, sich zu fragen, ob das berühmte Interview tatsächlich stattgefunden hat oder nicht« (im Original: »Es lícito pregutarse sí la famosa entrevista se produjo o no«). ↩︎
  12. Im Original: »En fin, una diablura inocente que cuadra con el perfil de Xammar, de Pla y también con el estilo de la época« (Permanyer 2000, S. 2). ↩︎
  13. In der Tat ist es als unwahrscheinlich anzusehen, dass Hitler gerade zwei Fremden gegenüber etwas mit Neuig­keitswert offenbaren sollte. Anders als Sánchez Piñol nahelegt, wird nach der hier vertretenen Meinung (aus­führlich dazu Abschnitt 5) in dem »Interview« aber nichts Neues zur Judenvernichtung kundgetan, sondern aus der bekannten antisemitischen Ideenwelt geschöpft. ↩︎
  14. Es ist schwer zu beurteilen, wie gut Hitler die spanische Geschichte kannte. Erwähnens­wert mag immerhin sein, dass er in »Mein Kampf« die Judenvertreibung der katholischen Könige nicht auf­greift, und sich den spanischen Diktator Primo de Rivera als eine Art Mussolini zurechtlegt: »Ein katalanischer General zog aus gegen Madrid, erst mit einer Brigade, aber es wird eine Division daraus, und endlich liegt ihm das ganze Land zu Füßen. Als er marschiert, ist noch immer nicht ganz Spanien gewonnen, Madrid ist nicht Spanien, aber es wird gewonnen« (Jäckl/Kuhn 1986, S. 1116 (28.2.1924 = Dritter Verhandlungstag im Hitler-Luden­dorff-Prozess). ↩︎
  15. Im Original: »Quin parell. Veuen com eren uns genis? Fins i tot quan l’espifien no pots no parlar d’ells«. ↩︎
  16. Im Original: »[Xammar y Pla] tenían todas las credenciales literarias necesarias para haber reescrito el recuerdo de su entrevis­ta con Adolf Hitler, fuera como fuera este encuentro, fugaz, improvisado, predeterminado, exclusi­vo o con otros periodistas«. ↩︎
  17. Im Original: »[Pero] quizás no se sintieron nunca muy orgullosos de ello. O temían que se les reprochara no ha­ber detectado en el dictador al loco peligroso que ya era«. ↩︎
  18. Nachweisbar hatte die neu errichtete spanische Diktatur bei Alfred Rosenberg, damals Chefredakteur des VB, großes Interesse gefunden, wie ein Tagebucheintrag von Paula Schlier belegt. Diese, eine sozialdemokratisch den­kende Journalistin, hatte sich als Sekretärin im VB einstellen lassen, um undercover Erkenntnisse über die NSD­AP zu gewinnen. Sie notiert in ihrem Tagebuch, dass am 28. Oktober 1923 ein spanischer Anhänger Primo de Riveras in die Redaktion kam und ein intensives Gespräch mit Rosenberg führte: »Heute war ein Spanier da, ein fanatischer Revolutionär, der von dem Umsturz in seiner Heimat Kunde brachte. Er wurde wie ein Fürst emp­fangen und saß im Zimmer des Chefredakteurs. R. hatte mich rufen lassen, damit ich Wichtiges aus der Er­zählung des Spaniers mitstenographiere. […] Während der Erzählung des Spaniers schien es mir, als werde es dem Chefredakteur immer leichter und freier zu Mute. Er stand auf, schüttelte dem Spanier die Hand. Seine Iro­nie war geschwunden. Er sagte nicht: Spaniens Revolution wird uns ein Ansporn sein, aber es sprach aus dem Blick, mit dem er dem fremden Herrn, ihn zur Tür geleitend, bedeutsam in die Augen sah.« (Schlier 2018, Kind­le-Version, S. 85). ↩︎
  19. In diesem Zusammenhang sind die Aufzeichnungen Leo Lanias von Interesse. Ebenfalls im Oktober 1923 hatte sich dieser politisch links stehende, ausgezeichnet Italienisch sprechende Journalist ebenfalls undercover mit ei­nem selbst gefälschten Empfehlungsschreiben von Mussolinis Bruder als »Verbindungsmann zwischen faschis­tischer Partei und der ‚deutschen Bruderbewegung’« in der Redaktion des VB vorgestellt (Lania 1954, S. 227). Er wurde vorzüglich behandelt, bekam einen Dolmetscher, führte Gespräche mit Hitler und weiteren Nazi-Grö­ßen, bevor er nach acht Tagen enttarnt wurde und nur knapp mit dem Leben davon kam. Seine Erfahrung belegt das überaus große Interesse der Nationalsozialisten an Kontakten mit den italienischen Faschisten. Zu Hitler schreibt er auf Basis seiner Begegnungen: »seine [Hitlers] Überzeugung von seiner Mission und seiner Größe, die war unbedingt echt. In diesem Punkt war er ehrlich. Und in seinem Antisemitismus.« (1954, S. 227). Lania verstand auch, dass Hitler eine künftige Machteroberung mit dem Ziel der Militarisierung Deutschlands und ei­nem neuen Krieg verband. Lania schrieb über sein Abenteuer und seine Erkenntnisse wenig später in der »Vos­sischen Zeitung«. ↩︎
  20. Die Ablehnung von Pogromen findet sich explizit in folgenden Dokumenten: (1) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 61: München, 16. September 1919: Brief an Adolf Gemlich = Gutachten über den Antisemitismus erstellt im Auftrag seiner militärischen Vorgesetzten, S. 88-90f. (2) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 91: München, 6. April 1920: Diskussionsbeitrag auf einer NSDAP-Versammlung, S. 119f. (3) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 136: München, 13. August 1920: Rede auf einer NSDAP-Versammlung »Warum sind wir Antisemiten«, S. 184-204. ↩︎
  21. Aus der aktuellen Verlagsbeschreibung (Acantilado 2024): »Viajaron [Xammar und Pla] juntos a Renania y a Baviera, desde donde describieron entre otras cosas los consejos de guerra franceses a ciudadanos alemanes poco dispuestos a colaborar o el frustrado golpe de Estado de Hitler en una cervecería de Múnich, así como una turbadora entrevista que mantuvieron con el futuro dictador en una época tan temprana como 1923, en la que és­te ya prefigura el holocausto«. ↩︎
  22. Und wenn Xammar, so eine weitere Überlegung Espadas, das »Interview« erfunden hätte, dann hätte ja der Journalist die Endlösung prophetisch vor­ausgesagt. Diese Sichtweise ist vom Text her, aber auch von der Inten­tion Xammars nicht gedeckt. Xammar wollte nicht von einer düsteren Zukunft raunen, sondern, so die hier vor­geschlagene Sichtweise, seiner Leserschaft vor Augen führen, dass die Ansichten Hitlers zum Judenproblem zwar entsetzlich, aber auch »äußerst erheiternd« wären (Xammar 2007, S. 148) und Hitler nicht ernst zu nehmen sei. ↩︎
  23. Roman Töppel, der untersucht hat, welche zeitgenössischen Antisemiten Hitlers Rassedenken in besonderer Weise beeinflusst haben, nennt Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Julius Langbehn, Heinrich Claß, Theodor Fritsch, Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz sowie Paul Bang, Dietrich Eckart, Otto Hauser, Hans F. K. Günther und Alfred Rosenberg (Töppel 2016, S. 31). ↩︎
  24. Töppel weist (2016, S. 21) auch darauf hin, dass »Jude« und »jüdisch« letztendlich zu Chiffren werden für alles, was die Nationalsozialisten bekämpften. Und in der Tat sind die Kombinationen von Judentum mit Marxismus, Pazi­fismus, Demokratie vielfach anzutreffen. Dazu ein Beispiel: »Deutschland wird nur leben können, wenn der Saustall jüdischer Korruption, demokratischer Heuchelei und sozialistischen Betrugs mit eisernem Besen ausge­fegt wird« (Völkischer Beobachter vom 15. Mai 1921, abgedruckt in Jäckel/Kuhn 1986, S. 393f.). ↩︎
  25. Das erste Auslandsinterview überhaupt gab Hitler dem Auslandskorrespondenten Karl von Wiegand, das am 13. November 1922 in The Bridgeport Telegram erschien (Domeier 2021, S. 350). Der Korrespondent der Tageszei­tung ABC in Berlin, Javier Bueno García, der seine Artikel mit Azpeitua zeichnete, veröffentlichte am 6. April 1923 das vermutlich erste Interview mit Hitler in einer spanischen Zeitung (Pla Barbero 2018, online). ↩︎
  26. Im Original: »The Jews are not German. They are an alien people in our midst, and manifest themselves as such […] We are like a consumptive, who does not realize that he is doomed unless he expels the microbes from his lungs. Nations, like individuals, are apt to dance most wildly when they are nearest the abyss. Hence, I say, we need violent correctives, strong medicine, maybe amputation. […] We wish to purge ourselves from the Jews not because they are Jews, but because they are a disturbing influence.« ↩︎
  27. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse am 8.11.1923 wurde in erster Linie auf die akri­bische Arbeit von Bern­hard Wien zu den Putschversuchen des Jahres 1923 zurückgegriffen (Wien 2023). Anzumerken ist gleich­wohl, dass bislang keine konsolidierte, von der Forschergemeinschaft anerkannte minutiöse Chronologie von Hitlers Tagesablauf vorzuliegen scheint. ↩︎
  28. Hitler hatte Esser zwar erst vor ein paar Stunden gesprochen, aber das schließt nicht aus, dass er dem »gesund­heitlich Angeschlagenen« (Wien 2023, S. 311) einen Besuch abstattete. Jedenfalls steht fest, dass Esser am 8.11.1923 auf unterschiedliche Weise mittat, etwa bei der den Putsch flankierenden Propagandaarbeit (ebd., S. 307f.) oder als Redner abends im Löwenbräukeller (ebd., S. 311f.). ↩︎
  29. Das Geschehen in der Redaktion am Abend des 8.11. und am Folgetag hat Paula Schlier in ihrem Tagebuch an­schaulich beschrieben und später auch veröffentlicht (Schlier 2018). ↩︎
  30. Im Wikipedia-Eintrag zu Eduard Dietl (Wikipedia: Eduard_Dietl 2024) heißt es, dass dieser seit dem Frühjahr 1923 die Münchner SA militärisch ausbildete, und dass am Abend des 8. November 1923 eine Nachtausbildung von Einheiten der SA, des Bundes Oberland und des Hermannbundes stattfinden sollte. Ein Treffen Hitlers mit Dietl am Nachmittag vor dem geplanten Putsch, bei dem Truppen des Kampfbundes zum Einsatz kommen soll­ten, anzunehmen, ist plausibel. ↩︎
  31. Übrigens setzte Xammar selbst eine Falschmeldung über den Aufenthalt Hitlers am Nachmittag des 8.11.1923 in die Welt, indem er in seinem Artikel vom 23. November »von Kahr erklärt den Münchener Putsch« schrieb, Hit­ler habe zu der Zeit an einer Sitzung mit von Kahr teilgenommen. Dem war nachweislich nicht so. Der Sach­verhalt ist kompliziert und nur am Rande interessant. Der Artikel Xammars beruht auf einer gut dokumentierten Erklä­rung des Generalstaatskommissari­ats vom 9.11.1923 und einer weiteren Erklärung auf einer Pressekonfe­renz vom 10.11.1923, an der Xammar teil­nahm. Xammar gibt von Kahr wie folgt wieder: »Noch am Nachmit­tag des achten November habe ich mich mit Vertretern der vaterländischen Vereine und Gesellschaften zu einem letzten Ge­spräch getroffen.« Dort argumen­tierte von Kahr, dass es für eine direkte Aktion zu früh sei, und fuhr fort: »Das ist meine Ansicht, und nachdem ich sie kundgetan hatte, zeigten sich alle Anwesenden, darunter Hit­ler und Lu­dendorff, einverstanden«. Von Kahr bezieht sich in seiner Verlautbarung aber auf eine Versammlung vom 6. No­vember. Dort heißt es wörtlich: »Ich hatte zwei Tage vor der Versammlung, die durch Hitlers Überfall gestört wurde, eine eingehende vertrau­ensvolle Aussprache mit allen Vertretern und Führern der bayrischen va­terländischen Verbände; auch Hitler und der militärische Führer des Kampfbundes waren anwesend« (Bischel 2023, S. 68 – Erklärungen auf der Presse­konferenz des Generalstaatskommissariats am 10. November 1923). Es ging also um den Nachmittag des 6. No­vember. Dazu kommt, was Xammar nicht wissen konnte, dass das Gene­ralstaatskommissariat später, am 10. De­zember, sogar eingestehen musste, »dass Hitler bei der Aussprache nicht anwesend war« (Bischel 2023, S. 105). Pla Barbero (2018 online) nimmt auf Basis des irreführenden Artikels von Xammar an, Hitler habe am 8.11. nach­mittags an jener Sitzung teilgenommen und habe deshalb bloß am Morgen des 8.11. Zeit gehabt, um sich mit Xammar und Pla zu treffen. ↩︎
  32. »Morgen werden wir seine wirtschaftlichen und politischen Ideen darstellen« (Xammar 2007, S. 148), lautet eine Ankündigung am Ende des »Interviews«. Zu dem Artikel kommt es aber nicht, so die Herausgeber des Bandes, weil Xammar nach dem ersten Teil des »Interviews« nicht weiter bei der Veu de Catalunya beschäftigt wurde (ebd., S. 148). ↩︎
  33. Weitere Rezensionen, die ebenfalls die Echtheit des Interviews annehmen, stammen von Sabine Fröhlich (NZZ v. 8.10.2007), Marie Luise Knott (taz v. 13.10.2007), Rainer Hank (FAZ v. 3.6.2008), Wolfgang Benz (Zeit­schrift für Geschichtswissenschaft 2007), o.A. (Cicero 2007) und dem Nachzügler Armin Fuhrer (Focus 3.6.2022). ↩︎
  34. Eine ausführliche Besprechung dieses Buches erfolgte im Spanienecho (Böhle 2024). ↩︎
  35. Im Original: »Aquell vespre Josep Pla i jo ens fèiem passar la set al celler de la Franziskaner Bräu […]. Deia, doncs, que aquell vespre, mentre Josep Pla i jo ens fèiem passar la set a la Franziskaner Bräu, en un altre celler de Munic ―el de la Hofbräu, si no vaig errat― passaven coses grosses. Efímeres, però grosses. Exactament, un cop d’Estat organitzat per una munió bigarrada de grups i grupets de dreta, públics i clandestins, al davant de la qual s’havien posat tres grans personatges: el general Ludendorff, primer lloctinent del mariscal Von Hindenburg du­rant la guerra, el cap del govern bavarès Von Kahr, i la jove estrella del patriotisme germànic delirant, Adolf Hit­ler. En ficar-nos al llit Josep Pla i jo, aquella nit del 9 de novembre era més aviat freda, ni ell ni jo no sospitàvem que fos històrica. Ho fou, segons llegírem als diaris de l’endemà d’una manera espectacular« (Xammar 1991, S. 265f.). ↩︎
  36. In der Arbeit von Gary Klein (1997) wird ein Kapitel dem Echo und der journalistischen Verarbeitung des Put­sches in drei Zeitungen nachgegangen: New York Times, Chicago Daily Tribune, Chicago Daily News. Nach Klein war Ludendorff weit mehr als Hitler dem schonungslosen Spott und Hohn der amerikanischen Presse aus­gesetzt (S. 18). In einer Karikatur wird dieser, nicht Hitler (wie bei Xammar) als »Diktator für einen Tag« aus­gemalt. Katherine Blunt (2015) untersuchte die Einschätzung Hitlers vonseiten der New York Times, The Chris­tian Science Monitor und The Washington Post vor und nach dem Hitlerputsch (1923-1924). Sie fand heraus, dass Hitler nach dem gescheiterten Putsch nicht mehr recht ernst genommen wurde und sein späterer Aufstieg umso überraschender für viele US-Amerikaner kam. ↩︎

Verwendete Literatur

Acantilado: Verlagstext zu E. Xammar: El huevo de la serpiente: online: https://www.acantilado.es/catalogo/el-huevo-de-la-serpiente/ [zuletzt überprüft am 14.4.2024].
Amat, Jordi: El hombre tras el mito. La Vanguardia vom 14.06.2019; online: https://www.lavanguardia.com/edicion-impresa/20190614/462866908349/el-hombre-tras-el-mito.html [zuletzt über­prüft am 15.04.2024].
ders.: Munich: de la revolución al nazismo. La Vanguardia vom 29.09.2019; online: https://www.lavanguardia.com/cultura/culturas/20190929/47652660580/hitler-primera-guerra-mundial.html [zuletzt überprüft am 14.6.2024]
Bein, Alexander: Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 6(1958)4, S. 340-360.
Benz, Wolfgang: Eugeni Xammar: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924. Berlin 2007. (Rezension von Xammar 2007). Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 55 (2007), 12, S. 1054-1055.
Berenberg, Heinrich von: Einleitung. In: Xammar, Eugeni: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Berlin 2007, S. 7- 13.
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ders.: Seixanta anys d’anar pel món. Editorial Pòrtic: Barcelona 1974-1975.
ders. Seixanta anys d’anar pel món: converses amb Josep Badia i Moret. Quaderns Crema: Barcelona 1991 (Wie­derauflage).
ders.: L’ou de la serp; presentació de Charo González Prada. Quaderns Crema: Barcelona 1998.
ders.: El huevo de la serpiente; traducció d’Ana Prieto Nadal; presentación de Charo González Prada. El Acantila­do: Barcelona 2005.
ders.: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Aus dem Katalanischen von Kirs­ten Brandt. Berenberg Verlag: Berlin 2007.
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Eugeni Xammar: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924.
Berenberg Verlag: Berlin 2007; ISBN: 9783937834238.

  • Der Putsch als Spektakel, S. 134f.
  • Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit, S. 145-148


Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes

Eine Momentaufnahme mit Tiefenschärfe. Wie ein spanischer Sonderkorrespondent die NS-Diktatur bereits im Mai 1933 durchschaute

Rezension von Knud Böhle


1. Die Reportage im Kontext

1.1 Erste Einordnung als frühe kritische Analyse der NS-Diktatur

Manuel Chaves, stellvertretender Direktor und Chefredakteur der Zeitung AHORA, war im Frühjahr 1933 als Sonderkorrespondent in Nazideutschland unterwegs.1 Seine Reportage aus Nazideutschland wenige Wochen nach der Machtergreifung ist ohne Frage dasjenige seiner Werke, welches ein deutsches Publikum heute noch direkt angeht.

Die Reportage bietet ein beeindruckend komplexes Bild der sich etablierenden Naziherrschaft und ihrer ideologischen und machtpolitischen Instrumente. Spezifisch kommt hinzu, dass der Autor seine Beobachtungen und Erkenntnisse mit journalistischen Mitteln so aufbereiten musste, dass seine spanischen LeserInnen seine Berichte als spannend, verständlich und überzeugend empfinden konnten.

Die meisten Einsichten haben noch heute Bestand. Es kommt aber gar nicht darauf an, ob Manuel Chaves bei allen Einschätzungen richtig lag. Der besondere Wert der Reportage liegt heute darin, dass sie eine authentische Momentaufnahme dessen bietet, was ein wacher Geist damals beobachten und schlussfolgern konnte. Sie ist als eine der frühen kritischen Analysen des gerade an die Macht gekommenen Nationalsozialismus zu bewerten.2

Die Reportage wirkt derart gut durchkomponiert, dass man bei der Lektüre des Buches leicht vergessen könnte, dass die Artikel zunächst Einzelstücke waren, die nach und nach während der mehrwöchigen Deutschlandreise entstanden. Technisch gesehen wurden die einzelnen Beiträge per Telefon an die Redaktion in Madrid übermittelt und dabei in Echtzeit von hoch professionellen Schreibkräften verschriftlicht. Anschließend erfolgte die satztechnische Bearbeitung und die Text-Bild-Integration (Gonzáles 2005, S. 21).

Was nun als Buch in deutscher Übersetzung vorliegt, war ursprünglich eine Folge von 13 Artikeln, die zwischen dem 14.5. und dem 28.5.1933 in der Madrider Tageszeitung AHORA. Diario gráfico abgedruckt wurden. AHORA, 1930 gegründet, war während der Zweiten Spanischen Republik (1931-1939) eine wichtige, bürgerlich-liberale Madrider Tageszeitung, die eine Leserschaft von etwa 100.000 erreichte. Sie stand den Ideen und der Politik des damaligen Regierungschefs, Manuel Azaña, nahe.3

Der Zusatz diario gráfico weist auf die zahlreichen Abbildungen im Tiefdruckverfahren hin, die zu den Besonderheiten der Zeitung gehörten. Text und Bild gehören zusammen. Das gilt auch für die Reportage von Manuel Chaves. Die Fotos, die der Autor zum Teil selbst schoss, die zum größeren Teil aber aus anderen Quellen stammen, beglaubigen und veranschaulichen, was im Text ausgeführt wird. Es ist ein Verdienst der vorliegenden deutschen Ausgabe, dass in ihr die meisten Fotos der Reportage enthalten sind. Etwas verallgemeinernd lässt sich sagen, dass eine typische Lieferung eine Doppelseite der Tageszeitung füllte. In den Text waren vier bis fünf Fotos mit erläuternden Bildunterschriften montiert.

Legende: Beispiel der Text-Bildintegration anhand des Artikels zur »conquista de la juventud« (Eroberung der Jugend). Quelle: AHORA, Ausgabe Nr. 761 vom 23. Mai 1933 (digitalisiert zugänglich in der Biblioteca Digital Memoria de Madrid (siehe Anmerkung 3).

1.2 Journalistische Qualitäten der Reportage

Mit journalistischem Spürsinn, innerer Distanz zur Nazi-Ideologie und der Außenperspektive eines demokratischen Beobachters gelingt es Manuel Chaves, wesentliche Erfolgsbedingungen und Funktionsprinzipien der sich etablierenden Diktatur zu durchschauen und anschaulich erzählend zum Ausdruck zu bringen. Manuel Chaves wirkt nie belehrend, prahlt nicht mit seinem Wissen, argumentiert nicht theoretisch, sondern stets aus der beobachtbaren Praxis und seinen Erfahrungen heraus.4

Zu den zurückliegenden Erfahrungen, die seinen Blick für die Verhältnisse in Deutschland geschärft haben, gehören die Jahre der Diktatur in Spanien unter General Primo de Rivera in Spanien (1923-1930) und die auf Reisen erworbenen Kenntnisse über die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion und im Italien Mussolinis.

Anders als zahlreiche Beobachter zu der Zeit, nimmt er zwei lange vor der Machtergreifung schon artikulierte Ziele Hitlers und des Nationalsozialismus ernst: Krieg und Eliminierung der Juden. Von daher kommt bei seinen Recherchen dem Sammeln von Nachweisen für die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie für die beginnende »methodische Ausrottung der Juden« eine zentrale Bedeutung zu.

Den weiteren Bezugsrahmen seines Erkenntnisinteresses bildet der sichtbare Vormarsch und der Erfolg faschistischer Bewegungen in Europa und die damit verbundene Frage, ob darin eine Bedrohung für die 1931 ausgerufene spanische Republik liegt. Vor Augen zu führen, was ein Leben im Zeichen des Hakenkreuzes als Leben in einem totalitären System bedeutet, dürfte auf die meisten LeserInnen der AHORA abschreckend gewirkt haben. Dabei ist im Hinterkopf zu behalten, dass es in Spanien zu der Zeit schon eine rechte und rechtsextreme Presse gab, die ein durchaus anderes Bild des Nationalsozialismus zeichnete.

Bei seiner Reportage zieht Manuel Chaves alle Register des Journalismus: mal dominieren Fotos den Text, mal werden akribisch Zahlen und Daten zusammengetragen, dann wieder wird eine Anekdote oder eine anrührende Szene geschildert. Die Begehung eines Lagers von Arbeitsfreiwilligen wird minutiös dokumentiert und reflektiert. Zitate aus Gesprächen mit »durchschnittlichen Deutschen« und ranghohen Funktionsträgern sowie öffentliche Aussagen von Nazi-Größen werden eingeflochten. Ein Interview mit Joseph Goebbels steht im Mittelpunkt eines anderen Artikels. Reflexionen über den Charakter der Deutschen werden angestellt und verschiedentlich eingestreut, ein dystopisches Szenario einer nationalsozialistischen Zukunft mit in Serie gefertigten kleinen Ariern wird entworfen. Vergleiche Deutschlands mit Spanien werden in Form von Gedankenspielen durchexerziert: Was würde diese oder jene Maßnahme, auf die spanischen Verhältnisse übertragen, konkret bedeuten. Zudem werden damals aktuelle deutsch-spanische Themen, die die spanische Öffentlichkeit bewegten, aufgegriffen (z.B., ob es heimlich Waffenlieferungen an Nazideutschland gab oder wie sich die spanische Botschaft in Berlin gegenüber deutschen Juden verhielt, die emigrieren wollten).

1.3 Der Beitrag von Eugeni Xammar

AHORA hatte seit 1930, ihrem Gründungsjahr, einen ständigen Auslandskorrespondenten mit Sitz in Berlin: Eugeni Xammar. Er war seit 1922 schon als Korrespondent für unterschiedliche Zeitungen in Deutschland tätig gewesen (González Prada 2005, S. 20). Xammar, übrigens seit 1922 mit der aus Neumünster stammenden Amanda Fürstenwerth verheiratet, war nachweislich ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Geschichte und Politik. Er war zudem Presseattaché der spanischen Botschaft und Vizepräsident des Vereins der Auslandspresse in Deutschland (VAP).5

Xammars genaue Kenntnisse der Anfänge und des Aufstiegs der NSDAP und ihrer Politik seit der Machtergreifung, sein persönliches Netzwerk sowie die Kontakte über die spanische Botschaft und den VAP sind Ressourcen, die Manuel Chaves nutzen konnte. Dazu kommen Xammars perfekte Deutschkenntnisse. 1951 erschien übrigens, was als Beleg gelten mag, seine Übersetzung des Dr. Faustus von Thomas Mann ins Spanische (Buenos Aires Ed. Sudamericana), die bis heute immer wieder neu aufgelegt wurde. Manuel Chaves dagegen verfügte bestenfalls über rudimentäre Deutschkenntnisse, »… und es ist ganz und gar rätselhaft, wie er mit der Bevölkerung in Kontakt trat, konnte er doch überhaupt kein Deutsch – das wäre jedenfalls neu« (Henseleit 2022, S. 21). Xammar wird zumindest bei einigen Terminen, die Chaves wahrnahm, dabei gewesen sein. Auch das Zustandekommen des Interviews mit Goebbels, einer der auch historisch relevanten Höhepunkte der Reise, ist ohne die Mitwirkung Xammars kaum denkbar. Beide Journalisten schätzten sich, und eine gemeinsame Reise ins faschistische Italien lag gerade erst zurück (González Prada 2005, S. 21). Die Leser der AHORA profitierten von dieser Zusammenarbeit. Sie wurden durch Xammar und Manuel Chaves über Vorgänge in Nazideutschland informiert: durchgehend über die Kolumne Xammars und im Mai 1933 zusätzlich durch die mehrteilige Reportage von Manuel Chaves.

1.4 Relevanz der Reportage für die Geschichtswissenschaft

Das Buch ist aus drei Gründen für die Geschichtswissenschaft interessant. Erstens als Zeitzeugendokument und Augenzeugenbericht, etwa vom Besuch des FAD-Lagers Biesenthal (FAD = Freiwilliger Arbeitsdienst; den Reichsarbeitsdienst, RAD, gab es erst ab Juni 1935) nordöstlich von Berlin, dessen Militarisierung durch die Nazis Manuel Chaves dokumentierte. Zweitens enthält die Berichterstattung aus Deutschland in der Nr. 760 der Zeitung vom 21. Mai ein Interview mit dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels (dazu unten mehr). Drittens lässt sich in jüngerer Zeit in der Forschung zum Nationalsozialismus ein verstärktes Interesse am Umgang der NS-Diktatur mit der internationalen Öffentlichkeit, zu der die Auslandskorrespondenten an prominenter Stelle gehören, feststellen. Auch in diesem Zusammenhang verdienten die Artikel von Xammar und Chaves über Nazideutschland Interesse. Der nationalsozialistischen Diktatur war es keineswegs egal, wie über sie gedacht und berichtet wurde.6

Zur besseren Einordnung der Reportage, lohnt es sich, den historischen Moment und Kontext, dem sie zugehört ‒ bezogen auf Deutschland und Spanien ‒, kurz aufzurufen.

1.5 Der politische Kontext in Deutschland

Ausgehend von einer Zeitangabe, die Manuel Chaves macht (S. 57), erscheint es plausibel, dass er Mitte April 1933 nach Deutschland einreiste. Zu dem Zeitpunkt waren bereits wichtige Maßnahmen gegen die Gegner des Nationalsozialismus und die Anhänger der Weimarer Republik erfolgt und die Errichtung der totalitären Diktatur war in vollem Gang. Darüber waren die an Deutschland interessierten LeserInnen der AHORA über die Artikel Xammars im Bilde.7

  • 30. Januar: Machtergreifung = Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg;
  • 4. Februar: Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes (setzt verfassungsmäßige Grundrechte der Versammlungs- und Pressefreiheit weitgehend außer Kraft);
  • 28. Februar: Reichstagsbrand / Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat;
  • 5. März: Reichstagswahl;
  • 13. März 1933: Einrichtung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda;
  • 20./21. März: Konzentrationslager für politische Gefangene in Dachau und Sachsenhausen eingerichtet;
  • 23. März: Ermächtigungsgesetz (uneingeschränkte Gesetzgebungsbefugnisse für die Regierung);
  • 1. April: Aufruf zum planmäßigen Boykott jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte;
  • 7. April: Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (Ziel, Menschen jüdischer Herkunft, politische Gegner und andere missliebige Personen aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen und ihnen die Existenzgrundlage zu entziehen. Das bedeutet gleichzeitig NSDAP-Mitglieder und andere Nazis mit Stellen und Posten versorgen zu können);
  • 11. April: Einführung des »Ariernachweises«.

In der Zeit, die Manuel Chaves in Deutschland war, gab es zum einen die Umsetzung und die Folgen der genannten Maßnahmen zu beobachten. Zum anderen gab es weitere einschneidende Ereignisse, die der Journalist direkt miterlebten konnte:

  • 1. Mai: Tag der nationalen Arbeit als Massenveranstaltung mit Gewerkschaftsunterstützung;
  • 2. Mai: Zerschlagung der Gewerkschaften;
  • 10. Mai: Einsetzen der Deutschen Arbeitsfront (DAF);
  • 10. Mai/11. Mai: Bücherverbrennung in Berlin auf dem ehemaligen Berliner Opernplatz, dem Höhepunkt der »Aktion wider den undeutschen Geist«, die im März 1933 begonnen hatte; Bücherverbrennungen fanden an mindestens 18 weiteren deutschen Universitätsstandorten noch bis in den Oktober statt.

Gegen Ende seiner Reise muss Manuel Chaves konstatieren: »Die Gegner des Nationalsozialismus sind besiegt« (S. 141); entweder sind sie zu den Nationalsozialisten übergelaufen, wurden inhaftiert, hatten sich umgebracht oder waren ins Ausland geflohen »auf der Suche nach der Freiheit, die das germanische Volk für überflüssig erklärt hat« (S. 142).

1.6 Der politische Kontext in Spanien

Die politische Lage in Spanien im Mai 1933 lässt sich folgendermaßen skizzieren: Die Diktatur des Generals Miguel Primo de Rivera (1923 bis 1930), den manche Zeitgenossen den spanischen Mussolini nannten, lag noch gar nicht lange zurück. Am 14. April 1931 war dann nach einem Zwischenspiel die Zweite Spanische Republik proklamiert worden. Der Monarch, Alfonso XIII, verließ Spanien wenige Tage später am 17. April. Nach den Wahlen vom 28. Juni 1931, noch ohne aktives Wahlrecht für Frauen, formierte sich eine Koalition aus bürgerlichen Parteien und der PSOE (Partido Socialista Obrero Español). Erster Ministerpräsident war Manuel Azaña, den Manuel Chaves persönlich kannte. Im April/Mai 1933 regierte eine Koalition aus linken republikanischen Parteien und den Sozialisten (PSOE). Zum Zeitpunkt der Deutschlandreise gab es im Parlament weder einen Abgeordneten der KP Spaniens noch ein Mitglied einer faschistischen Partei. Die später wichtige faschistische Partei Falange war da noch gar nicht gegründet. Dazu kam es erst Ende Oktober 1933. Aber es gab bereits die spanischen Faschisten der JONS (Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista), die sich wesentlich vom deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus hatten inspirieren lassen. 1934 sollten sich die Falange und die JONS dann zusammenschließen. Außerdem gab es schon das am 4. März 1933 gegründete national-katholisch bis faschistische Parteienbündnis CEDA (Confederación Española de Derechas Autónomas).

Erste Zeichen einer beginnenden Radikalisierung auf Seiten der politischen Rechten und der Linken (Anarchosyndikalisten, Sozialisten, Kommunisten) waren nicht zu übersehen. Ein Putschversuch des Generals José Sanjurjo am 10. August 1932 war zwar gescheitert, aber ein Aufstand anti-republikanischer Militärs war damit als Möglichkeit markiert. Von der anarchistischen Gewerkschaft CNT beförderte Erhebungen der Anarchosyndikalisten kennzeichneten den Januar 1933. Eine folgenschwerere Krise der Regierung folgte auf einen dieser Aufstände. Im Ort Casas Viejas in der andalusischen Provinz Cádiz gelegen, hatten anarcho-syndikalistische Bauern revoltiert und den freiheitlichen Kommunismus ausgerufen. Das Einschreiten der Guardia Civil und der Guardia de Asalto (beides paramilitärische Polizeiverbände) endete in einem Gewaltexzess vonseiten der Ordnungskräfte mit 28 getöteten Bauern und drei toten Polizisten (zu dem Massaker siehe Brey und Gutiérrez 2010, für die Turbulenzen der Zweiten Republik insgesamt Bernecker 2010, S. 119ff.). Die aus den Ereignissen und ihrer Deutung resultierende Krise trug zum vorzeitigen Ende der Legislaturperiode bei. Bei den Parlamentswahlen im November 1933 wurde die CEDA stärkste Kraft. Nach diesen Wahlen war die Frage, ob der Faschismus in Spanien an die Macht gelangen könne, nicht mehr nur eine der Theorie, sondern eine Frage der praktischen politischen Auseinandersetzung.

2. Zu den Inhalten

2.1 Kurzvorstellung des Themenspektrums

Eindrucksvoll ist, wie Manuel Chaves auf doch relativ wenigen Seiten ein thematisch riesiges Spektrum abgedeckt hat. Anders als viele Beobachter des Aufstiegs und der Machtübernahme der Nationalsozialisten, ist er sich im April/Mai 1933 schon sicher – und kann das belegen –, dass die nationalsozialistische Herrschaft Krieg und die Eliminierung der Juden in Deutschland bedeutet. Er sammelt Belege für Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, er belegt die gerade beginnende »methodische Ausrottung der Juden« vom planmäßigen Boykott bis zu den antijüdischen Gesetzen, die den Juden in Deutschland gezielt ihre Lebensgrundlage entziehen, was Manuel Chaves grauen Terror nennt.

Wenn Kriegsvorbereitung und Vernichtungsantisemitismus die Eckpfeiler des Nationalsozialismus bilden, so sind damit viele spezifischere Fragen des Machtaufbaus, Machterhalts und des Machtausbaus noch offen. Manuel Chaves interessiert insbesondere, wie die Nationalsozialisten die Frauen und die Jugend für sich gewinnen konnten, wie die Indoktrination in den Bildungseinrichtungen Einzug hält. Er kommentiert die modernen Methoden der Public Relations und der Propaganda der Nazis sowie die Gleichschaltung der Presse. Er zeigt, wie die NS-Ideologie den Arbeitern einerseits die Revolution und den Großunternehmen andererseits Ordnung und gute Geschäfte verspricht. Er thematisiert die Zerschlagung der nicht ausreichend widerstandsfähigen Gewerkschaften, bemerkt die entstehende Doppelstruktur von Partei und staatlichen Institutionen, und weist auf totalitäre Eingriffe in vormals private Entscheidungsbereiche hin. Fast ganz nebenbei wird über Zitate auch der zynische Charakter eines Goebbels oder Görings deutlich. Aber auch ein leicht entsetztes Staunen des spanischen Reporters ist zu vernehmen angesichts des deutschen Wesens mit seiner obrigkeitshörigen Neigung zu gehorchen, der Überbetonung von Arbeit (»Der Deutsche braucht die tägliche Arbeit. Mensch zu sein heißt arbeiten«), dem Ersatz von Vernunft durch Weltanschauung und einer Mentalität, die geistig im Mittelalter verblieben sei. Und das sind noch nicht einmal alle Themen. Dabei muss Manuel Chaves bei der Darstellung seine spanische Leserschaft stets vor Augen haben, die verstehen soll, was in Deutschland passiert. Damit das gelingen kann, werden in die Reportage durchgängig aktuelle und historische Bezüge zu und Vergleiche mit Spanien hergestellt.8

Im Folgenden wird versucht, exemplarisch aufzuzeigen, wie Manuel Chaves Themen behandelt und wie er schreibt. Markante Formulierungen, von denen einige hier aufgerufen werden, sind dabei ein (wichtiges) Stilmittel unter anderen. Auf vier Themen wird hier näher eingegangen: erstens das Thema Militarisierung und Aufrüstung. Interessant ist, dass Chaves das Thema nicht nur in einem Artikel abhandelt, sondern immer wieder darauf mit jeweils spezifischer Akzentsetzung zurückkommt. Beim zweiten Thema Judenverfolgung und -unterdrückung wird wiederum über Zitate deutlich, wie Chaves das Irrationale, Groteske und Aberwitzige der antisemitischen Nazi-Politik einerseits sarkastisch und andererseits mitfühlend behandelt. Beim dritten Thema der Eroberung der Jugend durch die Nazis lässt sich besonders gut erkennen, dass es Manuel Chaves wichtig ist, auf die grundlegenden Unterschiede zwischen den Verhältnissen in Deutschland und denen in Spanien aufmerksam zu machen. Schließlich wird der Artikel, in dessen Zentrum das Interview mit Goebbels zu Propaganda und Gegenpropaganda steht, herangezogen. Dabei spielt wieder, allerdings weniger offensichtlich, der Bezug zu der politischen Lage in Spanien eine große Rolle. Außerdem lässt sich an diesem Artikel auch die Wichtigkeit des ständigen Korrespondenten der Zeitung AHORA in Berlin, Eugeni Xammar, erkennen.

2.2 Themenfeld: Aufrüstung, Militarisierung und Kriegsvorbereitung

Die Überzeugung des Journalisten, dass Deutschland den Krieg will, untermauert er mit Belegen. Das Thema wird in mehreren Artikeln unter je spezifischem Aspekt behandelt. In der zweiten Lieferung der Artikelserie vom 16. Mai 1933 wird den LeserInnen mitgeteilt:

Um die Situation in Deutschland begreifen zu können, muss man ein paar Gemeinplätze über Bord werfen und diskutieren, was nicht einmal die Deutschen offen zu sagen wagen: Deutschland will den Krieg; es wird ihn beginnen, sobald es dazu in der Lage ist (S. 56).

Unter der Überschrift »Wie denkt der durchschnittliche Deutsche« sammelt Manuel Chaves Aussagen von Deutschen, mit denen er zu tun hatte. Ein nicht ganz unwichtiger Topos wiederholt sich: ein Bekenntnis zum Militarismus:

[…] Der Militarismus ist unser Ideal. Die Südländer erschrecken ob des Bekenntnisses, weil sie nicht in der Lage sind, den Militarismus als freien Willen und Abbild ihres Daseins zu verstehen (S. 61).

In der nächsten Lieferung (17. Mai 1933) wird gefragt, wie viele Soldaten Deutschland denn wirklich habe:

Während sie in Genf diskutieren, ob die Reichswehr in Wirklichkeit einhunderttausend Männer oder einhunderttausend und einen haben, würde jeder, der ein paar Tage durch Deutschland gereist ist und die Umzüge in den Straßen und die Paraden der Nazis und Stahlhelme gesehen hat, unschwer hochrechnen, dass in Deutschlands Reihen circa eine Million Männer stehen (S. 67).

Auf der nächsten Seite folgt dem eine differenzierte Aufstellung der unterschiedlichen militärischen und paramilitärischen Truppen, die sich zu 1,1 Million Mann addieren.

In zwei weiteren Artikeln der Serie beschreibt Manuel Chaves seinen Besuch im Lager Biesenthal, einem Lager für Arbeitsfreiwillige unweit von Berlin. Morgens sieht er »wie die Arbeiter ein Moor austrocknen« (S. 81); nachmittags steht Gymnastik auf dem Programm und das bedeutet im Klartext für ihn nichts anderes als »militärischer Drill von Rekruten« (S. 86). Er schlussfolgert: »Alle Arbeiten, die diese ‚Freiwilligen‘ hier verrichten, sind für ein Heer im Gefecht nützlich«. Sein Fazit: »’Freiwillige Arbeit‘ = Pflicht zum Militärdienst« (S. 86).

Die Kriegsausrichtung macht sich auch in der Frauenpolitik bemerkbar. Den Frauen wird nahegelegt, »Kinder zu gebären, weil man den Moment kommen sieht, da man sie benötigt. Viele, sehr viele Söhne deutscher Mütter wird der Führer brauchen. Und alle werden noch zu wenig sein« (S. 117).

2.3 Themenfeld: Die methodische Ausrottung der Juden

Manuel Chaves überschreibt einen seiner Artikel »die methodische Ausrottung der Juden« und weist darauf hin, dass die Rede von der Ausrottung von Hitler selbst stamme und die »radikale Ausrottung der Juden« zum Fundament der Nationalsozialisten gehört. Zu dem Zeitpunkt im April/Mai 1933 hält er den, wie er sagt, grauen Terror für entscheidend: Das wirklich Erwähnenswerte und Entscheidende ist »die unerbittliche Haltung eines Regimes wie dem nationalsozialistischen gegen eine große Anzahl seiner Bürger, die gemäß öffentlich zugänglicher Zahlen bei etwa siebenhunderttausend liegt« (S. 130).

Er erläutert dann die Folgen der anti-jüdischen Gesetze und Verordnungen, die Professoren, Anwälte, kleine Läden und große Unternehmen wie Pressehäuser und Kaufhäuser betrifft, dazu Einrichtungen der jüdischen Wohlfahrt, aber auch Hausangestellte und selbst noch den Weichenstellern bei der Bahn die Erwerbsgrundlage entzieht. Sein Fazit:

Nein, weder schneidet man »den Juden« die Ohren ab, noch reißt man ihnen die Haare aus, ihnen wird lediglich jede Lebensgrundlage genommen (S. 131).

Auf einer halben Seite demontiert Chaves mit leichter Hand und einer Dosis Sarkasmus die ideologische Basisunterscheidung der Nationalsozialisten Arier/Semit.

»Die Rasse der Arier« taucht auf der Erde um 1830 auf. … Dies entnimmt man den von Hitler in Kraft gesetzten Normen, die uns wissen lassen, wer »reiner Deutscher« und wer »Jude« ist (S. 133).

Ein einziger nicht christlich getaufter Großvater in den vier letzten Generationen macht in Nazi-Deutschland aus einem Menschen einen Semiten, wohingegen eine blütenreine jüdische Abstammung über Jahrhunderte nicht daran hindert, den Status eines reinen Ariers zu erhalten ‒ wenn nur  die letzten vier Großväter zum Christentum konvertierten.

Das ist ein bisschen grotesk, nicht wahr? Dennoch, mit dieser Auffassung […] unterteilt Hitler seine Untergebenen in solche, die das Recht zu leben haben, und in Bürger, die zu sterben haben, weil sie keine andere Wahl haben werden, als zu sterben (S. 133).

Die jüdischen Bürger wissen, dass es um ihr Leben geht, und haben die Botschaft verstanden. Emigration wird für die meisten keine Lösung sein, nur für die, die das Geld haben (S. 133).

Die deutschen Juden sind derart terrorisiert, dass sie sich allem fügen und nach allen erlittenen Schikanen nur noch darum bitten, dass man ihnen das Recht zu leben lasse (S.135).

Als extremen Einzelbeleg führt er einen jüdischen Intellektuellen an, der sich mit einer schockierenden Klage an die Nazis wandte.

[…] Letzte wissenschaftliche Experimente haben bewiesen, dass man einen Hund bis auf den letzten Tropfen ausbluten lassen kann, um seine Venen mit dem Blut einer anderen Hunderasse zu füllen; macht das mit uns, wenn ihr nicht wollt, dass wir jüdisches Blut haben, aber lasst uns leben. Oder lasst uns fortziehen (S. 135).

Leider lässt uns der Autor, der als Augenzeuge dabei war, im Unklaren über die konkrete Situation und die Personen, die an ihr beteiligt waren.

Im folgenden Teil der Artikelserie wird ein anderer Auswuchs des gewalttätigen Regimes in den Mittelpunkt gestellt. Es geht um Masse und Macht, die Überschrift dazu lautet »Das Volk – der Großinquisitor«. Der graue Terror der Gesetze und Verordnungen wird ergänzt um die unerbittliche Jagd von Menschen auf Menschen. Die Gejagten sind hier nicht nur die Juden, sondern auch die Reste der politisch linken Opposition und letztlich alle missliebigen Personen. Chaves führt Beispiele an. Seine zentrale Einsicht:

Der Druck einer Menschenmasse, nachdem man sie hinsichtlich ihrer hasserfüllten Instinkte und ihrer Rachlust in eine günstige Richtung gelenkt hat, ist um vieles effektiver als jeder erdenkliche Polizeiapparat (S.141).

Gegen den Hass einer solchen Mehrheit ist kein Kampf möglich. »Die Gegner des Nationalsozialismus sind besiegt« (S. 141).

2.4 Themenfeld: Die Eroberung der Jugend

Das Kapitel über die »Eroberung der Jugend« beginnt mit dem Satz:

In Zukunft werden alle Kinder, die in Deutschland geboren werden, mit dem Hakenkreuz am Bauchnabel zur Welt kommen. Ich zweifle nicht daran, dass deutsche Wissenschaftler das genetische Muster des Nationalsozialismus entschlüsseln und eine Methode entwickeln werden, wie man es Schwangeren injizieren kann (S. 103).

und etwas weiter im Text:

Die Deutschen platzen vor Stolz und sind prahlerisch schon bei dem Gedanken, was dieses Kind einst erreichen wird, wie sie es in Serie produzieren werden (S. 104).

Der Vorteil wäre: Das Regime müsste sich nicht mehr mit Umerziehung oder Vernichtung plagen, wenn die Kinder »bereits umerzogen auf die Welt kommen«. Dennoch sind diese Kinder zu bedauern, »die überhaupt niemals zu einer wirklichen menschlichen Regung fähig sein werden« – im Unterschied zu den armen Rabauken aus den Bergen Galiciens oder den Sümpfen Andalusiens, von denen Manuel Chaves spricht, die trotz ihrer Armut »das Gefühl der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens, der Menschlichkeit in sich« bewahren.

Die sarkastisch angelegte Dystopie verstellt indes nicht den Blick auf die umfänglichen Maßnahmen der Nazis, die Jugend auf ihre Seite zu ziehen: Indoktrination in den Schulen, die Propaganda, »ein riesiges Reklame-Netz in den Straßen und über Land«, Musikumzüge, Fahnen, Uniformen, militaristisches Spielzeug, Sammelbilder, Sport und Kino.

Manuel Chaves sieht ganz klar, dass die radikalen, gewalttätigen und brutalen Züge der Bewegung viele Jugendliche ansprechen.

Sämtliche Gewaltbereitschaft der Jugend und ihr Wagemut sind für Hitlers Sturmtrupps von Nutzen. … Einen gewaltigen Schub für die Eroberung der Macht hat Hitler zweifelsohne von der Jugend erhalten. Täuschen wir uns nicht: Die rebellische Jugend Deutschlands steht zum Führer (S. 107f.).

Darin liegt ein gravierender Unterschied zu den Verhältnissen in Spanien:

Der Nationalsozialismus ist ohne jeden Zweifel eine reaktionäre Bewegung, aber keine, wie sie sich die spanischen Reaktionäre vorstellen … [Sie] würden sich zu Tode erschrecken, wenn sie das demagogische Gerüst verstünden, das diese jugendlichen Anhänger Hitlers im Kopf haben. … Die Vergangenheit? Ein Geflecht von Irrtümern. Kaiser Wilhelm? Ein alter Schisser, der Angst vor dem Krieg hatte (S. 124).

2.5 Das Interview mit dem Minister für Propaganda Joseph Goebbels

Das Interview, das am 21. Mai in AHORA publiziert wird, ist vorab vom Propagandaministerium auf drei Fragen und dazu drei Antworten beschränkt worden, die wortwörtlich abzudrucken seien »Ihre Frage – seine Antwort direkt im Anschluss« (S. 97).9

Das Interview wird den Lesern der AHORA angekündigt als wende sich Goebbels ganz speziell an sie. Das strikte, ein echtes Gespräch ausschließende, starre Frage-Antwort-Schema, lässt den Rezensenten vermuten, dass Manuel Chaves sich nicht mit Goebbels persönlich getroffen hat. Gut vorstellbar ist, dass Manuel Chaves oder Eugeni Xammar die drei Fragen schriftlich einreichten und irgendwann später die Antworten darauf ebenfalls schriftlich bekamen. Gegen eine Kommunikation unter Anwesenden spricht zudem, dass Manuel Chaves, ganz untypisch für ihn, keinen Satz über den Ort, die Art der Begrüßung oder andere Details verliert.

Was er stattdessen dem Interview beigibt, ist eine ätzende Typisierung des Dr. Goebbels, die ähnlich lang ausfällt wie das ganze Interview. Goebbels wird dabei als »Typ des gekränkten Irren: verbissen und unversöhnlich« charakterisiert oder an anderer Stelle verglichen mit einem Sektierer »dem sein Ideal befiehlt, den Vater an die Wand zu stellen und erschießen zu lassen, wenn er sich ihm in den Weg stellt«, und er schließt seine Personenbeschreibung mit einem Satz zum besseren Verständnis für sein spanisches Publikum: »Mit Ausnahme von ein paar wenigen karlistischen Geistlichen kennen wir diesen Typus in Spanien nicht« (S. 99).

Die große Überschrift über die ganze Breite einer Zeitungsseite lautet: »Wird es in Spanien Faschismus geben?«. Die beiden ersten Fragen, die Goebbels gestellt werden, haben allerdings noch einen engen Bezug zum Ressort des Propagandaministers. Die erste Frage bezieht sich auf die antideutsche Auslandspropaganda emigrierter Juden und wie dieser Einhalt geboten werden soll. Die zweite Frage lautet, welche Methoden der Propaganda das Ministerium außerhalb Deutschlands anzuwenden gedenkt. Die dritte Frage, ob der Propagandaminister glaubt, dass die nationalsozialistische Doktrin in anderen Ländern verstanden und ein Echo haben wird, lässt einen Bezug zu der übergeordneten Frage erkennen, ob es in Spanien Faschismus geben wird.

Nach Einschätzung des Rezensenten konnten sich Chaves und Xammar die Antworten, die sie erhalten würden, ungefähr schon denken. Es ging ihnen womöglich um zweierlei: zum einen um die Trophäe, es geschafft zu haben, einen der wichtigsten Minister der neuen deutschen Regierung für ein Interview für die eigene Zeitung gewonnen zu haben, und zum anderen sollten die Antworten den LeserInnen der AHORA klar machen, wes Geistes Kind dieser Goebbels ist.

Die Antwort von Goebbels auf die erste Frage, was gegen antideutsche Propaganda emigrierter Juden zu tun sei, lautet im Kern: den Druck auf die Juden in Deutschland erhöhen. Der Boykott gegen die Juden von Anfang April habe gezeigt, dass dieser Ansatz funktioniere. Mit einem Satz, aus dem die Niedertracht Goebbels spricht, endet die Beantwortung der ersten Frage: »In Zukunft werden wir darauf achten, dass die in Deutschland lebenden Juden die strikte Pflicht einhalten und das Land in dem sie leben, davor bewahren, diffamiert zu werden» (S. 99). Der Bezug zu dem Boykott erschließt sich vielleicht nicht jedem sofort, aber einem aufmerksamen Leser der AHORA schon.

Denn in einem Artikel Xammars zum Boykottaufruf, der am 1. April 1933 in der AHORA erschienen war, wurde Goebbels bereits mit den Worten zitiert: »allein die Ankündigung des Boykotts habe schon ausgereicht, um die Gewaltsamkeit der antideutschen Kampagne in der ausländischen Presse merklich zu verringern« (Xammar 2005, S. 126; Übersetzung KB). Genau diese Aussage von Goebbels wird durch die erste Frage der Interviewer erneut provoziert und in ihrer ganzen Drastik den LeserInnen der Zeitung vor Augen geführt.

Auf die zweite Frage nach der Propaganda im Ausland antwortet Goebbels im Wesentlichen: »Es wird keine Propaganda geben. Wir werden nur darauf achten, dass die Wahrheit über Deutschland in der ganzen Welt verstanden wird.« Im Klartext ist das wohl deutlich so zu verstehen, dass das Nazi-Regime unliebsame Medienberichterstattung im Ausland nicht hinnehmen wird. Was das in der Praxis bedeutete, hatte die spanische Presse im März schmerzlich erfahren. Xammar hatte darüber in AHORA berichtet. Dieser Vorfall dürfte beiden Seiten zum Zeitpunkt des Interviews noch vor Augen gestanden haben. Konkret hatte die Zeitung El Socialista am 19 März 1933 geschrieben, Ernst Thälmann sei von den Nazis ermordet worden. Der KPD-Chef Thälmann war zu dem Zeitpunkt zwar in Haft, aber er lebte. In der Tat nahmen die Nazis diese Falschmeldung zum Anlass, eine groß angelegte politisch-mediale Inszenierung zu veranstalten.10

Die Antwort auf die dritte Frage lautet, dass der Nationalsozialismus kein Exportartikel sei, dass jedoch eine »geistige Transformation Europas« stattfände in deren Rahmen jedes Volk gemäß der Natur seiner nationalen Eigenart die für es passende Form finden werde (S.100). Auch diese Antwort konnten die weitgereisten Journalisten erwarten, denen klar gewesen sein dürfte, dass in der Ideologie eines übersteigerten Nationalismus für Internationalismus kein Platz ist. Bezieht man die Antwort Goebbels auf den Obertitel »Wird es in Spanien Faschismus geben?«, dann war seine Einschätzung insofern zutreffend als die spätere Franco-Diktatur durchaus ihre nationalen Eigenarten hatte. Der Sieg Francos im spanischen Bürgerkrieg, aus dem die spanische Variante einer faschistischen Diktatur hervorging, war allerdings alles andere als eine nationale Angelegenheit, und ohne die tatkräftige militärische Unterstützung durch die faschistischen Staaten Italien und Deutschland nicht zu denken.

3. Schluss

Der immer noch beeindruckenden Reportage vom Mai 1933 gelingt es, ein lebendiges und komplexes Bild Deutschlands kurz nach der Machtergreifung zu zeichnen. Auf die Bedeutung von Eugeni Xammar, dem ständigen Auslandskorrespondenten der Zeitung AHORA in Berlin, für das Gelingen der Reportage, wurde im Text hingewiesen. Trotz des zeitlichen Abstandes wirkt nichts an der Artikelserie abgestanden. Sie hält einen Moment auf dem Weg Deutschlands in die nationalsozialistische Barbarei fest und zeigt, wie im Höllentempo zivilisatorische Standards, demokratische Werte und Menschenrechte von den Nazis ausgehebelt wurden. Noch einmal Originalton Manuel Chaves: »Was wir als barbarische Taten bezeichnen, sind für sie [die Nazis] keine … Wir nennen es dennoch barbarisch, auch wenn sie es anders nennen« (S. 137).

Manuel Chaves schreibt über Nazideutschland, aber er tut das vor dem Hintergrund der politischen Lage in Spanien. Wenn er über den Nationalsozialismus schreibt, weiß er, dass sich seine Sicht gegen andere Bilder behaupten muss, die von der reaktionären und rechten Presse einerseits und andererseits von der Presse der nicht-bürgerlichen Linken in Umlauf gebracht werden. Im Mai 1933 lässt sich der Glaube an das Gelingen des demokratischen Experiments Zweite Republik noch aufrecht halten, aber die Euphorie des Anfangs ist schon verflogen. Die politische Großwetterlage mit dem europäischen Faschismus im Aufwind hat sich geändert und spiegelt sich in der Radikalisierung von reaktionären, anti-republikanischen Kräften einerseits und von der Republik enttäuschten Linken andererseits. Vor diesem Hintergrund ist die Reportage über Nazideutschland und das Leben im Zeichen des Hakenkreuzes auch als bewusster Versuch der Abschreckung und Warnung vor dem Faschismus/Nationalsozialismus zu lesen und zu verstehen.

Zum Schluss seien wieder die professionellen HistorikerInnen angesprochen, die das Thema Nationalsozialismus und internationale Öffentlichkeit interessiert. Wie sahen die Arbeitsweise und Berichterstattung der in Berlin akkreditierten spanischen Auslandskorrespondenten aus? Welche Kontakte und Netzwerke waren für sie wichtig? Gab es Verstrickungen in die NS-Diktatur? Welche Bedeutung maß das NS-Regime der Beeinflussung und Instrumentailisierung der spanischen (weiter: spanischsprachigen) Auslandspresse bei? Norman Domeier hat mit seinem Opus Weltöffentlichkeit und Diktatur eine eindrucksvolle Vorlage geschaffen, sich aber primär auf amerikanische Journalisten bezogen und folglich spanische Auslandskorrespondenten praktisch nicht einbezogen.

Eine Untersuchung zu den spanischen Auslandskorrespondenten in Nazideutschland käme nicht umhin, sich mit Eugeni Xammar zu befassen. Das könnte ein Anfang sein. Welche interessanten Kontakte gab es in seinem privaten Umfeld, welche Kontakte zu anderen Korrespondenten pflegte er, mit welchen einflussreichen deutschen Persönlichkeiten und Politikern der Weimarer Republik und später des Nationalsozialismus hatte er zu tun? Wie gelang es ihm bis 1936 seine Stellung zu halten? Sicher scheint, dass Xammar die hohe Kunst, auf der Rasierklinge zu reiten, beherrschte. Das heißt, in einer Diktatur informativ über diese Diktatur für das Ausland zu schreiben ‒ ohne den Kopf zu verlieren. Das Ende seines Aufenthalts in Deutschland im Jahre 1936 dürfte den engen Beziehungen zwischen Nazideutschland und dem Franco-Lager seit Beginn des Bürgerkriegs im Juli 1936 geschuldet gewesen sein.

Bleibt zu wünschen, dass sich ein deutscher Verlag findet, der die Artikel, die Xammar zwischen 1930 und 1936 für die AHORA schrieb (Xammar 2005), veröffentlicht. Das wäre gut für alle, die eine erhellende Sicht von außen auf die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus interessiert und gut für die, die zu den spanischen Auslandskorrespondenten in Deutschland (vor und im Franquismus) forschen.

Anmerkungen

  1. Die Einführung von Frank Henseleit, dem Verleger und Übersetzer der Reportage, enthält nützliche Angaben zum Leben und Schaffen des Autors. Einen guten ersten Überblick bietet auch der Eintrag zu Chaves Nogales in der Wikipedia. Ausführlich ist die zweibändige Biografie von Cintas Guillén (2021). Texte unterschiedlicher Autoren über Manuel Chaves versammeln Torrente und Suberviola (2013). Für die letzten Lebensjahre im englischen Exil (1940-1944) siehe Morató (2023). Es gibt zwei spanische Werkausgaben: Cintas Guillén (Hg.) 2009 und 2013 sowie Garmendia (Hg.) 2020. Von der deutschen Werkausgabe im Kupido Literaturverlag liegen Anfang 2024 vier Bände vor. ↩︎
  2. Für frühe kritische Analysen des Nationalsozialismus deutscher Publizisten siehe ausführlich Belke (1993). Nach der Machtergreifung konnten sich in Deutschland verbliebene regimekritische AutorenInnen nur noch unter Gefahr für Leib und Leben äußern. Die damalige Lage und Entscheidungssituation zeichnet Uwe Wittstock (2022) in seinem Buch Februar 33 über einige bekannte Literaturschaffende nach. Wesentlich besser, aber trotzdem nicht ohne Risiko, war die Lage der Auslandskorrespondenten. Auf zwei bekannte Beispiele kritischer Reportagen amerikanischer Korrespondenten sei kurz hingewiesen. Im Januar 1933 hatte Edgar A. Mowrer, der für die Chicago Daily News schrieb und zugleich Vorsitzender des VAP (Verein der Ausländischen Presse in Deutschland) war, sein mit dem Pulitzer-Preis gekröntes Buch Germany Puts The Clock Back (Mowrer 1931) veröffentlicht. Erwähnt sei zweitens Leland Stowe, der ebenfalls schon im Jahr 1933, jedoch vier Monate später als Manuel Chaves, Deutschland bereiste (im September/Oktober). Seine Beobachtungen und Analysen wurden im Januar 1934 als Buch veröffentlicht: Nazi Means War (Stowe 1934). Eine geplante frühere Veröffentlichung der Reportage im New York Herald Tribune war nicht zustande gekommen, weil man dort den Inhalt für zu alarmistisch hielt. Die Feindschaft der Nationalsozialisten bekamen sowohl Edgar A. Mowrer als auch Manuel Chaves zu spüren. Mowrer wurde unter Druck gesetzt und gezwungen, Deutschland wenige Monate nach seiner kritischen Veröffentlichung zu verlassen (Domeier 2021, S. 127f.). Manuel Chaves kam wegen seiner Reportage auf eine Todesliste der Gestapo (Henseleit 2022, S. 17). Er war dadurch gezwungen 1940, nach der deutschen Besetzung Frankreichs, aus dem französischen Exil nach England zu fliehen. ↩︎
  3. Als selbständige Publikation ist die Reportage 2012 auf Spanisch erschienen (Chaves Nogales 2012). Über die Biblioteca Digital Memoria de Madrid sind alle Ausgaben der Zeitung AHORA online einzusehen [überprüft am 26.1.2024] und als pdf-Dateien abrufbar – also auch die mehrteilige Reportage von Manuel Chaves aus Deutschland. ↩︎
  4. Eine ausführliche Erörterung und Einordnung seines journalistischen Stils hat Maria Isabel Cintas Guillén vorgenommen (2013, S. IX-XXIX und 2021, S. 258-263). Lesenswert ist ebenfalls die literarische Einordnung, die Andrés Trapiello (2020) vornimmt. Eine knappe Charakterisierung des Stils findet sich im Spanienecho in der Besprechung seiner Reportage Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer (Böhle 2021). ↩︎
  5. Die Artikel, die er von 1930 bis 1936 aus Deutschland für AHORA schrieb, wurden 2005 auf Spanisch als Buch veröffentlicht (Xammar 2005). In der Einleitung zu dieser Artikelsammlung werden Xammar als Person und sein Lebensweg ausführlich beschrieben (González Prada 2005). Auf Deutsch liegt eine Auswahl früherer Artikel aus den Jahren 1922-1924 vor (Xammar 2007). In der Einleitung dieses Bandes von Heinrich von Berenberg finden sich auch einige Angaben zu Xammar (Berenburg 2007). Eine im Gespräch mit Josep Badia i Moret entstandene, in Katalanisch verfasste Autobiografie, liegt ebenfalls vor (Xammar 1991). Die Biografie von Quim Torra (2008) interessiert sich besonders für Xammar als katalanischer Nationalist; auf die Jahre, die Xammar in Berlin tätig war, wird dort kaum eingegangen. ↩︎
  6. Es leuchtet sofort ein, dass die Beziehung zwischen freier Presse und Diktatur kompliziert und konfliktträchtig ist. Auf der einen Seite stehen die JournalistInnen, die aus erster Hand Informationen von wichtigen Persönlichkeiten, meistens Politikern, erhalten wollen. Dafür nehmen sie eventuell in Kauf, sich zu verbiegen und Grenzen der journalistischen Berufsethik zu überschreiten. Auf der anderen Seite stehen die Politiker und Politikerinnen, die die Korrespondenten für eine ihren Absichten dienende Berichterstattung instrumentalisieren möchten. Um die Welt der Auslandskorrespondenten in Nazideutschland kennenzulernen, ist die Arbeit von Norman Domeier (Weltöffentlichkeit und Diktatur 2021) außerordentlich hilfreich. Für das Interesse der Historiker an diesem Thema siehe neben Domeier etwa auch Martin Herzer (2012) und den Bericht zur Tagung »Nationalsozialismus und internationale Öffentlichkeit« von Marlene Friedrich (2023). Für Ende 2024 ist ein Buch von Lutz Hachmeister angekündigt, das sich speziell mit den Interviews, die Hitler der Auslandspresse gab, befasst. ↩︎
  7. Für einen chronologischen Überblick der Ereignisse seit Januar 1933 siehe die Jahreschronik 1933 des Online-Portals zur deutschen Geschichte LeMO – Lebendiges Museum Online sowie die Liste antijüdischer Rechtsvorschriften im Deutschen Reich 1933–1945 in der Wikipedia  [Bearbeitungsstand: 9. November 2023, abgerufen: 14. Januar 2024]. ↩︎
  8. An drei Stellen geht es um damals aktuelle Deutsch-Spanische Berührungspunkte: Manuel Chaves berichtet von dem Gerücht, die Nazis bezögen ihre Pistolen aus Spanien, und er erhofft sich, dass die spanische Regierung dem Gerücht entschiedener entgegenträte (S. 72f.). Er kommt auf die zunehmende Zahl der Personen zu sprechen, die in Folge der anti-jüdischen Gesetzgebung bei der spanischen Botschaft, oft mit illusorischen Hoffnungen, vorstellig werden. Er begrüßt ausdrücklich, dass die spanische Regierung unverzüglich die Visavergabe erhöhte (S. 133-135). Drittens legt er sich mit den spanischen Sozialisten an, die mit der Erfindung der »Legende um den Tod von Thälmann« vor allem den Nazis genützt hätten (S. 140; siehe zur Legende ausführlich Abschnitt 2.5). ↩︎
  9. Das Interview ist online verfügbar. Es wurde von der Zeitung Die Welt am 23. September 2022 (Nr. 186, S. 16) abgedruckt und ist hinter einer Paywall online erhältlich. Der Zusatz der Zeitung »Hier ist das Gespräch erstmals auf Deutsch zu lesen« ist insofern falsch als die Übersetzung aus dem hier besprochenem Buch stammt. Über den kupido-Verlag ist der Interviewtext uneingeschränkt online einsehbar (dem Link folgen und dann den Button »Die Welt (20.09.2022)« drücken). Eine Frage für die Historiker wäre, ob sich der vermutlich deutsche Urtext des Interviews in irgendeiner Form noch erhalten hat. ↩︎
  10. Im Völkischen Beobachter und der Berliner Börsen-Zeitung wurden die spanische Republik und der spanische Botschafter in Berlin, Luis Araquistáin (März 1932 – Mai 1933), beschimpft. Auf diplomatischer Ebene traten der deutsche Botschafter in Madrid, Johannes von Welczeck, und der Außenminister Konstantin von Neurath (NSDAP) in Aktion. Des Weiteren wurde vom Propagandaministerium ein Besuch einiger Häftlinge durch eine Gruppe der Auslandspresse, zu der auch Xammar gehörte, organisiert. Im Polizeipräsidium Alexanderplatz konnte Xammar mit Ernst Thälmann, Ludwig Renn, Ernst Torgler, Werner Hirsch und mit Carl von Ossietzky sprechen, und feststellen, dass es nicht zu offensichtlichen Misshandlungen der Verhafteten gekommen war (Xammar 2005, S. 116-125 aus der AHORA vom 28. März 1933). ↩︎

Literaturhinweise

  • Belke, Ingrid: Publizisten warnen vor Hitler. Frühe Analysen des Nationalsozialismus. In: H. Horch & H. Denkler (Ed.), Teil 3 Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. Max Niemeyer Verlag: Berlin, New York 1993, S. 116-176.
  • Berenberg, Heinrich von: Einleitung in: Xammar, Eugeni: Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922- 1924, Berenberg Verlag: Berlin 2007, S. 7- 13.
  • Bernecker, Walther L.: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert. C.H.Beck: München 2010.
  • Böhle, Knud: Rezension von »Manuel Chaves Nogales: Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer«. In: Spanienecho vom 24. April 2022.
  • Brey, Gérard und Gutiérrez Molina, Gutiérrez Molina, José Luis (coord.): Los sucesos de Casas Viejas en la historia, la literatura y la prensa (1933-2008). Fundación Casas Viejas: Cádiz 2010.
  • Chaves Nogales, Manuel: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido: Köln 2022.
  • ders.: Bajo el signo de la esvástica. Almuzara: Córdoba 2012.
  • Cintas Guillén, María Isabel: Manuel Chaves Nogales. Andar y contar. Band I und II. Almería: Confluencias 2021.
  • dies. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Narrativa Completa (2 Bände). Diputación de Sevilla: Sevilla 2009 (Wiederauflage)
  • dies.: Epílogo. In: Cintas Guillén, María Isabel: Manuel Chaves Nogales. Andar y contar II. Confluencias: Almería 2021, S. 239-265.
  • dies.: Introducción. In: Manuel Chaves Nogales: Obra Periodística, Band 1, hrsg. v. Cintas Guillén, María Isabel. Sevilla: Diputación de Sevilla 2001, S. IX–CCXLVI.
  • dies. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Periodística (neue, erweiterte Ausgabe, 3 Bände). Diputación de Sevilla: Sevilla 2013.
  • dies.: Nota Introductoria a esta edición de la obra periodística. In: Manuel Chaves Nogales. Obra Periodística I. Centro de Estudios Andaluces, Diputación de Sevilla: Sevilla 2013, S. IX-XXIX.
  • Domeier, Norman: Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im »Dritten Reich«. Wallstein: Göttingen 2021.
  • Friedrich, Marlene: Tagungsbericht: Nationalsozialismus und internationale Öffentlichkeit. In: H-Soz-Kult vom 17.02.2023.
  • Garmendia, Ignacio F. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Completa (5 Bände). Libros del Asteroide: Barcelona 2020.
  • González Prada, Charo: Introducción. In: Xammar, Eugeni: Crónicas desde Berlín (1930-1936). El Acantilado: Barcelona 2005, S. 13-39.
  • Hachmeister, Lutz: Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten. Kiepenheuer&Witsch: Köln 2024 (angekündigt für November 2024).
  • Henseleit, Frank: Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe. In: Chaves Nogales, Manuel: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido: Köln 2022, S. 7-39.
  • Herzer, Martin: Auslandskorrespondenten und auswärtige Pressepolitik im Dritten Reich. Böhlau-Verlag: Köln, Weimar, Wien 2012.
  • Morató, Yolanda: Manuel Chaves Nogales. Los años perdidos (Londres, 1940-1944). Renacimiento: Valencia 2023.
  • Mowrer, Edgar A.: Germany Puts The Clock Back. Lane: London 1933 (erste Ausgabe im Januar 1933); eine elektronische Fassung ist im Internet Archive verfügbar.
  • Stowe, Leland: Nazi Means War. McGraw-Hill: New York 1934; eine elektronische Fassung ist im Internet Archive verfügbar.
  • Torra i Pla, Quim: Periodisme? Permetin! La vida i els articles d’Eugeni Xammar. Símbol Editors: Barcelona 2008.
  • Torrente, Luis Felipe und Suberviola, Daniel: El hombre que estaba allí, libro-documental, Libros.com, 2013.
  • Trapiello, Andrés: Retrato literario de Chaves Nogales. In: Garmendia, Ignacio F. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Completa. Libros del Asteroide: Barcelona 2020, Band 1, S. XXVII–XXXIV.
  • Wittstock, Uwe: Februar 33: Der Winter der Literatur. Beck C. H.: München 2021.
  • Xammar, Eugeni: Crónicas desde Berlín (1930-1936). Acantilado: Barcelona 2005.
  • ders.: El huevo de la serpiente; traducció d’Ana Prieto Nadal; presentació de Charo González Prada. Barcelona: El Acantilado, 2005.
  • ders.: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Berenberg Verlag: Berlin 2007.
  • ders.: Seixanta anys d’anar pel món: converses amb Josep Badia i Moret. Barcelona: Quaderns Crema 1991.

Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido Literaturverlag: Köln 2022; ISBN 978-3-96675-150-6



Harald Bodenschatz y Max Welch Guerra (eds.): Städtebau als Kreuzzug Francos | El urbanismo como cruzada de Franco

Acerca de un pilar del franquismo: el urbanismo en España, instrumento deliberadamente orquestado de dominación política

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 25.06.2021), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 11.04.2022)

1. Introducción

Uwe Altrock (Universidad de Kassel), Harald Bodenschatz (TU Berlin y Bauhaus-Universität Wei­mar), Jean-François Lejeune (Universidad de Miami), Piero Sassi (coordinador; Bauhaus-Universi­tät Weimar) y Max Welch Guerra (Bauhaus-Universität Weimar) son los autores de un volumen de gran formato (30 cm x 24 cm), complementado con 570 figuras, en que se contempla el urbanismo de los primeros veinte años de la dictadura de Franco (1938–1959).

Los prestigiosos autores abarcan conjuntamente un amplio espectro de especialidades, entre las cuales destacan arquitectura, historia de la arquitectura, ordenación urbana y del territorio, así como ciencia política, planificación y sociología de la arquitectura. El presente estudio suma su aportación a la investigación sobre el urbanismo de las dictaduras europeas. En años recientes, han aparecido trabajos en la misma línea, aplicados a Alemania, Unión Soviética, Italia y Portugal.

El volumen, que combina texto e imágenes, resulta imponente por la mera abundancia de su material gráfico, de expresivas leyendas. Para su compilación, se acudió a numerosas fuentes, entre ellas las colecciones de los autores. Además de fotos de solares, edificios, ciudades y estatuas, se incluyen vistas panorámicas, planos, esbozos, folletos, carteles, fotogramas de películas y otros materiales. Pero las pretensiones de la obra superan con creces, como es evidente, los límites de un simple libro de ilustraciones.

2. Ambiciones del estudio

Dos postulados ocupan un lugar central para la especificación y alcance del presente estudio. La primera hipótesis sostiene que los protagonistas de la dictadura franquista vieron desde el primer momento que el urbanismo era «un medio efectivo de dominación» (pp. 27, 342), que supieron explotar «con objetivos políticos» (p. 29). La segunda hipótesis defiende que durante los primeros veinte años de la dictadura existió «una política propia y diferenciada de urbanismo» (p. 31), mientras que, a partir de 1960, el régimen se adaptó a las directrices del «movimiento moderno de posguerra en Europa Occidental» (p. 344). Esta doble teorización faculta a los autores para desvelar las formas y funciones del urbanismo en su relación cambiante con la configuración política, ideológica y social de esta fase del franquismo.

La presente reseña se centrará principalmente en la primera hipótesis. En cuanto a la segunda, no podrá abordarse aquí su evaluación crítica, que exigiría una comprensión especializada de las scientific communities dedicadas al urbanismo. Existe material gráfico adicional en las páginas de internet de la editorial, que permite a la vez adquirir una impresión general sobre la configuración del libro.

Es importante para situar y encuadrar la presente publicación señalar que fue concebida «teniendo en mente el público germanoparlante». Ello implica, entre otras cosas, que en varios pasajes se tienden puentes al urbanismo alemán, tales como la referencia al influjo de destacados arquitectos alemanes, por ejemplo, Hermann Jansen, Paul Bonatz y Otto Bartning. Hay que tener presente como trasfondo general un «un activo intercambio hispanoalemán iniciado hace años entre profesionales del gremio» (p. 79).

Por otra parte, los autores optan por un acercamiento temático que se aparta del habitual en España, al que se describe como «centrado en los arquitectos» (p. 37). En contraste con ello, se insiste aquí en lo urbanístico, que es encuadrado en el marco de la ordenación urbana que se hacía en Europa en las dictaduras europeas que habían conquistado el poder al comienzo del franquismo.

3. Estructuración del estudio

El volumen está cuidadosamente compuesto y didácticamente organizado. Como obertura inicial, se dispone una serie de veinte páginas con fotografías, en las que se despliegan a modo de ejemplo los fenómenos principales del urbanismo, que serán tratados luego. Al final del libro se ofrece también un tramo ilustrado, que se dedica principalmente a recordar la historia y a describir la política contemporánea de relación con el legado construido. El capítulo que se añade al primer cuerpo de fotos tiene carácter introductorio: resume la dictadura franquista, y revisa el estado de la investigación y las premisas del libro.

El capítulo siguiente puede entenderse como una introducción avanzada, con elementos auxiliares para un público alemán. Mediante la comparación de dos grandes exposiciones celebradas en Madrid en 1942 ―«Arquitectura Moderna Alemana», «Trabajos de la Dirección General de Arquitectura»―, se muestran las respectivas orientaciones de la propaganda urbanística y otros objetivos asignados al urbanismo. A la Alemania nazi no le ha llegado aún la derrota de Estalingrado ni la destrucción de sus ciudades; mientras que, en España, ya se trata de reconstruir los paisajes urbanos devastados por la guerra, ampliar la oferta de viviendas y ―objetivo sin duda no secundario― glorificar mediante obras la victoria.

Los capítulos subsiguientes amplian y detallan el material: los temas abordados, por su variedad, podrían sorprender si nos atenemos rutinariamente a las palabras claves franquismo-urbanismo. Se investigan en efecto ocho campos de acción urbanística, que mencionaremos en esquema: (1) la reconstrucción de lugares devastados por la guerra; (2) la renovación y ampliación del centro de Madrid y la reconfiguración de su región metropolitana; (3) la reurbanización de la ciudad vieja y la construcción de la ciudad industrial en Barcelona y su área; (4) las «Universidades laborales: ciudades universitarias de nuevo cuño»; (5) la renovación de los cascos antiguos; (6) la colonización del interior: pueblos de nueva planta, infraestructura hidráulica; (7) el urbanismo de las colonias españolas en el África noroccidental; (8) el Valle de los Caídos, «pieza clave del urbanismo franquista» (pp. 322 ss.).

Sobre las universidades laborales cabe indicar que no se trataba de universidades ni de escuelas profesionales en el sentido habitual en Alemania, sino de «instituciones totales», como diría el sociólogo Erving Goffman. En ellas se conjugaba el internado, el adoctrinamiento ideológico por la Falange y la Iglesia, con el bachillerato y la formación profesional, para la instrucción de gente fiel al régimen. Inicialmente, algunas instalaciones, aspirando a la autarquía, incluían medios para la producción agrícola.

En la mayoría de los capítulos se perfilan los rasgos característicos del urbanismo acudiendo a ejemplos destacados, que se eligen con vistas a exhibir la diversidad constructiva en juego. Así, en lo tocante a reconstrucciones, se investiga con cuidado el caso de las ciudades de Brunete, Guernica y Belchite, destruidas durante la guerra. En cuanto a las universidades laborales, de los 21 ejemplos disponibles del tipo, son dos, las de Gijón y Córdoba, los que serán objeto de una atención más detallada, sin excluir el resto. En el capítulo de la renovación de cascos viejos se recogen los ejemplos de Zaragoza, Salamanca, Santander, Santillana del Mar y Granada.

El capítulo final reúne en unas pocas páginas (pp. 340-351) las enseñanzas principales derivadas de los capítulos anteriores, más bien descriptivos; este contenido queda integrado en una panorámica de conjunto sobre las formas y funciones del urbanismo en el primer franquismo (1939-1959). Los ocho anejos consiguen aligerar el texto principal y adecuarlo para una lectura más relajada. Se ofrecen datos biográfios sobre los expertos en el urbanismo de este periodo citados en el texto; se presentan los decretos, reglamentos y leyes de ordenación urbanística; se relacionan los archivos y colecciones de los que procede el material gráfico; como cabe esperar, hay una bibliografía y un registro onomástico. En el último anejo se ofrecen semblanzas de los redactores del estudio. Puede consultarse un detallado índice de contenidos del libro en la página de la Biblioteca Nacional Alemana.

4. Destinatarios del estudio

En esquema cabe discernir cuatro grupos destinatarios o campos de interés a los que el libro interesará. Por un lado, arquitectos, historiadores de la arquitectura, planificadores urbanos, expertos en ordenación territorial: a todos ellos les despertará interés este pasaje, poco atendido en muchas de sus facetas, de la historia del urbanismo europeo. Particularmente, los capítulos sobre la reconstrucción de posguerra, las universidades laborales, la colonización del interior, y el urbanismo de los territorios de colonias en África noroccidental dirigen la atención a campos temáticos que la investigación ha venido desatendiendo hasta ahora.

El libro es también de sumo interés para especialistas en historia contemporánea y otros científicos sociales que analizan el franquismo en tanto que sistema de dominación. El tema del urbanismo en su uso como mecanismo de poder abre puertas a una dimensión generalmente poco abordada. Por otro lado, el libro ofrece ingredientes para una discusión tan actual como la de la memoria histórica en España. Se trata de plantear en su conjunto el debate sobre qué hacer con el legado constructivo de la dictadura (con opciones tan diversas como la demolición, la transformación, la reconstrucción, el olvido, la represión, la reinterpretación o la glorificación, cf. p. 38): un debate que alcanza al completo legado de Franco y no solo al conocido y polémico Valle de los Caídos.

Por último, el libro ofrece materiales inesperados a potenciales turistas por los campos y ciudades españolas interesados por el urbanismo. Pocos sabrán que el célebre Barrio Gótico de Barcelona, tal como se ofrece hoy día al visitante, fue configurado esencialmente durante la primera mitad de la dictarura; o que el arquitecto Otto Bartning, conocido por sus vínculos con la Werkbund y la Bauhaus alemanas, construyó en Barcelona una iglesia para la comunidad evangélica alemana, de simpatías pronazis; o que el complejo eclesiástico erigido en Zaragoza en 1945 San Antonio de Padua, con iglesia, convento y torre-mausoleo esconde una historia singular. En la torre descansan los restos mortales de unos 3.000 italianos que lucharon contra la República durante la guerra civil; pero, por añadidura, la torre fue y sigue siendo un frecuentado lugar de bodas italianas (cf. p. 353). Asimismo, el detallado capítulo sobre la historia urbana de Madrid y Zaragoza, o el recorrido por los nuevos pueblos de colonización, podrían inspirar a ciertos turistas con curiosidad por estos aspectos. Por supuesto, constituyen un nítido estímulo para la visita al lugar las informaciones sobre la reconstrucción de Guernica / Gernika, así como la infausta historia previa, incluida la destrucción de la ciudad ―con significativa participación alemana a manos de la Legión Cóndor―, y la secuela de monumentos conmemorativos por el lado español y alemán.

5. Rasgos del primer franquismo (1938-1959)

Para adentrarse en el urbanismo del franquismo primero (1938-1959), conviene conocer algunas características de la dictadura. Este fondo informativo es presentado por los autores, de forma concisa, en la introducción. Se expondrán aquí algunos rasgos de esta etapa, siguiendo en lo esencial el esquema de los autores.

No cabe duda de que la dictadura se apoyó en el poder del ejército, la iglesia, los monárquicos y la Falange, contando con la benevolencia de los terratenientes y la oligarquía industrial y financiera (p. 31). La dictadura pretendía ser algo más que una restauración. Desde finales del siglo xix la necesaria reforma de España era enfocada, específicamente en lo económico, bajo el prisma del regeneracionismo. Tal conciencia del problema fue compartida por el franquismo y todos los régimenes anteriores del siglo xx. En el franquismo inicial fue la Falange, cuyo inspirador principal era el fascismo italiano, la que imprimió un sello más marcado sobre la política de desarrollo.

La dictadura, surgida del golpe militar y la guerra civil, impuso una despiadada distinción entre vencedores y vencidos hasta finales de los años 50, perpetuando sus campos. No solo estaban los derrotados y estigmatizados perdedores republicanos, por un lado, y los condecorados vencedores, por el otro, incluyendo un séquito de actores convencidos y ventajistas directos. Había también muchas personas que, en un clima de carencias materiales y represión, procuraban asegurarse el pan de cada día o mejorar su situación. De ahí que no escasearan quienes se veían obligados a aceptar las ofertas de integración social provenientes del lado vencedor. Es el caso de no pocos arquitectos. Pero el vasallaje y lealtad exigidos por el régimen no eran necesariamente incompatibles con cierto rechazo hacia la dictadura. Como se indica en otra reseña de Spanienecho, «había mucho antifranquismo dentro del franquismo», fórmula que también cabe aplicar a algunos arquitectos (véase a propósito de ello la referencia en este estudio a las distancias que el colegio de arquitectos de Catalonia mantuvo con respecto a la dictadura de Franco, en p. 192).

En el plano ideológico dominaron durante esta etapa, hasta 1959, el nacionalsindicalismo y el nacionalcatolicismo. Sin entrar en detalles, ambas corrientes compartían un enfático nacionalismo, un pensamiento ordenancista, antiparlamentario, jerárquico y estamental, una exaltación del esplendor histórico pasado y del ámbito rural (por oposición a la ciudad). Compartían asimismo la radicalidad maniquea de sus modos de pensar y obrar, tanto durante la guerra como en las dos décadas subsiguientes.

El discurso nacionalsindicalista esta intensamente impregnado de ideas fascistas. Ello conllevaba cierto reconocimiento de la cuestión social, los intereses de los trabajadores (leales) y la necesidad de una intervención económica del estado, con predilección por los grandes proyectos, en los que se aunaba una explotación premoderna de la masa trabajadora con un afán de reforma infraestructural. Por su lado, el nacionalcatolicismo era un fundamentalismo orientado al pasado, cuya voluntad era revertir la separación entre iglesia y estado, estableciendo un estado confesional, cosa que el primer franquismo logró de hecho conseguir.

En la esfera lingüística tuvo especial vigencia un surtido metafórico de carácter católico y reaccionario: la guerra civil se convirtió en cruzada, el dictador fue investido de gracia divina, y a los adversarios se les satanizó con baldones como anticristo, antipatria y antiespaña. En esta construcción ideológica de la historia, por poner un ejemplo relevante para el urbanismo, la explotación mediante trabajos forzados se mutó en «redención de penas por el trabajo». La corporación que gobernaba el trabajo forzado, que se encontraba integrada en el Ministerio de Justicia, recibía el pomposo nombre (desde 1942, cf. p. 327) de Patronato Cen­tral de Nuestra Señora de la Merced para la Redención de las Pen­as por el Trabajo. Después de 1945, al terminar la guerra mundial e iniciarse la Guerra Fría, dejaron de ser presentables ―sobre todo en la esfera internacional― los nacionalsocialistas y su ideología, pero conservaron en el interior, durante largos años, un considerable influjo sobre la política salarial, así como la de desarrollo y poblamiento.

6. Problemas urbanísticos y soluciones ideológicamente saturadas

Afrontaba el urbanismo de esta época, amén de imposiciones ideológicas, también una serie de contundentes problemas, documentados con cifras por los autores.

La reconstrucción de ciudades destruidas se extendía a unos doscientos lugares (pp. 72, 348). Al final de la guerra civil, al menos 192 localidades estaban destruidas en más de un 60 % (p. 48). La obra hidráulica para regulación de caudales fluviales en aras a la agricultura, se percibía como una prioridad. La colonización del territorio, con mejoras infraestructurales, orientadas en particular a la agricultura de regadío, era la respuesta. El programa de colonización rural llevó a establecer unas doscientas aldeas de nueva planta hasta 1959; tras 1960, les siguieron otras 95 (pp. 296, 302). Si el regadío y la producción eléctrica se entienden como evidentes resultados de la mejora infraestructural, puede servir de indicador útil el número de presas construidas. En 1939 había 180 embalses; en los años 1943-1954 se añadieron cien nuevos embalses; y en los siguientes años 1955-1970, otros 276 (pp. 255 ss.).

Otro problema colosal era la escasez de vivienda en las grandes ciudades, evidenciado por los abundantes asentamientos chabolistas. Tan solo en Madrid, había al comienzo de los años 50 treinta barrios de chabolas, donde vivían unas 400.000 personas (p. 153). El problema fue resuelto de forma insatisfactoria: en vez de atajarlo de forma global, se impulsó la construcción de viviendas y pueblos para círculos que se aspiraba a vincular al régimen. La construcción de viviendas y asentamientos rurales se aplicó como instrumento de dominio, para recompensar a los seguidores del dictador, premiando su lealtad hacia el régimen con ventajas en la adquisición de viviendas o tierras.

Otra misión del urbanismo era la constitución de una «infraestructura de la opresión», en lo cual los autores se refieren expresamente a Madrid (pp. 166 ss.) y Barcelona (pp. 204 ss.). Se trata de prisiones, campos de concentración, sitios para ejecuciones. Se usaron cárceles preexistentes, se erigieron prisiones del tipo más moderno, se reutilizaron otros edificios disponibles para fines represores, se abusó de los cementerios como lugar de ajusticiamiento.

Es una función del urbanismo, presumiblemente en todas las dictaduras, la creación de lugares de memoria. Entre los lugares más conocidos de la España franquista destacan el Valle de los Caídos al noroeste de Madrid, el Arco de la Victoria en la capital y el Alcázar de Toledo, reconstruido. Pero también el modo en que las ciudades destruidas durante la guerra fueron reconstruidas y exhibidas desempeñaba, junto con la propia reconstrucción, un papel propagandístico. Los autores detallan este punto a la luz de tres legendarios escenarios de batalla de la guerra civil (Brunete, Belchite y Guernica).

Tales reconstrucciones tenían abundante carga ideológica, reflejando una visión del mundo dirigida al pasado. Evocaciones de la grandeza de un pasado imperial; predilección por el marco rural; centralismo madrileño; lugares de memoria agrupados en torno a la capital (p. 161); preferencia por la Plaza Mayor, ámbito en que organizaciones estatales como la Falange y sus sindicatos, la policía, el ayuntamiento y la iglesia ocupaban un lugar de preferencia. Ha de advertirse que apenas hubo un proyecto urbanístico en el franquismo que no tuviera su iglesia, con independencia de que se tratase de universidades laborales, barrios de vivienda o pueblos de colonización. La política social, orientada al pasado, inspiró también una «renovación conservacionista de los cascos antiguos» (p. 345) en pequeñas y medianas ciudades.

Existía incluso un estilo preferido por la Falange, el escurialismo, tendencia evocadora de la arquitectura del Escorial, con un severo aire neoclásico (p. 212). La universidad laboral de Gijón es uno de los ejemplos más conocidos de ello. Pero el escurialismo era solo una de las variantes dentro de un abanico de estilos constructivos disponibles. Cabe añadir que el régimen aspiraba a lucir su propia versión del movimiento moderno, como se desprende de la edificación de rascacielos en Madrid, el urbanismo industrial barcelonés o la creación de aeropuertos modernos y enormes estadios de fútbol.

7. Límites del influjo de la Falange sobre el urbanismo

A propósito de la diversidad de estilos arquitectónicos viene una tesis de los autores, de extraordinario interés, acerca del papel de arquitectos y urbanistas durante el franquismo. Entre los arquitectos del régimen había decididos seguidores de Franco, junto a otros que se agarraban a la oportunidad de ejercer su profesión: «el franquismo consiguió movilizar a su favor, tempranamente y de forma visible, el quehacer técnico y la creatividad configuradora de los arquitectos españoles» (p. 344). Ello permitió a una administración dominada por falangistas «compensar la falta de competencia técnica de sus cuadros» (p. 345). De resultas de ello, se produjo una multiplicidad de lenguajes formales y estilos, acompañada de una elevada calidad técnina, lo que se aprecia de forma palmaria en las universidades laborales y pueblos de colonización. A través de los arquitectos se estableció de paso una continuidad con planes y proyectos preexistentes, que no eran franquistas en origen, sino que ―como es el caso de los planes de Madrid y Barcelona―, contaban con una larga historia anterior. Otra causa de la diversidad urbanística reside en el hecho de que estos urbanistas conocían el debate internacional y, al mismo tiempo, se dejaban inspirar por las producciones de otras dictaduras. En su conjunto, los autores ven en el urbanismo de esta época, «tanto en la ciudad como en el campo, una variante tradicional del movimiento moderno, que también caracterizó a la Italia fascista o a la Unión Soviética de Stalin» (p. 346).

Como muestra el análisis de los autores, la dominación franquista se caracteriza también por el hecho de que incluso en casos en que los falangistas querían plasmar urbanísticamente sus aspiraciones sociales, el resultado final era el reparto con ventajas entre los ya acomodados. Un primer ejemplo: existía una normativa estatal de construcción de viviendas de alquiler para las clases medias, de la que también las empresas privadas, con estímulos fiscales, se aprovechaban (p. 145). El régimen abordó el alza de los alquileres imponiendo topes, y más tarde prohibiendo nuevas subidas. Como consecuencia, la construcción de casas de alquiler dejó de ser atractiva para las empresas privadas, lo que llevó a que estas viviendas fueran retiradas del mercado de alquiler y se vendieron a clientes acomodados. Un segundo ejemplo: entre 1939 y 1975 se pusieron en riego 1.635.000 hectáreas de tierra por iniciativa y financiación estatal. Los pobladores de las aldeas de colonización se repartieron tan solo 149.358 hectáreas (p. 249). «Los principales beneficiarios no fueron los colonos, sino los terratenientes, cuyas fincas registraron una colosal revalorización» (íbid), estimable en 1.200 hasta 2.000 % con respecto a los valores de la preguerra.

8. Tres observaciones críticas y un deseo

Presuponen los autores un «cuerpo crítico de lectores» (p. 39). Mencionemos aquí cuatro aspectos, que más que ofrecer crítica de fondo, pretenden matizar y solicitar alguna aclaración. Las tres observaciones intentan sondear algunas enjundiosas afirmaciones de los autores. En primer lugar, el título principal del libro, «el urbanismo como cruzada de Franco»; seguidamente, el título del capítulo final de síntesis, «el urbanismo bajo Franco. La continuación de la guerra civil española por otras vías». Por último, se discute otra afirmación central: «el urbanismo […] permite clasificar al régimen como una dictadura abiertamente represiva y desarrollista, de economía estatal» (p. 341). El deseo se orienta a la ampliación de una sección, la de «Infraestructura de la opresión». El lector que no tenga especial interés en minuciosas controversias sobre palabras y conceptos, puede saltarse esta parte de la reseña y acudir directamente a las conclusiones.

(1) El título principal del libro, «el urbanismo como cruzada de Franco», es desconcertante, pues los autores no explican de qué modo ha de entenderse. Para un lector alemán, la referencia inmediata sería a las cruzadas medievales. En el contexto de la dictadura franquista, el concepto de cruzada tiene una inequívoca procedencia, el nacionalcatolicismo; se usó para santificar la pugna de los rebeldes contra la Segunda República y la victoria en la guerra civil. Cruzada, en este contexto ideológico, es sinónimo de guerra civil. Tras la cruzada da comienzo una nueva etapa, que ni los mismos protagonistas y propagandistas de la dictadura siguieron denominando con ese nombre. Por seguir la terminología de los Servicios de Arquitectura de la Falange, de 1939, tras la cruzada venía «el inmenso problema de la reconstrucción de España» (cf. p. 340). Tras la victoria militar tocaba asegurarse el control. Iba con ello indudablemente, como indican los autores, la tarea de hacer visible el nuevo poder en todo el territorio por medio del urbanismo, a través de nuevos nombres de calles, placas conmemorativas, monumentos a la victoria, edificios religiosos, reconstrucción de ciudades en ruinas, embalses, pueblos de nueva planta, universidades laborales y otras iniciativas. De ahí que un título que diera expresión directa a esta voluntad de consolidar por la vía urbanística el dominio dictatorial hubiera sido tal vez más adecuado.

(2) El capítulo final de síntesis lleva el título «El urbanismo bajo Franco. La continuación de la guerra civil española por otras vías» (p. 340); tal encabezamiento es sin duda impactante, pero no refleja los principales resultados del estudio. La posguerra española se vio marcada por una masiva pobreza, persecución política, terror de estado, asesinato en masa, explotación por trabajos forzados, así como otras modalidades de marginación y exclusion social de los antiguos adversarios. Pero, de hecho, tales crímenes y tan innumerables vulneraciones de los derechos humanos durante el franquismo de estos años no se producían ya en el marco de una guerra, es decir, en una situación en que dos campos opuestos se enfrentan en la batalla. No era este el caso, y ello agrava aún más los crímenes. La metáfora elegida, a pesar de su intención drástica, se queda corta ante la realidad.

Desde el punto de vista de la sociología del control, tras 1939 se pretendió sobre todo asegurar el poder y dotar de cotidianía el dominio carismático de Franco, en interés de sus seguidores; ampliar la base social del régimen; integrar nuevos ámbitos sociales, cruciales para estabilizar la dominación. En este título de cuya oportunidad dudamos, no se hace manifiesta la relación mutua entre represión e integración social. La visible represión hacia quienes había combatido del lado de la República, dio lugar también a una intensa presión adaptativa y conformista sobre el resto de la población. Esta combinación de miedo a represalias y perspectivas de oportunidad para mejorar la vida fue puesta en juego por el régimen para ensanchar su base social.

El urbanismo es el ejemplo señero de cómo la represión y las ofertas de integración iban juntas en la práctica dictatorial. Por un lado, se observa la erección de una «infraestructura de la opresión», la utilización masiva de trabajadores forzados para la construcción o la mejora de equipamientos urbanos y rurales, la expulsión de los mejores espacios y tierras habitables, la intensa pobreza en todo el país, que se evidencia en los múltiples barrios de miseria y en una construcción antisocial de viviendas. Por el otro lado, la dictadura se esforzaba en servir a sus seguidores y multiplicarlos: ello principia por la reconstrucción modernizadoras de ciudades destruidas, y la edificación de vivienda urbana de calidad para la burocracia del nuevo estado y las capas medias a quienes se intentaba persuadir. También en la colonización interior, con sus numerosas aldeas de nueva planta para la población rural deseosa de integrarse, así como la creación de universidades laborales para la generación de elites procedentes de orígenes modestos. Resulta en último término sorprendente, con cuánta deliberación y precisión política supieron las elites aprovechar las variadas funciones del urbanismo para consolidar su posición dominante. Este es un importante resultado de los autores, que no logra quedar plasmado en el título, con su referencia a «la continuación de la guerra civil española por otras vías».

(3) Cabe también discutir el concepto de «dictadura desarrollista», aplicado por los autores a la caracterización de esta fase temprana del periodo: «el urbanismo […] permite clasificar al régimen como una neta dictadura desarrollista y represiva, de economía estatal» (p. 341). Por un lado, puede argüirse que, desde los años del regeneracionismo, todos los gobiernos españoles hubieron de confrontar el problema de un desarrollo retrasado. Asimismo, ha de advertirse que, si bien es cierto que la idea del desarrollo era central en el discurso de la Falange, pero las realidades del franquismo imponían otras prioridades, como exponen los autores a la luz de dos ejemplos: el fracaso del modelo público de vivienda de alquiler a beneficio de los promotores privados, y la política de regadíos, cuyos frutos recayeron sobre todo en los terratenientes. En tercer lugar, solo en el área del urbanismo fue posible conseguir resultados cualitativamente valiosos, partiendo de unos métodos poco tecnificados, materiales tradicionales y modos de edificar (sin acero ni cemento), pero disponiendo de buenos arquitectos, mucha mano de obra y trabajadores forzados. Este modelo low-tech no era exportable a otros sectores, que exigían más estrictos requisitos técnicos y de cualificación para la producción y capacidad de concurrencia. A partir de los éxitos en urbanismo y construcción de infraestructuras no debe extrapolarse al desarrollo conjunto de la economía, por lo que no el régimen no puede ser descrito globalmente como dictadura desarrollista. Por decirlo de otra manera, solo en el sector urbanístico, impregnado de las nociones de política de desarrollo de la Falange, cabía esperar cierto éxito del modelo de una neta dictadura desarrollista y represiva de economía estatal. Los logros del sector urbanístico no son suficientes, según nuestro modo de ver, para clasificar globalmente al régimen como dictadura desarrollista.

Puede afirmarse aún más: la productividad de la agricultura y la industria en la etapa inicial del franquismo fue muy baja o casi inexistente. El modelo económico en su conjunto fracasó. La economía, dirigida por el Estado, llegó en 1956 a una crisis que ponía en peligro el sistema; de ella solo se pudo salir gracias a una nueva política, liberal en lo económico, con renovado personal político, plan de estabilización, mudanza ideológica, integración en la economía mundial, inversión extranjera, emigración de trabajadores… (sobre la magnitud de la crísis, véase Anna Catharina Hofmann: Fran­cos Moderne. Technokratie und Diktatur in Spanien 1956-1973. Göttingen 2019: Wallstein Verlag). Por ello, la literatura suele aludir al franquismo en términos de dictadura desarrollista solo a partir de 1959, aunque dejando en suspenso si con ello se entiende la autodescripción, es decir, la nueva ideología legitimadora del desarrollismo, o si se admite que el tardofranquismo fue politológicamente y con arreglo a la sociología del poder lo que propiamente puede describirse como dictadura desarrollista.

En cuarto y último lugar: llama poderosamente la atención que en el libro también se aborde la infraestructura de construcción destinada a la represión, así como la importancia del trabajo forzado para la construcción urbana, especialmente en los capítulos sobre Madrid, Barcelona y el Valle de los Caídos. Este nudo temático podría desarrollarse más, entrando en detalles sobre la erección y uso de los numerosos campos de concentración (estimados en 194, p. 166). Aunque los estudiosos de las ciudades puedan alegar que esto escapa a su campo de atención, sería de gran utilidad para apreciar en su conjunto el mundo de la vivienda en el franquismo inicial el disponer de información adicional sobre los abundantes refugios y barrios de chabolas, así como la política al respecto.

9. Resumen

La consulta, lectura y estudio de la obra puede recomendarse, no solo a quienes se ocupan científicamente del urbanismo y el desarrollo social español, sino también a un público más amplio. Su estilo es factual y sobrio, la composición bien pensada, y la revisión editorial debe haber sido extraordinariamente laboriosa. Este detallado estudio es una rica fuente, de la que puede obtenerse una copiosa información sobre el urbanismo español entre 1938 y 1959, en sus diversas facetas y funciones; se abarcan cuidadosamente, de hecho, temas generalmente marginados, como la colonización interior o las universidades laborales. En los diversos campos de acción urbanística se describe cómo el urbanismo se usó como herramienta de dominio por el franquismo. La convincente imbricación entre urbanismo y modos de control es uno de los principales logros de la obra. Ha de destacarse también que los autores elaboran y explican la pluralidad de estilos constructivos y modelos urbanos presentes. En esta diversidad ocupan un lugar destacado arquitectos ajenos al estilo predilecto de la Falange, los cuales pudieron anudar su praxis con el urbanismo anterior a Franco, y que, al mismo tiempo, conocían y apreciaban la discusión especializada internacional y las tendencias urbanísticas de otras dictaduras europeas. Finalmente ha de destacarse una vez más que los autores ligan el estudio de la historia del urbanismo con una cuestión de actualidad: qué hacer o qué debería hacerse con el legado constructivo del franquismo.

Queda desear muchos lectores a este libro, y sería de esperar que, entre los germanohablantes, así como en el mundo profesional español y otros ámbitos lectores, alcance resonancia y sea apliamente discutido. En las listas de los mejores libros especializados se habrá ganado este estudio un lugar de honor.


Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hrsg.):
Städtebau als Kreuzzug Francos. Wiederaufbau und
Erneuerung unter der Diktatur in Spanien 1938–1959
.
Berlin: DOM Publishers 2021, ISBN: 978-3-86922-527-2

Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hrsg.): Städtebau als Kreuzzug Francos

Über einen Stützpfeiler des Franquismus: Städtebau in Spanien als politisch zielgerichtet eingesetz­tes Herrschaftsmittel

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Uwe Altrock (Universität Kassel), Harald Bodenschatz (TU Berlin und Bauhaus-Universität Weimar), Jean-François Lejeune (University of Miami), Piero Sassi (federführend; Bauhaus-Universität Weimar) und Max Welch Guerra (Bauhaus-Universität Weimar) haben einen großformatigen (30 cm x 24 cm) mit 570 Illustrationen ausgestatteten Band zum Städtebau während der ersten 20 Jahre der Franco-Diktatur (1938–1959) vorgelegt.

Die Autoren sind renommiert und decken zusammen ein weites fachliches Spektrum ab, zu dem unter anderem Architektur, Architekturgeschichte, Stadt- und Raumplanung zählen, aber ebenso Politik- und Planungswissenschaft sowie Architektursoziologie. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur Erforschung des Städtebaus europäischer Diktaturen. Vergleichbare Arbeiten zu Deutschland, der Sowjetunion, Italien und Portugal sind in früheren Jahren bereits veröffentlicht worden.

Der Text-Bild-Band imponiert allein schon durch das vielfältige, mit aussagekräftigen Legenden verse­hene Bildmaterial. Dafür wurde aus zahlreichen Quellen, auch aus Sammlungen der Autoren selbst, geschöpft. Neben Fotos von Bauwerken, Städten und Statuen, werden auch Ansichtskarten, Pläne, Skizzen, Prospekte, Plakate, Bilder aus Filmen und anderes mehr einbezogen. Der mit dem Buch verbundene Anspruch geht selbstverständlich weit über den eines Bildbandes hinaus.

2. Anspruch der Studie

Für die Spezifizierung und das Anliegen der vorliegenden Studie sind zwei Grundannahmen zen­tral: Die erste Hypothese ist, dass die Protagonisten der Franco-Diktatur von An­fang an im Städtebau «ein wirksames Herrschaftsmittel» (S. 27, S. 342) erkannten, welches sie «politisch zielgerichtet» (S. 29) einsetzten. Die zweite Hypothese lautet, dass es während der ersten 20 Jahre der Diktatur «eine eigene, eine einzigartige Städtebaupolitik» (S. 31) gegeben hat, während das Regime ab 1960 dann weitgehend den Leitbildern der «westeuropäischen Nachkriegsmoderne» (S. 344) folgte. Diese doppelte Perspektive auf den Städtebau ermöglicht es den Autoren, Formen und Funktionen des Städtebaus in Wechselbeziehung zu der politischen, ideologischen und sozialen Konfiguration dieser Phase des Franquismus in den Blick zu nehmen.

Die Rezension wird sich vor allem mit der ersten Hypothese befassen. Eine kritische Erörterung der zweiten Hypothese, die den Sachverstand der mit dem Städtebau hauptsächlich befassten scientific communities erforderte, kann hier nicht geleistet werden. In der vorliegenden Besprechung wird bewusst auf Abbildungen verzichtet. Bildmaterial findet sich auf den Internet-Seiten des Verlags, die gleichzeitig einen Eindruck von der Gestaltung des Buches ermöglichen.

Für die Anlage und Rahmung der Publikation ist es wichtig, dass sie «mit dem deutschsprachigen Publikum vor Augen» (S. 34) verfasst wurde. Das bedeutet unter anderem, dass an vielen Stellen politische sowie städtebauliche Bezüge zu Deutschland aufgezeigt werden, wozu auch der Einfluss prominenter deutscher Architekten gehört ‒ etwa von Hermann Jansen, Paul Bonatz oder Otto Bartning. Der langjährige «intensive, deutsch-spanische, fachprofessionelle Austausch» (S. 79) ist dabei als Hintergrund mitzudenken.

Die Autoren reklamieren im Übrigen für sich eine andere Herangehensweise an ihren Gegenstand als die in Spanien übliche, die «architektengeprägt» sei (S. 37). Demgegenüber wird hier der Städtebau betont, der perspektivisch in den Kontext des Städtebaus jener euro­päischen Diktaturen gestellt wird, die zu Beginn der Franco-Diktatur in Europa bereits an der Macht waren.

3. Aufbau der Studie

Der Aufbau des Bandes ist didaktisch gut durchdacht und sorgfältig komponiert. An den Anfang, quasi als Ouvertüre, wird eine Bildstrecke von 20 Seiten gestellt, auf der die Hauptphänomene des Städtebaus, um die es gehen wird, exemplarisch aufgezeigt werden. Am Ende des Buches wird wie­derum eine Bildstrecke geboten, die vor allem der Geschichtserinnerung und dem heutigen Umgang mit dem gebauten Erbe gewidmet ist. Das an die erste Bildstrecke sich anschließende Kapitel hat einleitenden Charakter. Es ordnet die Franco-Diktatur ein, erläutert den Forschungsstand und den eigenen Ansatz.

Das nächste Kapitel lässt sich als weitere Hinführung und hilfreicher Einstieg für ein deutsches Pu­blikum begreifen. Im Vergleich zweier großer, 1942 in Madrid gezeigter Ausstellungen, namentlich «Neue deutsche Baukunst» und «Arbeiten der Generaldirektion für Architektur», werden die jeweilige Städte­baupropaganda und die unterschiedlichen Zwecksetzungen des Städ­tebaus sichtbar. Nazi-Deutschland hat die Niederlage von Stalingrad und die Zerstörung deutscher Städte noch vor sich, in Spanien geht es bereits um den Wiederaufbau im Bürgerkrieg zerstörter Städte, den Wohnungsbau und freilich nicht zuletzt um die bauliche Glorifizierung des Sieges.

In weiteren Kapiteln wird das Material ausgebreitet und erläutert. An manche der behandelten The­men hätte vermutlich kaum einer bei dem Stichwort Städtebau des Franquismus gedacht. Folgende acht Handlungsfelder des Städtebaus, die hier nur schlagwortartig angedeutet werden können, wer­den untersucht: (1) der Wiederaufbau im Krieg zerstörter Orte, (2) die Erneuerung und Erweiterung der Innenstadt Madrids und die Neugestaltung der Stadtregion, (3) der Altstadtumbau und der in­dustrielle Städte­bau in und um Barcelona, (4) die «Arbeiteruniversitäten – Universitätsstädte neuen Typs», (5) die Erneuerung der Altstädte, (6) Binnenkolonisation, Kolonistendörfer und Wasserbauinfrastruktur, (7) der Städte­bau in den spanischen Kolonien Nordwestafrikas, und (8) das Tal der Gefallenen als «Schlüsselpro­jekt des franquistischen Städtebaus» (S. 322ff).

Zu den «Arbeiteruniversitäten» sei kurz erläutert, dass es weder um Univer­sitäten noch um Berufsschulen im bei uns üblichen Verständnis ging, sondern um «totale Institutionen», wie der Soziologe Erving Goffman sagen würde. In ihnen wurden Internat, ideologische In­doktrination durch die Falange und die Kirche mit Sekundarstufe und Fachausbildung gekoppelt, um re­gimetreue Eliten heranzuziehen. Anfangs gehörte in einigen Einrichtung auch die landwirtschaftli­che Selbstversorgung dazu.

In den meisten Kapiteln werden typische Grundzüge des Städtebaus anhand herausragender Bei­spiele deutlich gemacht, wobei die Beispiele so gewählt sind, dass die städtebauliche Vielfalt deut­lich aufgezeigt werden kann. Beim Thema Wiederaufbau etwa, werden die im Bürgerkrieg zerstör­ten Städte Brunete, Guernica und Belchite genauer untersucht. Bei den «Arbeiteruniversitäten» wer­den von den 21 Einrichtungen dieses Typs zwei, die von Gijón und Cordoba, eingehend (aber nicht aus­schließlich) beleuchtet. Im Kapitel zur Altstadterneuerung werden Saragossa, Salamanca, San­tander, Santillana del Mar und Granada als Beispiele gewählt.

Im letzten Kapitel werden auf wenigen Seiten (S. 340-351) die wichtigsten Einsichten aus den vorherigen, eher deskriptiven Kapiteln aufgenommen und in eine Gesamtsicht der Formen und Funktionen des Städtebaus im frühen Franquismus (1939-1959) integriert. Die acht Anhänge sind ein gutes Mittel, den Haupttext zu entlasten und lesefreundlich zu gestalten. Es werden biografische Angaben zu den im Text genannten einflussreichen Städtebau-Experten jener Zeit gemacht; die Dekrete, Verordnungen und Gesetze, mit den der Städtebau politisch geordnet wurde, werden aufgeführt; die Archive und Sammlungen, denen das Bildmaterial entstammt, wer­den aufgelistet und erwartungsgemäß gibt es auch ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister. Im letzten Anhang erfährt man etwas mehr über die Autoren der Studie.

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis des Buches kann man online bei der Deutschen Bibliothek einsehen.

4. Adressaten der Studie

Idealtypisch lassen sich vielleicht vier Zielgruppen beziehungsweise Erkenntnisinteressen identifizieren, die das Buch befriedigen kann. Zum einen sind es die Archi­tekten, Architekturhistoriker, Raum- und Stadtplaner, denen ein in vielen Facetten vernachlässigtes Kapitel europäischer Städtebaugeschichte nahegebracht wird. Besonders mit den Kapiteln über den Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg, die Arbeiteruniversitäten, die Binnenkolonisation und den Städtebau in den westafrikanischen Kolonialgebieten wird die Aufmerksamkeit auf Themenfelder gelenkt, die in der Forschung bisher offenbar stark vernachlässigt worden sind.

Das Buch ist ebenso für Zeithistoriker und andere Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Franquis­mus als Herrschaftssystem befassen, überaus interessant. Mit dem Städtebau als Herrschaftsmittel wird ihnen eine üblicherweise kaum ausgeleuchtete Dimension eröffnet. Weiter bietet das Buch auch jenen etwas, die sich für die aktuellen Auseinandersetzung um die Erinnerungskultur in Spanien in­teressieren. Dabei ist die Frage, was man mit der baulichen Hinterlassenschaft der Diktatur macht (z.B. Abriss, Transformation, Rekonstruktion, Vergessen, Verdrängen, Neuinterpretation oder Verherrlichung, vgl. S. 38), für das gesamte bauliche Erbe Francos zu stellen – und nicht nur für das bekannte und vieldiskutierte Tal der Gefallenen.

Schließlich bietet der Band auch den städtebaulich interessierten Touristen, die durch die spanischen Lande rei­sen oder Städte besichtigen möchten, durchaus Überraschendes. Wenige wer­den wissen, dass das berühmte gotische Viertel in Barcelona, wie es heute dem Besucher erscheint, weitge­hend während der ersten Hälfte der Diktatur gestaltet wurde, oder dass der bekannte mit Deutschem Werkbund und Bauhaus verbundene Architekt Otto Bartning 1942 in Barcelona eine Kirche für die Deutsche (nazifreundliche) Evangelische Gemeinde erbaute, oder dass es mit dem zwischen 1940 und 1945 in Saragossa errichteten Kirchenkomplex San Antonio de Padua mit Kirche, Kloster und Mausoleumsturm eine besondere Bewandtnis hat. In dem Turm ruhen nicht nur die sterblichen Überreste von etwa 3.000 Italienern, die im Bürgerkrieg gegen die Republik kämpften. Der Turm war und ist noch heute italienisches Hoheitsgebiet (vgl. S. 353). Auch die ausführlichen Kapitel zu Madrid und Bar­celona inklusive Stadtgeschichte, oder die Befassung mit den Neudörfern könnten neugierige Tou­risten inspirieren. Natürlich bieten auch die Informationen zum Wiederaufbau Guernicas (baskisch: Gernika) samt der unrühmlichen Vorgeschichte der Zerstörung der Stadt mit maßgeblicher deut­scher Beteiligung durch die Legion Condor, aber auch die Nachgeschichte des Gedenkens auf deut­scher und spanischer Seite, Anreize, sich den Ort genauer anzusehen.

5. Attribute des frühen Franquismus (1938-1959)

Zum Verständnis des Städtebaus im frühen Franquismus (1938-1959) ist eine gewisse Kenntnis ei­niger Eigenheiten der Franco-Diktatur nützlich. Das nötigte Hintergrundwissen wird von den Autoren in knapper Form in der Einleitung bereitgestellt. Einige Charakteristika des frühen Franquismus werden auch hier kurz vorgestellt, wobei den Autoren sinngemäß weitgehend gefolgt wird.

Es steht außer Zweifel, dass die Diktatur sich auf die Macht des Militärs, der Kirche, der Mon­archisten und der Falange stützte, und das Wohlwollen der Großgrundbesitzer, der Industrie- und Finanzoligarchie genoss (vgl. S. 31). Die Diktatur verstand sich nicht als bloß restaurativ. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Reformbedürftigkeit Spaniens gerade in der Wirtschaft unter dem Begriff «regeneracionismo» diskutiert. Dieses Problembewusstsein teilte der Franquismus mit allen vorherigen Regierungen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Im frühen Franquismus war es die besonders vom italienischen Faschismus inspirierte Falange, die der Entwicklungspolitik ihren Stempel aufdrückte.

Die aus einem Militärputsch und dem Bürgerkrieg hervorgegangene Diktatur setzte bis Ende der 50er Jahre die Unter­scheidung von Siegern und Besiegten gnadenlos durch und perpetuierte sie. Zwischen den stigmati­sierten Besiegten des republikanischen Lagers einerseits und den markierten Siegern andererseits, also der Gefolgschaft aus Überzeugungstätern und direkten Profiteuren, gab es noch viele Personen, die in dem Klima von materieller Not und Repression ihr tägliches Überleben oder die Verbesserung ihrer Lage zu sichern suchten. Von daher gab es nicht wenige, die sich genötigt sahen, Angebote der sozialen Integration (auf der Siegerseite) anzunehmen. Das gilt auch für nicht wenige Archi­tekten. Die vom Regime eingeforderte Folgsamkeit und Loyalität schließt eine Ablehnung der Diktatur aber nicht unbedingt aus. Wie es in einer anderen Buchbesprechung im Spanienecho hieß: «Es gab viel Antifranquismus im Franquismus». Auch das dürfte für einige Architekten gelten (vgl. dazu auch den Hinweis in der Studie auf die Distanz der Architektenkammer Kataloniens zur Franco-Diktatur auf S. 192).

Auf der Ebene der Ideologie waren in jener Zeit (bis 1959) der Nationalsyndikalismus und der Natio­nalkatholizismus vorherrschend. Ohne ins Detail zu gehen, gemeinsam war beiden ein übersteigerter Nationalismus, ein antiparlamentarisches, hierarchisches und ständisches Ordnungs­denken, eine Glorifizierung vergangener historischer Größe und des ländlichen Raums (gegenüber der Stadt). Gemeinsam war beiden auch die manichäische Radikalisierung in Denken und Handeln, sowohl während des Krieges als auch in den zwei Jahrzehnten danach.

Der nationalsyndikalistische Diskurs war stark von faschistischen Ideen geprägt, was eine gewisse Anerkennung der sozialen Frage, der Interessen der (loyalen) Werktätigen und der Notwendigkeit staatlich gelenkter wirtschaftlicher Entwicklung beinhaltete ‒ mit einer Vorliebe für Großprojekte, in denen vormoderne Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und Infrastrukturverbesserung kurzge­schlossen wurden. Demgegenüber war der Nationalkatholizismus ein rückwärtsgewandter Fun­damentalismus, der die Trennung von Kirche und Staat rückgängig machen und einen konfessionel­len Staat errichten wollte, was im frühen Franquismus tatsächlich gelang.

Auf der Ebene der Sprache war die katholisch reaktionäre Metaphorik besonders präsent: der Bürgerkrieg wurde zum Kreuz­zug, der Diktator wurde mit Gottesgnadentum ausgestattet, die Gegner wurden mit Begriffen wie Anti-Christ, Anti-Patria und Anti-España verteufelt. In dieser ideologisierten Wirklichkeit, um ein für den Städtebau relevantes Beispiel zu wählen, mutierte die Ausbeutung durch Zwangsarbeit zur «Erlösung von Strafen durch Arbeit». Das dem Justizministerium unterstehende, die Zwangsarbeit steuernde Gremium hatte bezeichnenderweise (ab 1942, vgl. S. 327) den aufgeblasenen Namen: «Zentralpa­tronat Unserer Lieben Frau der Gnade für die Erlösung von Strafen durch Arbeit» (Patronato Cen­tral de Nuestra Señora de la Merced para la Redención de las Penas por el Trabajo). Nach 1945, dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Krieges, waren die Nationalsyndikalis­ten und ihre Ideologie vor allem international nicht mehr präsentabel, behielten aber im Innern noch über Jahre beachtlichen Einfluss etwa in der Lohnpolitik, aber auch in der Siedlungs- und Entwicklungspolitik.

6. Probleme des Städtebaus und ideologisch geprägte Lösungen

Der Städtebau jener Zeit hatte, jenseits ideologischer Erfordernisse, auf eine Reihe handfester Probleme zu antworten, die die Autoren mit Zahlen unterfüttern.

Der Wiederaufbau zerstörter Städte bezog sich auf etwa 200 Orte (S. 72, S. 348). Ende des Bürgerkriegs waren 192 Ortschaften mindestens zu 60% zerstört (S. 48). Die Eindämmung der Landflucht durch Förderung der Landwirtschaft wurde als weiteres dringendes Problem gesehen. Binnenkolonisation und Verbesserung der Infrastruktur auf dem Lande, insbe­sondere durch den Wasserbau, waren die Antworten. Im Rahmen der Binnenkolonisation wurden bis 1959 etwa 200 Neudörfer angelegt, nach 1960 noch weitere 95 (S. 296, S. 302). Betrachtet man Bewässerung und Elektrizitätsgewinnung als wichtige Elemente der Infrastrukturverbesserung, dann kann der Bau von Staudämmen als brauchbarer Indikator dienen: 1939 gab es 180 Staudäm­me; in den Jahren 1943-1954 kamen 100 weitere Staudämme dazu, und in den Folgejahren 1955-1970 nochmals 276 (S. 255f).

Ein weiteres unübersehbares Problem stellte die Wohnungsnot in den Großstädten dar, die sich an den zahlreichen informellen Siedlungen zeigte. Allein in Madrid gab es Anfang der 1950er Jahre 30 Elendssiedlungen, in denen etwa 400.000 Personen lebten (S. 153). Dieses Problem wurde nur unzureichend angegangen. Stattdessen wurde der Wohnungs- und Städtebau für Personenkreise gefördert, die man an das Regime binden wollte. Der Wohnungs- und Städtebau (auf dem Lande) wurde als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um die Gefolgschaft des Diktators zu beloh­nen, indem Loyalität gegenüber dem Regime mit bevorzugter Wohnungs- oder Landvergabe prä­miert wurde.

Eine weitere Aufgabe des Städtebaus war der Aufbau einer «Infrastruktur der Unterdrückung», wor­auf die Autoren ausführlich für Madrid (S. 166ff) und Barcelona (S. 205ff) eingehen. Gemeint sind damit Haftanstalten, Konzentrationslager, Hinrichtungsstätten. Genutzt wurden vorhandene Gefängnisse, modernste Haftanstalten wurden neu errichtet, andere vorhandene Gebäude wurden für den Zweck der Repression umgewidmet, Friedhöfe wurden als Hinrichtungsstätten mißbraucht.

Eine Funktion des Städtebaus, vermutlich in allen Diktaturen, ist es, Erinnerungsorte zu schaffen. Zu den bekanntesten Erinnerungsorten des franquistischen Spaniens gehören das Tal der Gefallenen nordwestlich von Madrid, der Siegesbogen in Madrid (arco de la victoria) und die wiederaufgebaute Festung (der Alcázar) in Toledo. Aber auch die Art, wie im Krieg zerstörte Städte wieder aufgebaut und vorgezeigt werden, erfüllte neben der des Wiederaufbaus eine propagandistische Funktion. Die Autoren zeigen das anhand von drei legendären Kriegsschauplätzen des Bürgerkriegs (Brunete, Belchite und Guernica).

Der Städtebau war in vielerlei Hinsicht ideologisch geprägt und spiegelte ein rückwärtsgewandtes Weltbild: Heraufbeschwören der großen imperialen Vergangenheit, eine Präferenz für den ländli­chen Raum, Zentralismus der Hauptstadt Madrid, Erinnerungsorte im Umkreis der Hauptstadt (S. 161), eine Präferenz für die Plaza Major, an der die staatstragenden Einrichtungen wie die Falange und ihre Gewerkschaftsorganisation, Poli­zei, Rathaus und Kirche demonstrativ in Szene gesetzt wurden. Letztlich gab es kaum ein städte­bauliches Projekt im Franquismus, das ohne Kirche ausgekommen wäre ‒ egal ob es um Arbeiteruniversitäten, Wohnviertel oder Neudörfer ging. Der rückwärtsgewandten Gesellschaftspolitik korrespondiert auch eine «erhaltende Altstadterneuerungspolitik» (S. 345) für mittlere und kleinere Städte.

Es gab sogar einen von der Falange präferierten Baustil, den Escuralismo, ein an der Architektur des Esco­rial orientierter strenger, neoklassischer Stil (S. 212). Die Arbeiteruniversität in Gijón ist dafür eines der bekanntesten Beispiele. Der Escuralismo stellte aber nur eine Variante innerhalb einer Vielzahl praktizierter Baustile dar. Zu ergänzen ist ferner, dass das Regime auch die eigene Modernität unter Beweis stellen wollte, ablesbar etwa am Bau von Hochhäusern in Madrid, dem industriellen Städtebau in Barcelona oder dem Bau moderner Flughäfen und riesiger Fußballstadien.

7. Grenzen des Einflusses der Falange auf den Städtebau

An die Aussage zur Vielfalt der Architekturstile knüpft eine außerordentlich interessante These der Autoren zur Rolle der Architekten und Städtebauer im Franquismus an. Unter den Architekten des Regimes gab es entschiedene Franco-Anhänger und solche, die die Chance in ihrer Profession tätig zu sein, ergriffen: «Dem Franquismus gelang es, das technische Können und die gestalterische Kreativität der spanischen Architektenschaft schon früh und in beträchtlichem Maße für sich zu mobilisieren» (S. 344). Das ermöglichte der weitgehend falangistisch geprägten Administration, «die in ihren Reihen fehlende fachliche Kompetenz auszugleichen» (S. 345). Im Ergebnis kam es dadurch zu einer Vielzahl an Formsprachen und Baustilen bei hoher fachlicher Qualität, was besonders sinnfällig an den Arbeiteruniversitäten und Kolonistendörfern gezeigt wird. Über die Architekten wurde auch eine Kontinuität mit bereits existierenden Plänen und Projekten gesichert, die nicht originär franquistisch waren, sondern wie die Bebauungspläne für Madrid und Barcelona eine lange Vorgeschichte hatten. Eine weitere Quelle der städtebaulichen Vielfalt ist darin zu sehen, dass diese Städtebauer die internationale Diskussion kannten und sich zudem von den Produkten anderer Diktaturen inspirie­ren lassen konnten. Insgesamt sehen die Autoren den Städtebau dieser Zeit «in den Städten wie auf dem Land als eine traditionelle Variante der Moderne, die auch das faschistische Italien wie die So­wjetunion Stalins prägte» (S. 346).

Kennzeichnend für die Herrschaft des Franquismus ist auch, wie die Analyse der Autoren zeigt, dass selbst dort, wo die Falangisten soziale Anliegen im Städtebau umsetzen wollten, es am Ende zu einer Umverteilung und Begünstigung der bereits Wohlhabenden kam. Beispiel 1: Es gab eine staatliche Förderung für den Bau von Mietwohnungen für Mittelschichten, von der auch private Unternehmen über Steuerbegünstigungen profitierten (S. 145). Steigenden Mieten begegnete das Regime zunächst durch eine Mietpreisdeckelung und dann durch ein Verbot von Mieterhöhungen. Dadurch wurde der Bau von Mietwohnungen von den privaten Unterneh­men nicht mehr als attraktiv angesehen, und das führte dazu, dass diese Wohnungen dem Mietmarkt entzogen und an Wohlhabende verkauft wurden. Beispiel 2: Insgesamt wurden von 1939 bis 1975 beachtliche 1.635.000 Hektar Land durch staatlich finanzierte Maßnahmen bewässert. An Siedler der Neudörfer wurden davon nur 149.358 Hektar verteilt (S. 249). «Die Hauptprofiteure waren nicht die Sied­ler, sondern die Besitzer großer landwirtschaftlicher Güter, die eine gewaltige Aufwertung er­fuhren» (ebd.) – nach Schätzungen eine Steigerung von 1.200 bis 2.000 Prozent gegenüber dem Vorkriegswert.

8. Drei kritische Anmerkungen und ein Wunsch

Die Autoren gehen von einer «kritischen Leserschaft» aus (S. 39). Vier Punkte, bei denen es nicht um grundsätzliche Kritik geht, sondern um Nuancierungen und Klärungsbedarf, sollen hier angesprochen werden. Bei den drei Anmerkungen geht es darum, prägnante Formulierungen der Autoren zu hinterfragen, zunächst den Haupttitel des Buches «Städtebau als Kreuzzug Francos», dann den Titel des Schlusskapitels, das die Ergebnisse synthetisieren soll «Städtebau unter Franco. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln». Schließlich wird noch eine zentrale Aussage diskutiert: «Der Städtebau […] erweist das Re­gime als offen repressive Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs» (S. 341). Der Wunsch bezieht sich auf eine Erweiterung der Abschnitte zur „Infrastruktur der Unterdrückung“. Wer kein besonderes Interesse an kleinteiligen Auseinandersetzungen um Worte und Begriffe hat, mag diesen Teil der Rezension überspringen, und gleich zum Fazit übergehen.

(1) Der Haupttitel des Buches «Städtebau als Kreuzzug Francos» ist irritierend, zumal die Autoren nicht explizieren, wie der Titel verstanden werden soll. Ein deutscher Leser mag zunächst an die Kreuzzüge des Mittelalters denken. Im Kontext der Franco-Diktatur stammt der Begriff Kreuzzug (cruzada) ohne Frage aus der ideologischen Kiste des Nationalkatholizismus, und wurde verwendet, um damit den Kampf der Aufständischen gegen die Zweite Republik und den Sieg im Bürgerkrieg zu sakralisieren. Cruzada ist in dem ideologischen Kontext ein Synonym für den Bürgerkrieg. Nach der cruzada beginnt eine neue Etappe, die auch von den Protagonisten und Propagandisten der Diktatur nicht mehr als cruzada bezeichnet wird. Den Worten der Sektion Architektur der Falange aus dem Jahr 1939 folgend, stand nach dem Kreuzzug das «großartige Problem des Wiederaufbaus Spaniens» (vgl. S. 340) an. Nach dem militärischen Sieg kam es darauf an, die Herrschaft zu sichern. Damit war durchaus auch die Aufgabe verbunden, wie man bei den Autoren lernen kann, die neue Herrschaft im ganzen Territorium mit Mitteln des Städtebaus zu manifestieren, durch neue Straßennamen, Gedenktafeln, Monumente des Sieges, Sakralbauten, Wiederaufbau zerstörter Städte, Stauseen, Neudörfer, Arbeiteruniversitäten und anderes mehr. Von daher wäre ein Titel, der die Sicherung der diktatorialen Herrschaft durch den Städtebau direkt zum Ausdruck gebracht hätte, möglicherweise treffender gewesen.

(2) Die Überschrift des letzten, die Ergebnisse der Untersuchung resümierenden Kapitels «Städtebau unter Franco. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln» (S. 340) ist sicherlich aufrüttelnd gemeint, bringt aber die wesentlichen Einsichten der Studie gar nicht auf den Punkt. Die Nachkriegszeit in Spanien war geprägt durch Massenarmut, politische Verfolgung, Staatsterror und Massenmord, Ausbeutung durch Zwangsarbeit sowie weitere Formen sozialer Ausgrenzung und Exklusion der ehemaligen Gegner. Von daher kann metaphorisch durchaus von einer Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln gesprochen werden. Aber realiter fanden die Untaten und zahllosen Menschenrechtsverletzungen des Franquismus in diesen Jahren gerade nicht mehr in einem Krieg statt, der immer zwei bewaffnete Lager, die sich im Kampf befinden, voraussetzt. Das war hier nicht mehr der Fall und deshalb wiegen diese Verbrechen noch schwerer. Die Drastik der gewählten Metapher erweist sich gegenüber der Realität als noch zu harmlos.

Herrschaftssoziologisch ging es nach 1939 in erster Linie um Herrschaftssicherung und Veralltägli­chung der im Krieg aufgebauten charismatischen Herrschaft Francos im Interesse seiner Anhänger, um die Erweiterung der sozialen Basis des Regimes und um die Integration weiterer, für die Stabilisierung der Herrschaft wichtiger Kreise. In der problematisierten Überschrift kommt die Wechselbeziehung von Repression und sozialer Integration nicht mehr zum Ausdruck. Die offenkundige Re­pression derer, die auf Seiten der Republik gekämpft hatten, erzeugte auch einen außerordentlicher Anpassungs- und Konformitätsdruck bei allen anderen. Es war die Angst vor Repressalien im Verein mit Aussichten auf verbesserte Lebenschancen, die das Regime einsetzte, um seine soziale Basis zu erweitern.

Der Städtebau ist das Paradebeispiel, wie Repression und Integrationsangebote in der Praxis der Diktatur zusammen gehörten. Auf der einen Seite steht die Errichtung einer «Infrastruktur der Unterdrückung», der massive Einsatz von Zwangsarbeit im Baubereich und bei der Verbesserung der städtischen und ländlichen Infrastruktur, der Ausschluss von günstigem Wohnraum und Land, und die große Armut im ganze Lande, die deutlich an den vielen Elendsvierteln ablesbar ist und auf einen unsozialen Wohnungsbau hinweist. Auf der anderen Seite war die Diktatur bestrebt, ihre Gefolgschaft zu bedienen und auszuweiten: das fängt beim modernisierenden Wiederaufbau zerstörter Städte an und dem Bau anständiger Stadtwohnungen für die Bürokratie des Neuen Staates und die Mittelschichten, die man zu gewinnen hoffte. Das setzt sich in der Binnenkolonisation mit den zahlreichen Neudörfern für die integrationswillige Landbevölkerung fort und zeigt sich ebenso beim Bau der Arbeiteruniversitäten für den Elitenachwuchs aus kleinen Verhältnissen. Das Überraschende ist am Ende, wie durchdacht und politisch zielge­richtet die Eliten die verschiedenen Funktionen des Städtebaus zur Stabilisierung ihrer Herrschaft zu nutzen wussten. Das ist die wichtige Erkenntnis der Autoren, die in der Überschrift und der Rede von der «Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln» verloren geht.

(3) Auch der Begriff der «Entwicklungsdiktatur», den die Autoren zur Charakterisierung dieser frühen Phase der Diktatur ins Spiel bringen, ist zu diskutieren: «Der Städtebau […] erweist das Re­gime als offen repressive Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs» (S. 341).

Zum einen kann argumentiert werden, dass seit den Jahren des Regenerationismus alle spanischen Regierungen sich mit dem Problem nachholender Entwicklung konfrontiert sahen. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Entwicklungsgedanke zwar im Diskurs der Falange eine bedeutende Rolle spielte, dass die Realität des Franquismus als Regime aber durchaus auch andere Prioritäten kannte, wie von den Autoren selbst an zwei Beispielen aufgezeigt wurde: dem Scheitern des geförderten Mietwohnungsmodells zugunsten privater Bauunternehmer und den Bewässerungsmaßnahmen zugunsten von Großgrundbesitzern.

Drittens, nur im Städtebau war es möglich gewesen, mit wenig technisierten Methoden, traditionellen Materialien und Bauweisen (ohne Stahl und Beton), guten Architekten, viel Handarbeit und Zwangsarbeit qualitativ hochwertige Ergebnisse hervorzubringen. Dieses low-tech-Modell war nicht auf andere Sektoren, mit anderen technischen und qualifikatorischen Voraussetzungen für Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, übertragbar. Aus den Leistungen im Städtebau und Infrastrukturaus­bau lässt sich deshalb nicht auf die allgemeine Entwicklung der Wirtschaft schließen und von daher qualifiziert sich auch das Regime als Ganzes nicht als Entwicklungsdiktatur. Anders gesagt: Nur im von den entwicklungspolitischen Vorstellungen der Falange geprägten Sektor des Städtebaus wurde das Modell einer offen repressiven Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs mit einem gewissen Erfolg umgesetzt. Die Erfolge auf dem Sektor Städtebau reichen, so die hier vertretene Ansicht, nicht aus, um das Regime insgesamt als Entwicklungsdiktatur zu erweisen.

Man kann sogar noch weiter gehen: die Produktivität in Landwirtschaft und Industrie war im frühen Franquismus extrem niedrig und blieb es. Das Wirtschaftsmodell insgesamt scheiterte. Die staatlich gelenkte Wirtschaft geriet 1956 in eine systemgefährdende Krise, aus der erst eine neue wirtschaftsliberale Politik herausführte, mit neuem politischen Personal, Stabilisierungsplan, veränderter Ideologie und Inte­gration in die Weltwirtschaft, Investitionen aus dem Ausland, Arbeitsemigration etc. (vgl. zur Tiefe der Krise Anna Catharina Hofmann: Fran­cos Moderne. Technokratie und Diktatur in Spanien 1956-1973. Göttingen 2019: Wallstein Verlag). In der Literatur wird bezogen auf den Franquismus deshalb meistens erst für die Zeit nach 1959 von Entwicklungsdiktatur gesprochen, wobei es durchaus strittig ist, ob damit nur auf die Selbstbeschreibung, also die neue Legitimationsideologie des desarrollismo, abgezielt wird, oder gemeint ist, der späte Franquismus sei politologisch und herrschaftssoziologisch korrekt als Entwicklungsdiktatur zu bezeichnen.

Viertens und abschließend: Es ist bemerkenswert und wichtig, dass in dem Buch auch die bauliche Infrastruktur der Unterdrückung und die Bedeutung der Zwangsarbeit für den Städtebau thematisiert wird – insbesondere in den Ka­piteln über Madrid, Barcelona und das Tal der Gefallenen. Dieser Themenkomplex könnte weiter ausgebaut werden, indem ausführlich auf die Errichtung und die Nutzung der zahlreichen Lager (von 194 Konzentrationslagern ist die Rede, S. 166) eingegangen würde. Auch wenn die Stadtforscher das nicht als ihr Aufgabengebiet sehen würden, wären doch mehr Informationen zu den zahlreichen informellen Siedlungen (vulgo Slums oder chabolas) und der darauf bezogenen Politik durchaus wünschenswert, um das gesamte Wohnungswesen im frühen Franquismus besser zu überschauen.

9. Fazit

Das Werk kann nicht nur jedem, der sich wissenschaftlich für den Städtebau und gesellschaftliche Entwicklungen in Spanien interessiert, sondern auch einem breiteren Publikum zum Schauen, Lesen und Studieren empfohlen werden. Der Stil ist sachlich-nüchtern, der Aufbau gut durchdacht und das Lektorat muss außerordentlich sorgfältig gearbeitet haben. Es ist in dieser detailreichen Studie außerordentlich viel über den Städtebau Spaniens von 1938 bis 1959 in seinen zahlreichen Facetten und Funktionen zu erfahren, wobei gerade auch auf fast vergessene Themen, wie die Binnenkolonisation oder die Arbeiteruniversitäten, ausführlich eingegangen wird. Für die unterschiedlichen städtebaulichen Handlungsfelder wird herausgearbeitet, wie der Städtebau als Herrschafts­mittel im Franquismus eingesetzt wurde. Die überzeugende Verzahnung von Städtebau und Herr­schaftsform ist ein besonderes Verdienst der Arbeit. Herauszustellen ist aber auch, dass die Autoren die Vielfalt der anzutreffenden Baustile und Stadtanlagen herausarbeiten und erklären. Da­bei spielen die nicht dem präferierten Stil der Falange verpflichteten Architekten eine große Rolle, die einerseits Kontinuität zum Vor-Franco-Städtebau herstellen konnten, und die andererseits die internationale Fach­diskussion und Entwicklungen im Städtebau anderer europäischer Diktaturen kannten und berücksichti­gen konnten. Schließlich soll noch einmal betont werden, dass die Autoren das Studium der Städteb­augeschichte mit der aktuellen Frage verbinden, wie mit dem baulichen Erbe des Franquismus umgegangen wird oder werden sollte.

Dem Buch sind viele Leser zu wünschen, und es wäre zu hoffen, dass es in der deutschsprachigen aber auch in der spanischen Fachöffentlichkeit (und darüber hinaus) Resonanz erzeugte und einge­hend diskutiert würde. Auf den Listen der besten Sachbücher hätte diese Studie einen her­ausragenden Platz verdient.


Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hrsg.):
Städtebau als Kreuzzug Francos. Wiederaufbau und
Erneuerung unter der Diktatur in Spanien 1938–1959
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Berlin: DOM Publishers 2021, ISBN: 978-3-86922-527-2