Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur

Zwanzig Mosaiksteine für ein ungeschöntes Spanienbild

Rezension von Knud Böhle


1. Einleitung

Das Ibero-Amerikanische Institut (IAI) der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin gibt die Schriftenreihe Bibliotheca Ibero-Americana heraus, zu der auch die »heute«-Bände gehören, die Handbuchcharakter beanspruchen (S. 675). Die 6., vollständig neu bearbeitete Auflage von »Spani­en heute. Politik, Wirtschaft, Kultur«, ist im Herbst 2022 erschienen ‒ herausgegeben von den bei­den Fachhistorikern Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel. Redaktionsschluss war im Frühjahr 2022.

Der Sammelband wurde noch unter dem Eindruck der Covid-19 Pandemie abgeschlossen, und in vielen Beiträgen wird deshalb die Bedeutung von Covid-19 für das jeweilige Themenfeld mitreflek­tiert. Ein Beitrag beschäftigt sich sogar ausschließlich mit der Bewältigung und den Folgen der Pan­demie in Spanien. Was heute (Juli 2023) die Öffentlichkeit besonders bewegt, der Krieg in der Uk­raine, die Hitzewellen in Südeuropa als Folge des Klimawandels und das Erstarken der politischen Rechten bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai und bei den vorgezogenen Neuwahlen am 23. Juli, das liegt mithin schon außerhalb des Beobachtungszeitraums des Bandes.

Der Wert von »Spanien heute« liegt trotz des Titels selbstverständlich nicht im Tagesaktuellen. Der Band bietet eine Bestandsaufnahme, die zeigt, in welcher Lage die spanische Gesellschaft sich An­fang 2022 befand und vor welchen Aufgaben sie heute steht. Das impliziert fast immer einen Blick zurück, der verstehen lässt, wie sich die spanische Gesellschaft zwischen 1975 und 2022 verändert hat. Insbesondere die gravierenden Einschnitte durch eine Mehrfachkrise (Finanz-, Wirtschafts-, Immobilien-, Arbeitsmarkt- und Katalonienkrise) sind für die Dynamik ab 2008 bedeutsam.

Handbuchcharakter im engeren Sinn haben nur wenige Beiträge, wenn damit die systematische, um Objektivität bemühte, alle Seiten abwägende und zum Nachschlagen geeignete Darstellung eines Wissensbereichs gemeint ist. Präzise wäre von einer Auf­satzsammlung zu sprechen, bei der sich die Beiträge wie Mosaiksteine so ergänzen sollen, dass ein Ge­samtbild entsteht. Durch den Aufsatzcharakter treten die spezifischen Annahmen und Ansichten der jeweiligen Autor:innen stärker in den Vordergrund als das bei einem klassischen Handbuch der Fall wäre. Die zwanzig Beiträge samt weiterführenden Literaturhinweisen, im Durchschnitt etwa 30 Druckseiten lang, wurden zum größten Teil von Wissenschaftlern und Journalisten verfasst. Drei der zwanzig Aufsätze stammen aus spanischer Feder. Von den Autoren der vorherigen 5. Aufla­ge aus dem Jahr 2008 sind lediglich fünf noch an der aktuellen Auflage beteiligt.

Die Autor:innen waren trotz gewisser Vorgaben offenkundig relativ frei, die Abgrenzung des jewei­ligen Themas, die Art ihres Herangehens und die Darstellungsweise selbst zu bestimmen. Für die Leser:innen bedeutet das, dass manche Beiträge leichter zu lesen sind und weniger Vorwissen ver­langen als andere. Für ein Buch, das »nicht nur an Wissenschaftler:innen« (S. 675), sondern an ein breiteres Publikum gerichtet ist, erscheint diese Mischung sinnvoll. Auf dem deutschen Sachbuch­markt zu Spanien gibt es kein anderes Werk, das solch eine thematische Breite aufweist. Nicht alle Leser:innen werden sich für jeden Beitrag interessieren, und deshalb trifft auch für diesen Sammel­band zu: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

Im Folgenden werden nicht alle Beiträge einzeln vorgestellt, und auf Inhalte und Argumentationen der Aufsätze wird nur ganz punktuell eingegangen. Den ausführlichen und komplex argumentieren­den einzelnen Beiträgen wird dieses Vorgehen selbstverständlich nicht gerecht. Durch die Präsenta­tion ausgewählter Daten, Befunde und Hypothesen sollen jedoch Anreize gesetzt werden, sich das Buch oder einzelne Aufsätze einmal selbst vorzunehmen.

Die vorliegende Buchbesprechung folgt nicht der Gliederung des Bandes (vgl. dazu das Inhaltsverzeichnis). Den Ausgangspunkt der Rezension bildet die spanischen Wirtschaft, wobei ihre gravierenden Strukturschwächen und die besonderen Bedeutung der Sektoren Tourismus und Landwirtschaft zur Sprache kommen. Danach werden Defizite des politischen Systems und die Rol­le der Vierten Gewalt im Kontext der spanischen Demokratie problematisiert.

Daran anschließend werden unter der Überschrift »Das bewegte Spanien« die neuen Bewegungen angesprochen, die die politische Landschaft nach 2008 veränderten. Unter dieser Überschrift wer­den auch zwei zivilgesellschaftliche Bewegungen behandelt, die LGTBIQ-Bewegung und die para­digmatisch durch die ARMH (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica) verkör­perten Bürgerinitiativen für die Anerkennung der Opfer von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur. Un­ter dem Aspekt der gesellschaftlich relevanten Bewegungen seit 2008 wird außerdem auf die Be­deutung der Kirche eingegangen.

Im Anschluss daran wird eine ganz anders gelagerte »Bewegung«, die Spanien verändert hat, be­handelt: die Migration. Zuletzt wird noch ein Thema des »bewegten Spaniens« aufgegriffen, das Viele bewegt hat und bewegt: der Nationalismus in Spanien: der spanische, baskische und katalani­sche und die damit zusammenhängenden Konflikte der politisch-territorialen Ordnung.

Im Fazit (Abschnitt 6) wird auf Basis der Lektüre aller Beiträge ein Gesamtbild der spanische Ge­sellschaft en miniature skizziert und eine resümierende Beurteilung des besprochenen Werkes gege­ben.

2. Zur spanischen Wirtschaft

2.1 Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik

Holm Detlev Köhler unterzieht die spanische Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik einer har­schen Kritik. Er spricht von den aus Zeiten des Franquismus geerbten strukturellen Schwächen und Defiziten, die während der Demokratie nicht abgeändert wurden, und teilweise mit verantwortlich seien für die Krise von 2008-2013. Das folgende Zitat verdeutlicht seine Kritik:

Die spanische Wirtschaft hat seit der nachholenden Industrialisierung in den 1960er Jahren ein Spezialisierungsprofil mit Schwerpunkten auf niedrig qualifizierten und sai­sonabhängigen Berufen und Branchen herausgebildet. Sozialstaat, Erziehung und Be­rufsbildung blieben unterentwickelt, die Banken unzureichend kontrolliert und auf die Immobilien- und Finanzmärkte konzentriert, Tarifparteien und Verhandlungen frag­mentiert, die staatlichen Verwaltungen schwach koordiniert und von korrupt-klientilis­tischen Praktiken durchzogen, die politischen Parteien unsolide finanziert und von der Zivilgesellschaft mit wenig Vertrauen bedacht, die Betriebsgrößenstruktur extrem pola­risiert… (S. 360).

Ein effizientes Wirtschafts- und Entwicklungsmodell müsste folglich ganz anders orientiert sein: weg von dem energieintensiven, kreditfinanzierten Konsummodell mit Tourismus und Immobilien als Leitsektoren hin zu einem innovations- und wissensbasierten nachhaltigen Investitionsmodell (S. 359). Mit einer solchen Umstrukturierung rechnet Köhler jedoch nicht: »… die Entsagung von jeglicher industrieller Strukturpolitik in den letzten Jahrzehnten macht eine notwendige Neuausrich­tung des Entwicklungsmodells unmöglich« (S. 360).

Ein Skandal ist immer noch die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die auf der Höhe der Krise 2013 bei über 50% lag und auch heute noch deutlich über 25% liegt. Dieser Befund ist mehr als nur eine ökonomische Kennziffer: »Der Ausschluss vom Erwerbsleben der Generation, die eigentlich die Zukunft Spaniens gestalten müsste, untergräbt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Erziehung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Kultur« (S. 354).

2.2 Tourismus

Aktuell ist die hohe Relevanz der Sektoren Tourismus und Landwirtschaft im Wirtschaftsgefüge nicht zu leugnen. Raimund Allebrand weist in seinem Beitrag auf die enorme wirtschaftliche Be­deutung des Tourismussektors hin, der 2019 13% des BIP (Bruttoinlandsprodukt) ausmachte und eine Million Beschäftigte verzeichnete. Die tatsächliche Bedeutung des Fremdenverkehrs im BIP wäre aber gegenüber den statistischen Daten, die sich lediglich auf das primäre Tourismusgeschäft innerhalb des Dienstleistungssektors beziehen, noch mehr als zu verdoppeln. Ähnliches gelte für den Anteil der spanischen Tourismusbranche am Arbeitsmarkt. Der indirekte Anteil dürfte rund das Dreifache betragen (S. 459). Bei den indirekten Effekten wäre beispielsweise an Bahnstrecken zu denken, die erst durch den Tourismus rentabel werden oder an Dienstleister wie Wäschereien, die ohne Aufträge von Hotels schließen müssten.

Gleichwohl ist Allebrand die »fatale Abhängigkeit« der spanischen Wirtschaft vom Fremdenverkehr durchaus bewusst. Die spanische Tourismusindustrie habe zwar ihre Fixierung auf Strand und Son­ne hinter sich lassen können und sich erfolgreich diversifiziert, müsse aber noch weiter nach Per­spektiven für eine nachhaltige Entwicklung suchen. »Klima« so der Autor, »wird zukünftig der ent­scheidende Überlebensfaktor für den Fremdenverkehr sein« (S. 433).

2.3 Landwirtschaft

In dem höchst informativen Beitrag von Sabine Tzschaschel wird die sich verändernde Landnut­zung in Spanien auch mit Blick auf die Landwirtschaft und die Folgen der Landflucht faktenreich analysiert. Der Artikel befasst sich des Weiteren auch mit Fragen der Wasserwirtschaft und des Aus­baus erneuerbarer Energien. Jedes dieser Themen hätte eigentlich einen eigenen ausführlichen Bei­trag in dem Sammelband verdient. In dieser Rezension soll es indes nur um die Bedeutung der Landwirtschaft für die spanische Ökonomie gehen, die an folgenden Zahlen ablesbar ist (S. 407ff.).

50% der Fläche Spaniens sind heute noch Agrarland. Der Beitrag der Landwirtschaft zum BIP liegt bei 2,7% und ist damit doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt. 4% der Beschäftigten, 750.000 Personen, sind in 945.000 landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt. Spanien ist der siebtgrößte Exporteur von Agrarprodukten weltweit. Obst und Gemüse, Wein, Oliven, Käse, Fleisch sind die einschlägigen Exportgüter. Extensive Weidewirtschaft auf kargen Böden spielt eine gewisse Rolle und wird als ökologisch sinnvoll eingeschätzt. Die Lebensmittelverarbeitung ist der wichtigste Industriesektor Spaniens mit ca. 500.000 Beschäftigten und 30.000 Betrieben.

Seit einiger Zeit wird das ländliche Spanien als »entleertes Spanien« problematisiert. Nach der frü­heren Kritik an den industriellen Ballungszentren und den zersiedelten Küstenregionen kamen die Probleme des entleerten, ländlichen Binnenlands erst relativ spät zu Bewusstsein. Die Industrialisie­rung seit Ende der 1950er Jahre und die Mechanisierung der Landwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren hatten zur Entleerung des ländlichen Raums geführt. Heute leben in diesem ländli­chen Spanien geschätzte fünf Millionen Spanier:innen ohne ausreichende Grundversorgung und ohne gleiche Lebenschancen. In dem Zusammenhang, auch darauf weist Tzschaschel hin, kam be­merkenswerterweise einem Essay über »Das leere Spanien« (Sergio del Molino 2016; auf Deutsch 2022) eine Initialfunktion zu, da es ihm gelang, die Aufmerksamkeit für das Thema spürbar zu erhöhen und zur Mobilisierung der benachteiligten Regionen, der España vaciada, beizutragen.

3. Zum politischen System

3.1 Polarisierung und Lagerbildung als Problem

Günther Maihold legt eine rigorose Analyse der Probleme des politischen Systems Spaniens vor, die seit den Krisenjahren ab 2008 zugenommen und sich verfestigt hätten. Eine seiner Generalthe­sen ist, dass der frühere Grundkonsens der spanischen Gesellschaft zusehends erodiert und sich eine wachsende Polarisierung bemerkbar macht (S. 42). Die entscheidenden Gründe werden darin gesehen, dass die vermeintlichen Garanten der nationalen Identität und des Zusammenhalts, die Monarchie und die Verfassung von 1978, nicht das geleistet hätten, was von ihnen erhofft oder er­wartet wurde. Die Monarchie als Institution sei durch das Verhalten der Monarchen, besonders durch das Fehlverhalten von Juan Carlos I, geschwächt. Die Verfassung des Autonomiestaats kranke weiter an ihren Geburtsfehlern, die nicht korrigiert wurden. Das Konstrukt eines asymmetrischen Autonomiestaats mit Sonderrollen für die historischen Nationalitäten (Katalonien, Baskenland, Ga­lizien) habe nicht zu einem die Einzelinteressen der Regionen und Nationalitäten übergreifen­dem, integrierendem Verfassungspatriotismus geführt. Dazu komme ein Senat, der »aufgrund seiner unvollständigen Rolle als echte zweite Kammer für den Ausgleich der ver­schiedenen Interessenssphären zwischen den unterschiedlichen Gebietskörperschaften dysfunktio­nal geblieben« sei (S. 26).

Polarisierung und Lagerbildung seien zum gravierenden Problem der politischen Kultur geworden. Polarisierung taucht übrigens wie ein Leitmotiv in vielen Beiträgen des Bandes auf. Maihold weist speziell auf die Konfrontationsstrategien der Parteien hin, die auf Polarisierung statt auf Konsens setzten, und er weist auf die Politisierung der Justiz hin, wo die Besetzung hochrangiger Posten und politische Lagerzugehörigkeit häufig zusammen gehen.

Auch im Beitrag von Nicolaus Werz »Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontatio­nen« ist das Leitmotiv der politischen Konfrontation deutlich zu vernehmen. In gut lesbarer Form werden die Regierungen ab 2004 und die Umstände der jeweiligen Regierungswechsel bis 2020 charakterisiert. Korruptionsskandale spielen dabei keine unwesentliche Rolle. In den Zeitraum fällt auch die Diversifizierung der Parteienlandschaft ab 2013, wobei nach Werz, die »Links-Rechts-Achse im spanischen Parteiensystem« trotzdem äußerst stabil geblieben sei (S. 65). Zugenommen habe aber mit dem Auftreten der links-populistischen Podemos und der rechtspopulistischen Vox die Polarisierung und ein zugespitztes Freund-Feind-Denken (S. 66).

3.2 Medien und Demokratie

Mit der so-genannten Vierten Gewalt, den Medien, befasst sich Helene Zuber. Auch auf diesem Feld findet sich das Element der politischen Einflussnahme und der Polarisierung. Ab Mitte der 1990er Jahre hätten die Journalisten nicht mehr überparteilich berichten können, sondern sich der parteipolitischen Ausrichtung ihrer Geldgeber unterordnen müssen (S. 606f.). Folglich konnten spa­nische Zeitungsleser sich meist »nur noch ein ausgewogenes Bild über die Realität in der Gesell­schaft machen, wenn sie verschiedene Blätter kauften, die unterschiedliche politische Ausrichtun­gen vertraten« (S. 608). Was für den Zeitungsbereich gelte, sei auch bei den audiovisuellen Medien zu beobachten. Beim Privatfernsehen führten Fusionen von Sendern unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung unter dem Dach eines Unternehmens zum Verlust an Vielfalt.

Dazu käme, dass immer mehr Spanier in Medienblasen feststeckten, was eine weitere Ursache für die immer stärkere Polarisierung der Gesellschaft sei (S. 618). Komplementär dazu ist die folgende Einschätzung zu sehen: »Früher beobachteten Journalisten die Realität, in der Ära des Digitalen beobachten sie, wie die Aktualität in den sozialen Netzwerken beobachtet wird. Diese Meta-Obser­vation, die typisch ist für viele spanische Medien, gefährdet die Demokratie« (S. 619).

Erschreckend ist zu sehen, wie hart die Wirtschaftskrise gerade die Presse getroffen hat. Zum Bei­spiel wurden für die auflagenstärkste Tageszeitung Spaniens, El Pais, 2007 noch 435.083 Tagesver­käufe, 2021 dagegen bloß noch 74.370 verzeichnet (S. 612).

3.3 Vergangenheitsbewältigung

Walther L. Bernecker hat sich schon viele Jahre intensiv mit der Vergangenheitsbewältigung (me­moria histórica) in Spanien befasst und tut das auch in seinem fundierten Beitrag zu dem vorliegen­den Band. An dieser Stelle soll wieder nur auf einen Aspekt abgestellt werden, nämlich dass gerade die Vergangenheitsbewältigung zu einem zentralen Zankapfel der politischen Polarisierung gewor­den ist. Viele Jahre hatten die politischen Eliten nach Francos Tod 1975 »in der Frage der Ver­gangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung« an den Tag gelegt (S. 174). Die Amnes­tie von 1977, so das beliebte Wortspiel, ging mit politischer Amnesie einher.

Die Politisierung und Polarisierung setzte in der Regierungszeit José María Aznars ein, und ist sichtbar geworden an der Weigerung des konservativen Partido Popular, an der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuwirken und diese sogar nach Kräften zu behindern (S. 178, 181). Mit der Grün­dung der Partei Vox (2013) nahm der Geschichtsrevisionismus der rechten Kräfte weiter zu: »Jahr­zehnte intensiver historischer Forschung werden beiseitegeschoben, altfranquistische Mythen wer­den in neofranquistischem Gewand als historische Wahrheiten präsentiert.« (S. 195). Auf der ande­ren Seite haben die von dem PSOE (Partido Socialista Obrero Español) geführten Regierungen Ge­setze durchgebracht ‒ 2007 das »Gesetz zur historischen Erinnerung« (Ley de Memoria Histórica) und 2022 das »Gesetz zur Demokratischen Erinnerung« (Ley de Memoria Democrática) ‒, die zwar nicht allen weit genug gehen, die allerdings den Unrechtscharakter des Franco-Regimes eindeutig feststellen, die Präsenz des Franquismus im öffentlichen Raum zurückdrängen sollen und die An­sprüche der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur anerkennen.

An dieser Stelle ist auf den Beitrag Dieter Ingenschays zur »Literatur als Reflex gesellschaftlicher Debatten« hinzuweisen, der unter anderem den Boom der neueren Bürgerkriegsliteratur (1985-2010) behandelt. Die Bürgerkriegsliteratur ab 2000 erweist sich dabei als engagierte Literatur, die sich in die politische und geschichtswissenschaftliche Diskussion einklinkt, und dadurch selbst »Teil dieser Auseinandersetzung geworden« ist (S. 574).

4. »Das bewegte Spanien«

4.1 Protestbewegungen und neue Parteien

Auf die strukturellen Probleme und die Folgen der Krise (2008-2014) hat die Gesellschaft, wie Ju­lia Macher, Journalistin mit Wohnsitz in Spanien, aus eigener Anschauung weiß, mit einem Politi­sierungs- und Mobilisierungsschub reagiert, der in der »Bewegung gegen Zwangsräumungen« (Plattform der Hypothekengeschädigten), der »Bewegung der Empörten« (15-M) und der »Munizi­palbewegung« sichtbaren Ausdruck fand. Mit dem Abflachen der Krise, so ihre Beobachtung, wur­de, was als außerparlamentarische Bewegung begann, zunehmend in das etablierte politische Sys­tem integriert. Aus Podemos, die als »links-populistische« Bewegungspartei begann, wurde im Lau­fe der Jahre eine »klassische linke Partei« (S. 383), wodurch sie für bestimmte politisch linke Krei­se an Attraktivität verlor. Die Frage des Rezensenten, ob Podemos denn als Bewegungspartei auf Dauer hätte erfolgreich bleiben können, wird nicht erörtert.

Auf Ebene der Lokalpolitik hat sich die »Munizipalbewegung« nur in wenigen Städten halten kön­nen und konnte die politischen Verhältnisse nicht tiefgreifend verändern (S. 384f.). Zu den Folgen der Krise gehört aber auch die Gründung der rechtsextremen Partei Vox im Jahr 2013, die »vor al­lem von den Nachbeben des Katalonien-Konflikts« profitierte und »versuchte gesellschaftlichen Unmut in politisches Kapital umzumünzen« (S. 386).

4.2 Frauen- und LGTBIQ-Bewegung

Die Entwicklung der Frauenbewegung und der LGTBIQ-Bewegung seit den 1970er Jahren erläutert Werner Altmann kenntnisreich. Sie »erkämpften sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte ihre Ent­kriminalisierung und eine gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichstellung, wie es sie noch nie in der spanischen Geschichte gegeben hat« (S. 269). Die Resonanz der LGTBIQ-Bewegung in der spanischen Literatur wird übrigens in dem bereits erwähnten Beitrag von Dieter Ingenschay behan­delt (S. 583-589).

In vieler Hinsicht nimmt Spanien in Europa, nicht nur wegen der hohen Demonstrationsbereitschaft seiner Bürger:innen eine besondere Rolle ein. Allein in Madrid sollen nach offiziellen Angaben rund 120.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Weltfrauentag 2020 – trotz Pandemie – auf den Beinen gewesen sein (S. 294). Eine Vorreiterrolle ist auch auf der gesetzgeberischen Seite feststell­bar. Vor allem unter dem sozialistischen Präsidenten José Luis Rodríguez Zapatero (2004 – 2011) wurde Grundlegendes rechtlich neu geregelt. Stichworte sind hier: Schutz vor häuslicher, machisti­scher Gewalt, Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht, künstliche Befruchtung und Präimplantationsdia­gnostik sowie Gleichstellung von Mann und Frau (S. 289-291).

Altmann weist auf innere Konfliktlinien und äußere Bedrohungen hin. Die sich seit Ende der 90er Jahre ausbreitende Identitätspolitik, habe »zu einer Entsolidarisierung der Frauen und sexuellen Minderheiten innerhalb der eigenen communities und gegenüber anderen marginalisierten gesell­schaftlichen Gruppen« geführt (S. 301). Hass in den sozialen Netzwerken und die Gegnerschaft der extremen Rechten setzen diesen Bewegungen von außen zu.

4.3 Bürgerinitiativen zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung

Auf eine andere, wichtige soziale Bewegung kommt Walther L. Bernecker in seinem bereits ange­sprochenem Beitrag »Widerstreitende Erinnerungskulturen in einem gespaltenen Land« zu spre­chen. Die Regierungen nach 1975 kümmerten sich nicht um die Exhumierung, Identifizierung und würdige Bestattung der auf über 100.000 (S. 174) geschätzten Opfer von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur, die im Lande verstreut, anonym verscharrt worden waren. Sie zeigten kein Interesse an der »Aufklärung von politischen Morden und Massenhinrichtungen, die die Aufständischen während des Bürgerkrieges und danach an den Anhängern der Republik verübt« hatten (S. 174f.). Bürgerin­itiativen nahmen sich dann des Themas an. Die erste Initiative dieser Art ging im Jahr 2000 von Emilio Silva aus, führte zur Gründung der »Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erin­nerung« (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) und ähnlicher Platt­formen, die seitdem Druck auf die Regionalregierungen ausüben, endlich erinnerungspolitisch tätig zu werden (S. 181f.).

4.4 Katholizismus und andere Religionen

In den Kontext des bewegten Spaniens lässt sich auch die Frage einreihen, was und wen die Kirche in Spanien heute noch bewegt. Maihold stellt dazu fest, dass der »religiöse cleavage in der Gesell­schaft zunehmend an Bedeutung für das politische Leben« verloren hat (S. 32). Eingehend behan­delt Mariano Delgado die gegenwärtige Bedeutung von Kirche und Religion. Folgt man seinen Ausführungen, dann hat Spanien in der Tat, um es auf eine Kurzformel zu bringen, aufgehört, ka­tholisch zu sein. Religionssoziologisch ist Spanien heute »ein stark säkularisiertes, religiös pluralis­tisches Land mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit, die bei Umfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet wie die Katholiken anderer westlicher Länder« (S. 203f.).

Die meisten Spanier:innen können sicherlich noch als »Kulturkatholiken« angesprochen werden (S. 204). Für katholisch halten sich nach einer Umfrage aus dem Jahre 2021 nur noch 56,6%, wovon die wenigsten praktizierende Katholiken sind. Etwas mehr als 40% bezeichnen sich dagegen als nicht-gläubig, atheistisch, agnostisch oder gleichgültig. Gleichzeitig gibt es aber – trotz aller Auflö­sungserscheinungen des Katholizismus – ein Revival der Volksreligiosität, die etwa an der Attraktivität von Bruderschaften, Pilgerreisen, Wallfahrten, festlichen Taufen und Kommunionen sowie Tierseg­nungen abzulesen ist (S. 232).

Interessant sind die Zahlen zu den Anhängern anderer Glaubensbekenntnisse und Religionen: die Zahl der Protestanten wird auf 1,5 Millionen geschätzt, wovon mehr als die Hälfte freikirchlich oder evangelikal ausgerichtet sein dürften. Gerade bei Einwanderern aus Lateinamerika erfreuen sich diese Richtungen großer Beliebtheit (S. 219). Orthodoxe Christen, etwa 900.00, sind vor allem die rumänischen Einwanderer (S. 223). Dem Islam zugerechnet werden etwa 2,5 Millionen Personen, die hauptsächlich aus Marokko und Algerien stammen. Die Zahl der Juden wird auf etwa 65.000 geschätzt, wovon 45.000 organisiert sind.

Lagerdenken und die Polarisierung finden sich auch bei der Religionspolitik: Nach Delgado wird in keinem anderen Land Europas »um die Laizität des Staates so intensiv und ideologisch gestritten wie eben in Spanien seit der Wahl Zapateros im Frühjahr 2004« (S. 213). Dieser (in Anführungszei­chen) »ideologische Bürgerkrieg« werde erst zu Ende sein, wenn einerseits »die Kirche die von ihr 1975 selbst erwünschten Bedingungen der Moderne restlos akzeptiert« und andererseits die Laizis­ten »jede kulturkämpferische Attitüde des 19. Jahrhunderts endgültig hinter sich lassen« (S. 235).

4.5 Migration

Das Thema Migration wird von dem ausgewiesenen Spezialisten Axel Kreienbrink faktenreich und umsichtig behandelt. Zu begrüßen ist dabei, dass er das Thema nicht auf Asyl und illegale Migrati­on begrenzt, sondern Zu- und Abwanderung insgesamt adressiert. Eine gewisse Orientierung geben die folgenden Zahlen: Im Jahr 2019 erreichte die Zuwanderung nach Spanien einen Rekordwert von 750.000 Personen (S. 249). Insgesamt lag die Zahl der ausländischen Bevölkerung Spaniens Anfang 2020 bei 5,43 Millionen, was bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 47,33 Millionen einem Anteil von 11,5 % entspricht. Zählt man alle in Spanien lebenden Menschen, die nicht in Spanien geboren wurden, erhöht sich dieser Anteil sogar auf 15%.

Von den 5,43 Millionen stammten 34,6% aus der EU (40,1% Europa gesamt), 27,2% aus La­teinamerika (28,6% Amerika gesamt), 22% aus Afrika und 9,2% aus Asien. Die zehn wichtigsten Herkunftsländer waren Marokko (15,9%), Rumänien (12,3%), Kolumbien (5,0%), Vereinigtes Kö­nigreich (4,8%), Italien (4,6%), China (4,3%), Venezuela (3,5%), Ecuador (2,4%), Bulgarien (2,3%) und Honduras (2,2%) (S. 250).

Erst ab 2020 wurden Asyl und illegale Migration zum Problem (S. 245ff.). Hatte es 2015 nur 15.000 Asylanträge gegeben, waren es 2019 bereits 118.000 Anträge, von denen 81% von Lateinamerika­ner:innen (insbesondere aus Venezuela, Kolumbien und Mittelamerika) gestellt wurden. Dreiviertel dieser Anträge wurden abgelehnt, was aber in vielen Fällen nicht bedeutete, dass ein Bleiberecht verwehrt wurde. Die illegale Migration über das Mittelmeer, Ceuta, Melilla und die kanarischen In­seln wird für das Jahr 2016 auf 64.000 Personen beziffert. Davon kam ein Fünftel aus Marokko. Durch Kooperationsabkommen mit Marokko ging dieser Anteil bis 2019 auf die Hälfte zurück.

Die gute Botschaft lautet: Nationale wie internationale Umfragen der letzten drei Jahrzehnte haben für Spanien im Unterschied zu anderen EU-Staaten »eine positive, tolerante Sicht auf Einwanderin­nen und Einwanderer« ausgemacht. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Neigung zur Polarisie­rung diesen Politikbereich auf Ebene der Regierungspraxis bislang aussparte. Kreienbrink stellt für die Jahre 2008-2020 insgesamt eine weitgehende Kontinuität bei den politischen und rechtlichen Maßnahmen fest, unabhängig davon, welche Partei die Regierung bildete. Unterschiede in Einzelpunkten schließt das nicht aus. Und selbst für die sich rassistisch-fremdenfeindlich äußern­de und vor allem gegen Muslime aus arabischen Ländern polemisierende Partei Vox, gehört das Thema bislang nicht zum »Markenkern« (S. 261). Die Gefahr, dass über das Agieren von Vox auch dieses Politikfeld polarisiert wird, ist allerdings nicht zu übersehen.

5. Nationalismen in Spanien

5.1 Spanischer Nationalismus

Fragen des Nationalgefühls und nationaler Bewegungen bilden ein weiteres Kapitel des bewegten Spaniens, auf das im Folgenden eingegangen wird. Xosé Manoel Núñez Seixas befasst sich mit dem spanischen Nationalismus. Anders als sich vermuten ließe, meint er damit nicht nur den zentra­listischen, neo-franquistischen, anti-separatistischen, illiberalen Nationalismus, der zuerst in der Re­gierungszeit von Aznar verstärkt auftrat und heute paradigmatisch von der Partei Vox vertreten wird. Für Núñez Seixas kennzeichnet alle spanisch patriotisch nationalistischen Positionen, dass sie »die Verfassung von 1978 als die legitime Basis für den Erhalt der politischen und territorialen Einheit Spaniens« ansehen (S. 308) und den Artikel 2 der Verfassung zur territorialen Staatsstruktur nicht in Frage stellen. Der Artikel spricht von der »unauflöslichen Einheit der spanischen Nation als ge­meinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier« (zitiert nach Maihold in diesem Band, S. 22).

Vereinfacht darf man die Auffassung von Núñez Seixas wohl so verstehen, dass im spanischen staatsnationalistischen Diskurs für Separation und Sezession kein Platz ist. Unter dieser Prämisse sind dann durchaus verschiedene Konzepte entstanden, wie Vielfalt und Einheit zusammenzubrin­gen wären, etwa in Formeln wie »Nation aus Nationen«, »Land aus Ländern«, »vielfältiges Spani­en«, aber letztlich, so das Fazit, fehle es immer noch an einer tragfähigen Formel und an einfallsrei­chen theoretischen und politischen Lösungen (S. 326f.). Welche Lösung der Autor selbst favorisieren würde, bleibt offen. Wichtig festzuhalten ist auf jeden Fall der folgende Befund: »[…] im Alltag sind die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel« (S. 316) und in der Regel gibt es heute keinen »wirkli­chen Konflikt zwischen ‚ethnischen‘ Gruppen, auch nicht zwischen ‚einheimischen‘ Spaniern und nicht-europäischen Einwanderern« (ebd.).

5.2 Katalanischer Nationalismus und Katalonienkonflikt

Carlos Collado Seidel stellt die Frage, die Viele teilen werden, die auf den Katalonienkonflikt schauen: »Wieso strebt eine hoch industrialisierte Region, die im Rahmen einer demokratischen Verfassung über weitgehende Autonomie verfügt, mit derartiger Vehemenz in die Unabhängigkeit?« (S. 99). Detailliert und in gut nachvollziehbarer Weise zeichnet Collado Seidel den Konflikt zwi­schen Katalonien als Teil der spanischen Nation und Katalonien als eigener Nation nach ‒ von den Anfängen bis zu seiner permanenten Zuspitzung ab 2000 und insbesondere von 2010 bis 2017, dem Jahr des gescheiterten Sezessionsversuchs, dem eine gewisse Ernüchterung und Beruhigung folgte. Am Ende steht bei Collado Seidel die Annahme, dass der Konflikt nicht einfach rational zu lösen ist, da das spanische und das katalanische Nationsverständnis nicht vereinbar seien: »Aus spani­scher Perspektive ist Katalonien ein integraler Bestandteil der spanischen Nation, während aus kata­lanischer Sicht ein eigener, hiervon losgelöster nationaler Bezugsrahmen sehr wohl existiert« (127f.). Dazu kommt, dass Nationalismen sich »vor allem aus Emotionen und Projektionen« spei­sen und »damit rational nicht zu fassen sind« (ebd).

Dem möchte der Rezensent hinzufügen, dass die zitierte katalanische Sicht in ihrer separatistischen Variante ‒ nach den Zahlen, die bekannt sind ‒, nicht von der Mehrheit der in Katalonien lebenden Bevölkerung geteilt wird. 1976, im ersten Jahr nach Francos Tod, sprachen sich Umfragen zufolge nur zwei Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit aus, im Jahr 2006 erst 14% (Zahlen nach B. Aschmann: Beziehungskrisen, 2021 und M. Clua i Fainé: Identidad y política en Cataluña, 2014). Die als relativ hoch angenommene Zustimmung zur Option einer Abspaltung ab 2013 ist mithin kein natürliches Faktum, sondern das Ergebnis eines politischen und sozialen Prozesses (mit einer langen Vorgeschichte). Das Hochkochen nationalistischer Emotionen in Katalonien hat schon meh­rere Konjunkturen erlebt. Die jüngste Konjunktur und Krise sollte nicht allein auf rational nicht zu fassende Emotionen zurückgeführt werden, wenngleich diese für ihre Dynamik wesentlich waren. Denn die Zuspitzung hing nicht zuletzt vom Kalkül und Agieren bestimmter politischer Akteure auf gesamtstaatlicher und katalanischer Ebene ab, denen an politischer Polarisierung gelegen war. Von der Verschwörung der verantwortungslosen Verantwortlichen sprach der Kolumnist und Schriftstel­ler Jordi Amat in diesem Zusammenhang (vgl. seinen Essay »La conjura de los irresponsables«, 2018). Auch das gehört zur Antwort auf die von Collado Seidel eingangs gestellte Wieso-Frage dazu.

5.3 Baskischer Nationalismus und das Ende des ETA-Terrorismus

Den Fall des baskischen Nationalismus von 2005 bis 2021 behandelt Ludger Mees ausführlich und mit großer Sachkenntnis. Hier wird nur ein Punkt herausgegriffen: das definitive Ende des ETA-Terrorismus nach einem halben Jahrhundert politisch motivierter Gewalt. Es ist interessant, dass für das Ende der Gewalt nach Ansicht von Mees eine Persönlichkeit von besonderer Bedeutung war: Arnaldo Otegi, der heutige Koordinator des linksnationalistischen Parteienverbands EH Bildu. Ihm wird wesentlich das Verdienst zugeschrieben, einen Wandel im Denken der radikalen baskischen Nationalisten bewirkt zu haben mittels eines Narrativs, wonach die Basken den nationalistischen Zielen nicht näher kämen, solange ETA aktiv sei. Stattdessen wäre eine breit gefächerte demokrati­sche Mobilisierung für die baskischen Freiheitsrechte nötig. Das beinhaltete die unmissverständli­che Botschaft an die ETA sich aufzulösen: »Der induzierte Selbstmord ermöglichte den ETA-Para­militärs wenigstens, öffentlich das von Otegi angebotene Narrativ vom einseitig beschlossenen Rü­ckzug als letzten, selbstlosen Beitrag zum Kampf des baskischen Volkes zu inszenieren« (158f.). Der Philosoph Fernando Savater, der selbst Morddrohungen der ETA bekommen hatte, konnte die­ser Inszenierung wenig abgewinnen: »Ohne unter der Kapuze zu zucken, versichern sie uns, durch den bewaffneten Kampf hätten wir den glücklichen Augenblick erreicht, da wir auf den bewaffneten Kampf verzichten können« (zitiert in Ingendaay in diesem Band S. 558). Dennoch war es, nach Mees, überhaupt nur vermittels dieses Narrativs möglich, die Spirale der Gewalt zu stoppen und eine Ausfahrt aus dem Labyrinth, so die Formulierung im Titel seines Beitrags, zu finden.

Um den langen Lebenszyklus der ETA zu verstehen, ist der Hinweis darauf, dass sich ein bedeuten­der Sektor der baskischen Gesellschaft – aktiv oder passiv – an der Legitimation der ETA-Gewalt beteiligte, wichtig. »ETA waren nicht nur die Kommandos, sondern auch die willigen Mitläufer. Dieses Phänomen muss einer der zentralen Themen bei jedem Versuch der Vergangenheitsaufarbei­tung und -bewältigung sein« (S. 164). Damit einher geht die Aufgabe zu verstehen, was dieser über Jahrzehnte sozial mitgetragene Terrorismus für die baskische Gesellschaft im Alltag bedeutet hat. In dem Roman »Patria« von Fernando Aramburu (2016; auf Deutsch 2018) finden sich die Lebensver­hältnisse jener Jahre im Baskenland plastisch und exemplarisch verarbeitet. Genau diesem Roman und seiner Bedeutung für die Debatten um ETA und den Terrorismus in Spanien ist der Beitrag von Paul Ingendaay im vorliegenden Band gewidmet (S. 541-561).

6. Fazit

6.1 Das Spanienbild des Bandes

Die Beiträge des Bandes fördern einerseits ein Spanienbild zu Tage, das durch wirtschaftliche und politische Sackgassen und Fehlentwicklungen, durch Krisen, Konflikte und Polarisierung gekenn­zeichnet ist. Ein besonders dunkler Fleck ist darin die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Dem steht auf der helleren Seite ein bewegtes, vielstimmiges Spanien gegenüber, das von den nationalen, regiona­len und kommunalen Protestbewegungen, die in der Krise von 2008 aufkamen, über die Frauen-, LGTBIQ- und ARMH-Bewegung bis zur Bewegung des España vaciada reicht.Viele zivilgesell­schaftliche Anliegen fanden Eingang in eine Reihe liberaler Gesetze nach 2004. Positiv zu bewerten ist außerdem die derzeitige Abwesenheit von Gewalt im Baskenland und in Katalonien und die Be­ruhigung der jeweiligen Konflikte. Besonders hervorhebenswert und ein Glanzlicht im Spanienbild ist nach Meinung des Rezensenten, dass bei allen Konflikten und bei aller Polarisierung auf der po­litischen Ebene, »im Alltag die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel« sind (S. 316).

6.2 Der Band »Spanien heute« – ein Resümee

In dem Sammelband werden viele Fragen zur Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Spaniens nüch­tern und kompetent abgehandelt. Übergreifend gilt, dass die Autorinnen und Autoren erfreulicher­weise stets auch die politische Dimension ihres Gegenstandes im Auge haben, selbst bei Themen wie Tourismus, Religion, Sport oder Literatur. Insgesamt kann von einer wissenschaftlich abgesi­cherten, problemorientierten, kritischen Sicht auf Spanien im Jahr 2022 gesprochen werden. Wer sich tiefer gehend über die spanischen Verhältnisse themenspezifisch oder generell informieren möchte, bekommt mit dem vorliegenden Sammelband eine ausgezeichnete Grundlage.

Wünsche der Art, dass manche Themen hätten eingehender behandelt werden sollen (z.B. die West­sahara-Frage) oder weitere Themen noch in den Band gehört hätten (z.B. die sozialen Sicherungs­systeme oder das Bildungssystem) stehen jedem frei. Angesichts der Grenzen eines solchen Sammelbandes, versteht es sich allerdings von selbst, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Insistieren würde der Rezensent nur in einem Punkt. Insgesamt wäre, über den hervorragenden Beitrag von Sabine Tzschaschel zur Landnutzung hinaus, noch weit mehr Aufmerksamkeit für das Themenfeld Nachhaltigkeit, Klimawandel, Umweltbewe­gung und Umweltpolitik, Energiewende und Energiepolitik (samt Atomausstieg) zu wünschen ge­wesen. In der nächsten Auflage von »Spanien heute« wird diesen Themen mehr Raum gegeben werden müssen. Ein weiterer Wunsch für die nächste Auflage wäre, die Autor:innen zu ermuntern, wo immer möglich, Vergleiche mit der jeweiligen Situation in anderen Ländern, besonders aber mit Deutschland, anzustellen. Denn das Verstehen anderer Verhältnisse wird durch den Vergleich mit Bekanntem entscheidend erleichtert und oft erst möglich.


Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. 6., vollständig neu bearbeitete Auflage. Verlag Klaus Dieter Vervuert: Frankfurt am Main 2022; ISBN: 978-3-96869-280-7

Das Buch ist beim Verlag auch im Epub-Format erhältlich.



Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus ― Crisis de relaciones. Una historia emocional del separatismo catalán


Un libro de fácil comprensión sobre un problema difícil de comprender

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 19.10.2021), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 29.09.2022)

Entender a los catalanistas

Para quienes, de forma desprejuiciada, se interesan en Alemania por la política, no resulta fácil entender el nacionalismo catalán y su objetivo de fundar un nuevo estado nacional segregándose de España. Sobre la comprensión de lo foráneo pesa una dificultad añadida, el hecho de que en Alemania no existe actualmente ningún problema real de nacionalidades ni hay movimientos independentistas. De ahí la ausencia en Alemania de partidos políticos relevantes que pongan en cuestión los fundamentos de la constitución y, con ello, la estructura del estado. El texto publicado por la editorial Wallstein de la historiadora Birgit Aschmann, profesora en la Universidad Humboldt de Berlín, se propone hacer accesible a un público amplio el nacionalismo catalán y, específicamente, su radicalización como movimiento independentista a partir de aproximadamente 2010.

La increíble curva de crecimiento del separatismo catalán

En 1976, el primer año tras la muerte de Franco, solo un dos por ciento de los catalanes apoyaban la independencia (cf. p. 159). En el referéndum constitucional de 1978, que otorgó a nacionalidades y regiones el derecho a la autonomía, participó el 68 % de los catalanes y de ellos 90,5 % votaron a favor de la nueva constitución. Cuatro décadas más tarde, el panorama es radicalmente diferente: el presidente de gobierno de la comunidad autónoma de Cataluña, Carles Puigdemont, anunció el 10 de octubre de 2017: «Cataluña se constituye en un estado independiente en forma de república» (cf. p. 230). Es cierto que, segundos más tarde, esta declaración unilateral de independencia quedó suspendida. Pero el 27 de octubre del mismo año fue sometida a votación la declaración de independencia en el parlamento autonómico catalán, la Generalitat. La mayoría de los diputados, por entonces en manos de los separatistas, era favorable: del total de 135 diputados en el parlamento, 72 eran independentistas. En la votación celebrada el 27 de octubre, hubo 70 votos válidos pro independencia.

El proceso constitucional de un nuevo estado nacional, la República Catalana, previsto tras esta declaración unilateral de independencia, no llegó a activarse de facto. El mismo día, el gobierno catalán fue depuesto, el parlamento fue disuelto y se estableció una administración judicial basada en el artículo 155 de la constitución española. Paralelamente, se convocaron nuevas elecciones para la comunidad autónoma. Pocos días después se dictaron órdenes de detención para los principales protagonistas del movimiento independentista. Tras las elecciones del 21 de diciembre de 2017 hubo que esperar al 14 de mayo de 2018 para que se formara un nuevo gobierno en Cataluña y concluyera la administración judicial.

En aquellas fechas los partidos favorables a la independencia de Cataluña tenían una ajustada mayoría en el parlamento catalán. Ello no significa automáticamente que contaran con el respaldo de una mayoría de la población. El sistema de voto y la participación electoral deben ser tenidos en cuenta para interpretar los datos. En 2017, una mayoría separatista de escaños no se correspondía con una mayoría de votos.

A tenor de los resultados hubiera podido establecerse tras las últimas elecciones del 14 de febrero de 2021 una coalición de gobierno izquierdista, específicamente socialdemócrata. Pero ello iba contra los intereses de la mayoría separatista en el parlamento, que se aferraba al proyecto político de la independencia. En el seno de los partidos de gobierno coexistían entonces distintas opiniones sobre cómo acceder al objetivo de la independencia de Cataluña, a corto plazo o más bien a medio y largo plazo; y sobre la cuestión de si la declaración unilateral de independencia seguía siendo una opción política. Parecían existir también entre los nacionalistas catalanes separatistas no genuinos, para quienes la petición de independencia era un medio estratético para forzar al estado central a sentarse a la mesa, consiguiendo un estatus especial y ventajoso para Cataluña dentro del estado autonómico.

Desde el punto de vista jurídico se distingue a veces entre separación y secesión, consistiendo la primera en una aceptación por parte del estado central de la escisión (por ejemplo, a raíz de un referéndum legal), mientras que la segunda implica la no aceptación por el estado central de la división, como es el caso en la declaración unilateral de independencia de Cataluña en 2017. Por añadidura, un estado nuevo originado por el segundo tipo de escisión tendría comparativamente pocas oportunidades de conseguir el reconocimiento internacional.

El dinamismo del procés visto a través de la historia de las emociones

La pregunta central del libro es cómo pudo pasarse de un catalanismo político relativamente poco virulento, al menos hasta el año 2006, a este inverosímil robustecimiento del nacionalismo catalán. ¿Cómo pudo ocurrir que la construcción y profundización de la autonomía (autonomismo) dejara de ser el objetivo compartido por amplios sectores del catalanismo político, para ceder su lugar a un nuevo horizonte de expectativas, la separación de España y la fundación de un estado propio?

Para entender mejor la dinámica del procés, se esfuerza Aschmann en seguir los giros y mutaciones del catalanismo político desde sus comienzos hasta la actual situación a finales de 2020. Lo peculiar de su análisis, también si se compara con los numerosos estudios españoles acerca del procés, es la perspectiva de su investigación, centrada en la historia de las emociones (cf. pp. 15 y 160). Consecuentemente, su atención se dirige a fenómenos como la política emocional entendida como medio de dominación e instrumento de poder, a la lógica inherente a las emociones, y a la dialéctica entre construcción emocional de la comunidad y exclusión social. En la dinámica del proceso juegan un papel destacado las expectativas, decepciones, temores e ira, indignación y resentimientos.

El reciente nacionalismo catalán es percibido pues, no como un peculiar movimiento territorial, socialmente singular, sino que es puesto en el contexto más amplio de una cultura de las emociones que en las dos últimas décadas registra una apreciable transformación, caracterizada por una creciente intensificación emocional de política y sociedad. Esta transformación es entendida ―remitiendo al sociólogo An­dreas Reckwitz ― como signo de la modernidad tardía, vinculándola a fenómenos como el nacionalismo y populismo en auge, los movimientos sociales de la indignación, y la activación social en torno a cuestiones de identidad ―y en particular, también de identidades colectivas―. También desde otro punto de vista, el nacionalismo periférico catalán rehuye actuar en solitario, observando a otros nacionalismos periféricos y aspiraciones separatistas fuera de su territorio y manteniendo contacto con ellos. En España, la referencia principal es sin duda la trayectoria del País Vasco (cf. pp. 194 ss.).

El catalanismo desde sus comienzos en el siglo xix hasta el fin del franquismo

Tras la introducción, con la explicación del procedimiento y los interrogantes planteados, se procede a tratar la historia y, con ella, la historia emocional del catalanismo de forma cronológica en tres capítulos (véase al respecto el detalle del índice de contenidos en alemán). Es característico del siglo xix un regionalismo de doble identidad y la coexistencia de comunidades emocionales (capítulo II). El capítulo III describe la emergencia del nacionalismo catalán a partir de 1898 en el contexto de la historia de España y Cataluña hasta la muerte en 1975 de Franco. Este periodo comprende la monarquía hasta la dictadura de Primo de Rivera, la dictadura de Primo (1923-1930), la etapa de la segunda república y la guerra civil (1931-1939) y, por último, el largo tiempo de la dictadura de Franco, hasta 1975. Se explica cómo el nacionalismo centralista español durante ambas dictaduras no consiguió sofocar el nacionalismo periférico catalán, sino que incluso lo reforzó indirectamente. Aschmann habla de la dialéctica entre las exigencias autonómicas catalanas y el nacionalismo español (p. 68). Incluso hoy día puede detectarse una especie de acaloramiento nacionalista.

Es verdad que al comienzo de los años de la república se proclamó una república catalana «dentro de la Federación de Repúblicas Ibéricas» (1931), proclamación que fue retirada tres días más tarde; en 1934 se constituyó un estado catalán «dentro de la República Federal Española», abolido por la fuerza diez horas más tarde. Pero ninguno de los dos avances en la dirección federal llegaron a realizarse; fueron de corta duración y debidos a circunstancias históricas muy especiales. De hecho, durante la segunda república se alcanzó un estatuto de autonomía para Cataluña. A esta línea pudo darse continuidad en 1975.

Durante el franquismo se consolidó en el seno del catalanismo, según la autora, «la fuerza hegemónica del catalanismo católico», opuesto a la dictadura y unificador de los catalanes (p. 101). Es destacable también la creación de robustas organizaciones de la sociedad civil como Crist y Catalunya (1954) u Òmnium Cultural (1961) ya en tiempos de la dictadura (cf. pp. 103, 107).

El catalanismo en la democracia, 1975 a 2010: autonomismo y nation-building

En el periodo 1975-2009 (capítulo IV) tuvo lugar la aprobación de la constitución (1978) y la edificación del estado autonómico español (véase al respecto la discusión sobre derecho constitucional, reseñada en Spanienecho, en el libro de Aschmann y Waldhoff). En la comunidad autónoma de Cataluña gobernó entre 1980 y 2003 una coalición burguesa con Jordi Pujol como jefe de gobierno (presidente de la Generalitat). Hoy recibe esta era política la denominación de pujolismo, asociada a la profundización institucional de la autonomía (p. 128) en el sentido del nation-building (p. 133). Ello equivalía a una catalanización de la política lingüística, de la política mediática, de la política de educación y escuela, y, cuestión no menor, de la narrativa histórica.

Piedra angular de la revisión histórica fue la «narrativa victimista catalana», que, en su forma más abreviada se resume con las palabras de un independentista, «solo nos han dado palos» (cf. p. 187). Este punto de vista refleja el resentimiento que se nutre de repetidas derrotas (reales o imaginadas), persistentes experiencias de impotencia y la memoria activa de ello. Los rencores se combinan fácilmente con sentimientos de aversión. Para el movimiento independentista catalán fue decisiva la actualización del «resentimiento antiespañol catalán» (p. 190). Con tono moderado pero inconfundible señala Aschmann que también participaron en ello historiadores especializados: «la disposición a considerar como un hecho la opresión continuada por “España” era tanto mayor cuanto que los historiadores profesionales pusieron de su parte para hacer plausible esta tesis» (p. 187).

En 2003 sucedió a la alianza de partidos burgueses dirigidos por Pujol una coalición de izquierdas liderada por el socialista Pasqual Maragall, del PSC (Partit dels Socialistes de Catalunya). Un objetivo de este gobierno fue alcanzar un nuevo estatuto de autonomía para Cataluña en el que, entre otras cosas, Cataluña había de ser reconocida como «nación». Con ello, como expresa con cautela Asch­mann, «se tocaban ámbitos sumamente delicados de la constitución española» (p. 151).

Dado que no hubo examen preliminar sobre la constitucionalidad del estatuto de autonomía en proceso, este estatuto pudo ser aceptado en las Cortes españolas, aunque con considerables modificaciones del texto, y tras un referéndum favorable en Cataluña, entró en vigor en 2006. Seguidamente fue recurrido ante el Tribunal Constitucional por distintas instancias, destacadamente el principal partido de la oposición, el conservador Partido Popular. La decisión del alto tribunal se retrasó hasta 2010. Algunos artículos y disposiciones del estatuto fueron considerados contrarios a la Constitución. «El fracaso del intento de atribuir a Cataluña oficialmente el estatuto de “nación” fue el desencadenante de un giro político radical» (p. 160). A partir de entonces se constató un acelerado crecimiento del número de personas favorables a la independencia.

El catalanismo en democracia a partir de 2010: el procés, hijo de la indignación

Especialmente a partir de 2010 demostró la sociedad civil catalana su extraordinaria capacidad organizativa, su potencial movilizador y su llamativa creatividad. Un ingrediente fueron los «plebiscitos subversivos» (p. 168) entre 2009 y 2011, en los que casi el 60 % de los municipios catalanes votaron sobre si Cataluña debía convertirse en un «estado social, independiente y democrático en el seno de la Unión Europea» (cf. ibid.). Otro elemento fueron las manifestaciones masivas que se celebraron con ocasión del día nacional catalán, la Diada (11 de septiembre), y que pusieron en las calles, visiblemente, a cientos de miles y a veces más de un millón de personas. Aschmann subraya la significación de estas acciones performativas, colectivas, cargadas de emoción, en breve, del formar parte y contribuir activamente a ellas, para el sentimiento comunitario de los nacionalistas catalanes (p. 179). Era también inherente a la creatividad del movimiento el saber reforzar la capacidad de enganche entre sectores no separatistas de la población y de la vida pública. La exigencia del «derecho a decidir» (cf. p. 168) fue apoyada por una base más amplia que lo de los puros independentistas.

De igual importancia o incluso mayor si se contempla desde la perspectiva histórico emocional fue la transformación del emotional regime. Las dos principales organizaciones de la sociedad civil, Òmnium Cultural, encabezada por Muriel Casals, y la Assemblea Nacional Catalana (ANC), de nueva creación, con Carme Forcadell en la dirección, consiguieron, según Aschmann, revolucionar el emotional regime del movimiento y alumbrar una «revolución de las sonrisas» (revolució dels somriures). «No se trata en modo alguno de un pretendido comportamiento esencialmente “femenino”, sino de una estrategia deliberada de ambas mujeres para cosechar notables ganancias para el nacionalismo catalán en términos de simpatía en el interior y en el extranjero, aprovechando una específica gestión emocional. Ello exigía una rigurosa exclusión de emociones y prácticas agresivas» (p. 174).

Fue en 2012 cuando se hizo visible el giro decisivo desde el autonomismo al separatismo y se produjo la siguiente vuelta de tuerca independentista. En esta fase fue sintomática la novedosa colaboración de las organizaciones separatistas de la sociedad civil y el gobierno regional. El presidente Artur Mas y su partido habían apoyado hasta entonces la ampliación de los derechos y competencias de la comunidad autónoma. El fracaso en las negociaciones del gobierno regional en Madrid en torno a un nuevo acuerdo fiscal que consiguiera para Cataluña unas condiciones ventajosas, análogas a las que ya el País Vasco había conquistado (cf. p. 182), suscitó en Artur Mas un cambio de perspectiva y movió al cierre de filas con las fuerzas separatistas.

Escalada e implosión del procés

La nueva fase de escalada, minuciosamente descrita por Aschmann, prosiguió tras la Diada de 2012, cuando Artur Mas anunció «estructuras de estado para Cataluña», promovió en noviembre de 2012 con Diplocat un «servicio diplomático» para Cataluña y llamó a nuevas elecciones para fin de año, que debían tener carácter plebiscitario. En otras palabras: los votantes fueron llamados a votar por los partidos separatistas, para comisionar a esta facción el mandato de emprender nuevos pasos políticos hacia la secesión.

Bastan algunos sucintos indicios para evidenciar que el procés se encontraba ya por entonces en plena eclosión. Se iban emprendiendo más y más acciones difíciles o imposibles de armonizar con la constitución española: en 2013 proclamó el parlamento autonómico la soberanía del pueblo catalán; en 2014 tuvo lugar una consulta no vinculante (una especie de sucedáneo de referéndum de independencia); en 2015 se volvieron a celebrar elecciones de carácter plebiscitario; en junio de 2016 se decidió organizar ahora un referéndum vinculante sobre independencia; en septiembre de 2017 siguieron leyes preparatorias de la independencia; y en octubre de 2017 se llegó al referéndum y la proclamación de la república catalana.

A continuación, se produjo lo que ya arriba se ha indicado. Aschmann habla de una «virtual implosión silenciosa del procés» (p. 240). El hecho de que apenas hubiera violencia y que la intervención del estado central discurriera pacíficamente puede explicarse apelando al régimen emocional, al que iba aparejada de forma muy decisiva la no violencia, pero también a que los separatistas carecían de nociones precisas sobre los pasos y procedimientos ulteriores al momento de la declaración de independencia (cf. p. 241).

A ello se añade que también el gobierno central (tras su intervención violenta el día del referéndum del 2 de octubre) había aprendido que las fotos difundidas en los medios internacionales de policías dando golpes dañaban su imagen. Aschmann sugiere que las cosas pudieran haber sucedido de otro modo: «Era del todo desconocido qué hubiera pasado si en esta situación cargada de tensión se produjera el encontronazo entre elementos catalanes y españoles dispuestos a la violencia» (p. 242).

Resumen y observaciones finales

La autora proporciona en 250 páginas la mejor presentación hasta la fecha del catalanismo político desde sus comienzos hasta 2020 (para un público alemán). El tono es objetivo, la exposición concisa y el lenguaje pegadizo. La metodología elegida, basada en la historia emocional, demuestra cualidades como hilo conductor a lo largo del sucederse dinámico del procés. Parece también adecuada para llegar a un público amplio.

Como resultado, se ofrece una visión crítica, desde distintos ángulos, del movimiento independentista. Desde el punto de vista jurídico parecen problemáticas las vulneraciones separatistas del articulado de la constitución de 1978, así como el desacato de decisiones del tribunal constitucional. En cuanto a la objetividad, la reelaboración separatista de la narrativa de la historia hispanocatalana es problemática porque en muchos de sus puntos no puede comprobarse científicamente.

Han de añadirse dos notas críticas sobre la visión acerca de la democracia de los separatistas, que se consideraban a sí mismos ejemplarmente democráticos. Por un lado, Aschmann censura la falta de respeto de los separatistas hacia las reglas de juego del parlamento catalán (en particular durante la fase acalorada del procés, 2016 / 2017). Por otro lado, alude al déficit democrático del movimiento, que estriba en que los partidos separatistas, sobre la base de una exigua mayoría de escaños en el parlamento autonómico, se sentían autorizados a decidir unilateralmente en nombre de todos los catalanes (y todos los españoles) en una cuestión tan fundamental y tan decisiva para el futuro.

Un análisis histórico emocional, como el que aquí se dedica al procés, debe ser consciente del riesgo de atribuir especulativamente sentimientos que apenas pueden demostrarse empíricamente. Para el periodismo político, esto no es un problema, pero para la ciencia puede llegar a serlo. Un ejemplo: ¿qué sentimientos se apoderaron de Carles Puigdemont el día anterior al voto sobre la declaración de independencia del 27 de octubre de 2017? Según la autora «podrían haberse instalado en Puigdemont una confrontación entre miedos: el miedo a las consecuencias políticas, sociales y económicas de la independencia se enfrentaba al miedo ante el propio final de su carrera política y el desasosiego por la posible difamación de su persona» (p. 235). Ello es posible, pero lo desconocemos. Cabe añadir que la etiqueta de sentimiento elegida, «miedo», contiene también una componente de sugestión. En términos de enunciado (el miedo a las consecuencias de la independencia) podría también haberse elegido la expresión «sentimiento de responsabilidad», lo cual hubiera sonado diferente. Posiblemente, para tratar del procés y sus protagonistas, la responsabilidad sería la categoría políticamente más productiva.

Se puede dar por alcanzado el objetivo del estudio, de enfoque preciso, «analizar la lógica propia de las emociones, y consecuentemente entender lo sucedido, al menos retrospectivamente» (p. 15). Pero al mismo tiempo, ha sido la exitosa exploración de los mecanismos de escalada lo que despierta el deseo de comprender mejor y de otra manera aquello que caracteriza y motiva social, política y económicamente a las personas que se comprometieron con el movimiento independentista. Este desiderátum puede cifrarse para terminar en dos bloques de preguntas. Uno aborda el «resentimiento antiespañol»; el otro, los factores sociales que dieron un giro favorable a la causa catalanista.

En el libro se introduce el «resentimiento antiespañol» y el odio que se alimenta de él. Quedan en el aire las preguntas: ¿contra quién se dirige realmente este odio? ¿contra el gobierno central en Madrid en aquellas fechas? ¿contra cualquier gobierno en Madrid? ¿contra el sistema político? ¿contra los procedentes de otras partes de España que viven en Cataluña y que desean ser a la vez catalanes y españoles? ¿está confinado el resentimiento en los planos retórico-discursivos o se manifiesta en la vida cotidiana a través de prácticas en consonancia? ¿puede demostrarse la discriminación (presunta o real) de los no separatistas por los catalanistas en el día a día? Y, dicho de otra manera, ¿cómo se plasma en la vida cotidiana la opresión (presunta o real) de los catalanes, específicamente de los separatistas, a manos del estado central?

Este bloque de preguntas, que sondea la vida cotidiana de Cataluña, requiere investigaciones empíricas, así como el segundo bloque de preguntas, que apunta al sustrato social y los intereses de los agentes. ¿A qué círculos de personas seduce el separatismo, y a que intereses económicos va ligado? Aschmann da unas indicaciones iniciales sobre dónde es fuerte el movimiento independentista: algunos bastiones urbanos como Gerona en el nordeste catalán, y municipios del interior (cf. p. 169). Sería deseable dar pasos adicionales para describir la estructura del movimiento atendiendo a distribución de edades, nivel educativo, ingresos y posición social. ¿El catalanismo radical es más bien un fenómeno de clase media, o un movimiento transversal que se nutre de todas las capas sociales? ¿cuál es la caracterización social de los que no votan a los partidos separatistas o de los que se abstienen? ¿cuál es la actitud de las elites económicas y las familias catalanas hegemónicas ante el procés y cómo influyen sobre él? Tales cuestiones, es verdad, no recaen en principio en la órbita de la ciencia histórica, sino en la de otras ciencias sociales y el buen periodismo. Si ya existen investigaciones en esta línea en España, y en particular en Cataluña, sería de extraordinaria oportunidad dar a conocer también entre el público alemán sus resultados.

El procés no ha concluido. Lo que demuestra de forma impresionante el trabajo de Birgit Aschmann y lo que debe tenerse en cuenta para el futuro del conflicto es que pueden ocurrir muchas cosas y ni siquiera lo inverosímil puede ser descartado.


Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1

[Birgit Aschmann: Crisis de relaciones. Una historia emocional del separatismo catalán. Gotinga: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1]

El texto puede conseguirse en la editorial también como e-book en formato pdf.

Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus

Ein gut verständliches Buch über einen schwer verständlichen Prozess

Rezension von Knud Böhle

Katalanisten verstehen

Für den unvoreingenommenen politisch Interessierten in Deutschland ist der katalanische Nationa­lismus und sein Ziel, einen neuen Nationalstaat durch Abspaltung von Spanien zu gründen, nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Das Fremdverstehen ist dadurch erschwert, dass es in Deutschland derzeit kein nennenswertes Nationalitätenproblem und keine Unabhängigkeitsbewegung gibt. Dazu kommt, dass es auch keine relevante politische Partei gibt, die das Grundgesetz und mithin die fö­derale Struktur der Bundesrepublik oder die Staatsform grundsätzlich in Frage stellte. Die im Wall­stein Verlag erschienene Schrift der an der Humboldt Universität lehrenden Historikerin Birgit Asch­mann verspricht, den katalanischen Nationalismus und besonders seine Radikalisierung als Unab­hängigkeitsbewegung, etwa seit 2010, einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen.

Die unglaubliche Wachstumskurve des katalanischen Separatismus

1976, im ersten Jahr nach Francos Tod, sprachen sich nur zwei Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit aus (vgl. S. 159). Im Referendum über die Verfassung von 1978, die das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen festschrieb, stimmten (bei einer Wahlbeteiligung von 68 Prozent) 90,5 Prozent der Katalanen für diese Verfassung. Vier Jahrzehnte später zeigte sich ein völlig verändertes Bild: Der Präsident der Regierung der autonomen Region Katalonien Carles Puigdemont verkündete am 10. Oktober 2017: «Katalonien konstituiert sich als unabhängiger Staat in Form einer Republik» (vgl. S. 230). Sekunden später wurde diese einseitige Unabhängigkeitserklärung zwar ausgesetzt. Aber am 27. Oktober 2017 wurde dann über die Unabhängigkeitserklärung im katalanischen Regionalparlament, der Generalitat, abgestimmt. Die zu dem Zeitpunkt pro-separatistische Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür. Von den 135 Abgeordneten des katalanischen Parlaments galten 72 als Unabhängigkeitsbefürworter. Bei der Abstimmung am 27. Oktober wurden 70 gültige Stimmen pro Unabhängigkeit abgegeben.

Der nach dieser einseitigen Unabhängigkeitserklärung vorgesehene Konstitutionsprozess eines neuen Nationalstaats, der katalani­schen Republik, kam de facto nicht in Gang. Noch am selben Tag wurde die katalanische Regierung abgesetzt, das Parlament aufgelöst, und eine Zwangsverwaltung gemäß § 155 der spanischen Verfas­sung trat in Kraft. Außerdem wurden Neuwahlen in der autonomen Region anberaumt. Haftbefehle gegen hochrangige Protagonisten der Unabhängig­keitsbewegung wurden wenige Tage später erlassen. Nach der Wahl am 21. Dezember 2017 dauerte es bis zum 14. Mai 2018 bis eine neue Regierung in Katalonien gebildet wurde und die Zwangsverwaltung endete.

Damals wie heute haben die Parteien, die für eine Unabhängigkeit Kataloniens eintreten, eine knap­pe Sitzmehrheit im katalanischen Parlament. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben. Das Wahlsystem und die Wahlbeteiligung wären für eine korrekte Beurteilung einzubeziehen. Im Jahr 2017 entsprach die Mehrheit der Sitze der separatistischen Parteien keiner Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Rechnerisch wäre nach der letzten Wahl (14. Februar 2021) eine linke (sinngemäß: sozialdemokratische) Koalitionsregierung möglich gewesen. Dem stand jedoch das In­teresse der separatistischen Mehrheit im Parlament entgegen, die am politischen Projekt der Unabhängigkeit fest­hielt. Innerhalb der Regierungsparteien gibt es derzeit unterschiedliche Auffassungen, ob das Ziel, die Unabhängigkeit Kataloniens zu erreichen, kurzfristig oder eher mittel- bis langfris­tig anzusetzen ist, und ob eine einseitige Unabhängigkeitserklärung weiterhin als politische Option gesehen wird. Es dürfte unter den nationalistischen Katalanen außerdem auch unechte Separatisten geben, denen die Unabhängigkeitsforderung als strategisch einzusetzendes Mit­tel dient, um den Zentralstaat an den Verhandlungstisch zu zwingen und einen vorteilhaften Sonderstatus für Katalonien im föderalen spanischen Staatsgebilde zu erstreiten.

Juristisch wird manchmal zwischen Separation und Sezession unterschieden, wo­bei erstere eine Zustimmung des Gesamtstaats zur Abspaltung (etwa auf Basis eines legalen Referen­dums) voraussetzt, während die letztere die Nicht-Zustimmung des Gesamtstaates zur Abspaltung, wie bei der einseitigen Unabhängigkeitserklärung 2017 in Katalonien, in Kauf nimmt. Ein aus einer solchen Abspaltung hervorgehender Neustaat dürfte vergleichsweise geringe Chancen haben, inter­national anerkannt zu werden.

Fragestellung der Analyse und emotionsgeschichtlicher Ansatz

Die zentrale Frage des Buches ist, wie es von der relativ geringen Virulenz des politischen Katala­nismus zumindest bis zum Jahr 2006 zu diesem unwahrscheinlichen Erstarken des katalanischen Nationalismus kommen konnte. Wie konnte es dazu kommen, dass nicht mehr der Ausbau und die Vertiefung der regionalen Autonomie (Autonomismus) das Ziel weiter Teile des politischen Katalanismus blieb, son­dern die Abspaltung von Spanien und die Gründung eines eigenen Staates zum neuen Erwartungs­horizont wurde?

Um die Dynamik des Prozesses (el Procès) besser zu verstehen, verfolgt Aschmann die Wendungen und Wandlungen des politischen Katalanismus von seinen Anfängen bis zur aktuel­len Lage Ende 2020. Das Besondere an der Darstellung, auch im Unterschied zu zahlreichen spanischen Analysen des Procès, ist die emotionsgeschichtliche Perspektive ihrer Untersuchung (vgl. S. 15 und S. 160). Das Augenmerk wird folglich auf Phänomene wie die Emotionspolitik als Herrschaftsmittel und Machtinstrument, auf die Eigenlogik von Emotionen und die Dialektik von emotionaler Gemeinschaftsbildung und sozialer Ausgrenzung gelegt. Erwartungen, Enttäuschungen, Ängste und Wut, Empörung und Ressentiments spielen für die Dynamik des Prozesses eine große Rol­le.

Der jüngere katalanische Nationalismus wird dabei nicht als regional einzigartige, singuläre soziale Bewegung verstanden, sondern in den größeren Kontext einer in den letzten zwei Jahrzehnten weit­hin beob­achtbaren veränderten Emotionskultur gestellt, die eine stärkere Emotionalisierung von Po­litik und Gesellschaft auszeichnet. Diese Veränderung wird – mit Verweis auf den Soziologen An­dreas Reckwitz ­– als Signum der Spätmoderne begriffen, und an Phänomenen wie erstarkendem Na­tionalismus und Populismus, neuen sozialen Bewegungen der Empörung und sozialen Bewegungen entlang von Identitätsfragen – eben auch von kollektiven Identitäten – festgemacht. Auch in anderer Hinsicht operiert der periphere Nationalismus Kataloniens nicht isoliert, sondern beobachtet andere periphere Nationalismen und separatistische Bestrebungen außerhalb des Landes und ist mit diesen in Kontakt. In Spanien sind die Entwicklungen im Baskenland unbestritten die wichtigste Referenz (vgl. S. 194f.).

Katalanismus von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Ende des Franquismus

Im Anschluss an die Einleitung, die Ansatz und Fragestellungen der Arbeit erläutert, wird die Ge­schichte und mithin auch die Emotionsgeschichte des Katalanismus chronologisch in drei Kapiteln abgehandelt (vgl. dazu im Detail das Inhaltsverzeichnis). Für das 19. Jahrhundert wird als kennzeichnend ein Regionalismus mit doppelten Identitäten und die Ko­existenz emotionaler Gemeinschaften herausgearbeitet (Kapitel II). Das folgende Kapitel (III) be­schreibt die Formierung des katalanischen Nationalismus ab 1898 im Kontext der spanisch-katala­nischen Geschichte bis zum Tode Francos 1975. Der Zeitraum umfasst die Monarchie bis zur Dikta­tur Pri­mo de Riveras, die Diktatur Primos (1923-1930), die Zeit der Zweiten Republik und des Bür­gerkriegs (1931-1939) und schließlich die lange Zeit der Franco-Diktatur (bis 1975). Es wird aufge­zeigt, dass der zentralistische spanische Nationalismus während der beiden Diktaturen den periphe­ren katalanischen Nationalismus nicht ausschalten konnte, sondern indirekt sogar eher bestärkte. Aschmann spricht von der «Dialektik von katalanischen Autonomieansprüchen und spanischem Nationalismus» (S. 68). Eine Art nationalistisches Hochschaukeln ist auch heute zu beobachten.

In den Jahren der Republik wurde zwar gleich anfangs eine kata­lanische Republik «in der Föderation iberischer Republiken» (1931) proklamiert (und nach drei Ta­gen wieder zurückgenommen) und 1934 ein katalanischer Staat «innerhalb der föderalen spanischen Republik» ausgerufen (und zehn Stunden später gewaltsam abgeschafft). Aber beide Vorstöße in Rich­tung Föderation realisierten sich nicht, waren nicht von Dauer und sehr spezifischen historischen Um­ständen geschuldet. Tatsächlich erreicht wurde während der Zweiten Republik ein Autonomiestatut für Katalonien. Dar­an konnte nach 1975 angeknüpft werden.

Während des Franquismus entwickelte sich innerhalb des Katalanismus, so die Autorin, der gegen die Diktatur gerichtete und die Katalanen einigende «katholische Katalanismus zur hegemonialen Kraft» (S. 101). Bemerkenswert ist auch die Schaffung starker zivilgesellschaftlicher Organisatio­nen wie Crist y Catalunya (1954) oder Òmnium Cultural (1961) bereits unter der Diktatur (vgl. S. 103, S. 107).

Katalanismus in der Demokratie 1975 bis 2010: Autonomismus und nation-building

In die Zeit von 1975 bis 2009 (Kapitel IV) fielen die Verfassungsgebung (1978) und der Aufbau des spanischen Autonomiestaats (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Dis­kussionen das im Spaniene­cho besprochene Buch von Aschmann und Waldhoff). In der autonomen Gemeinschaft Katalonien regierte von 1980 bis 2003 eine bürgerliche Koalition mit Jordi Pujol als Regierungschef (Präsident der Generalitat). Als Pujolismo wird diese politischen Ära heute bezeichnet, die im Zeichen des institutionellen Ausbaus der Autonomie (S. 128) im Sinne eines nation-building (S. 133) stand. Das meint eine Katalanisie­rung der Sprachpolitik, der Me­dienpolitik, der Bildungs- und Schulpolitik, und nicht zuletzt des Geschichtsnarrativs.

Zentraler Baustein der Geschichtsrevision wurde das «katalanistische Opfernarrativ», das in seiner kürzesten Form aus dem Mund eines Unabhängigkeitsbefürworters lautet «Wir haben immer nur in die Fresse gekriegt» (vgl. S. 187). Diese Sicht spiegelt das Ressentiment, das sich aus (realen oder vermeintlichen) wiederholten Niederlagen und dauerhaften Ohnmachtserfahrun­gen und der Er­innerung daran speist. Ressentiments verbinden sich leicht mit aversiven Gefühlen. Für die katalani­sche Unabhängigkeitsbewegung spielte die Aktualisierung des «katalanisch antispanischen Ressen­timents» (S. 190) eine zentrale Rolle. Gemäßigt im Ton, aber unmissverständlich bemerkt Aschmann, dass sich auch Fachhistoriker daran beteiligten: «Die Bereitschaft, die kontinuierliche Unterdrückung durch ‹Spanien› für eine Tatsache zu halten, war umso größer, als professionelle Historiker das ihre dazu beitrugen, die The­sen zu plausibilisieren» (S. 187).

Im Jahr 2003 wurde das bürgerliche Parteienbündnis unter der Führung Pujols von einer linken Koa­lition unter dem Sozialisten Pasqual Maragall von der PSC (Partit dels Socialistes de Catalunya) abgelöst. Ein Ziel dieser Regierung war es, ein neues Autonomiestatut für Katalonien zu erwirken, in dem un­ter anderem Katalonien als «Nation» anerkannt werden sollte. Damit waren, wie Asch­mann es vorsichtig formuliert «überaus heikle Bereiche der spanischen Verfassung tangiert» (S. 151).

Da es keine Vorprüfung der Verfassungsmäßigkeit des auf den Weg gebrachten Autonomiestatuts gab, konnte das Statut, wenngleich mit erheblichen Veränderungen am Text, im spanischen Parla­ment angenommen werden, und nach einem positivem Referendum in Katalonien auch 2006 in Kraft treten. Nicht zuletzt von der konservativen Volkspartei (Partido Popular), die zu der Zeit in der Opposition war, wurde danach noch gegen das Statut vor dem Verfassungsgericht geklagt. Die höchstrichterliche Entscheidung zog sich bis 2010 hin. Einige Passagen des Statuts waren dem­nach nicht verfassungs­konform. «Das Scheitern des Versuches, Katalonien offiziell den Sta­tus einer ‹Nation› zuzuschreiben, bildete den Ausgangspunkt einer politischen Kehrtwende» (S. 160). Von da an war ein schneller Anstieg der Zahl der Unabhän­gigkeitsbefürworter zu verzeichnen.

Katalanismus in der Demokratie ab 2010: der Procés als Kind der Empörung

Vor allem ab 2010 stellte die katalanische Zivilgesellschaft ihre außerordentliche Organisationsfä­higkeit, ihr Mobilisierungspotenzial und ihre beeindruckende Kreativität unter Beweis. Ein Element waren die «subversiven Urnengänge» (S. 168) zwischen 2009 und 2011, bei denen fast 60 Prozent aller katalanischen Gemeinden darüber abstimmten, ob Katalonien ein «unabhängiger und demokrati­scher Sozialstaat innerhalb der Europäischen Union» werden sollte (vgl. ebd.). Ein anderes Element waren die Massendemonstrationen, die jeweils am Nationalfeiertag der Katalanen, der Diada, am 11. September stattfanden, und offenkundig Hunderttausende, bisweilen sogar mehr als eine Million Menschen auf die Straße brachten. Aschmann unterstreicht die Bedeutung dieser kollekti­ven emotionsgeladenen performativen Aktionen, also das aktive Dabeisein und Mittun, für das Ge­meinschaftsgefühl der katalanischen Nationalisten (S. 179). Zur Kreativität der Bewegung gehörte es auch, die Anschlussfähigkeit für nicht separatistische Teile der Bevölkerung und der Öffentlich­keit zu erhöhen. Die Forderung auf das «Recht zu entscheiden» (vgl. S. 168) wurde nicht nur von Unabhängigkeitsbefürwortern unterstützt.

Genauso wichtig, oder sogar noch wichtiger aus emotionshistorischer Perspektive war eine Trans­formation des emotional regime. Den zwei stärksten zivilgesellschaftlichen Organisationen Òmnium Cultural mit Muriel Casals an der Spitze und der neu gegründeten Assemblea Nacional Catalana (ANC) mit Carme Forcadell an der Spitze gelang es, so Aschmann, das emotional regime der Be­wegung zu revolutionieren und die «Revolution des Lächelns» (revolució dels somriures) auf den Weg zu bringen. «Dabei handelt es sich keineswegs um ein vermeintlich essentiell ‹weibliches› Ver­halten, sondern um eine gezielte Strategie dieser Frauen, anhand eines spezifischen Emotionsmana­gements dem katalanischen Nationalismus im In- und Ausland erhebliche Sympathiegewinne zu er­möglichen. Das erforderte eine strikte Abgrenzung von aggressiven Emotionen und Praktiken» (S. 174).

2012 war das Jahr, in dem die entscheidende Wende vom Autonomismus zum Separatismus Gestalt annahm und die nächste Drehung an der Unabhängigkeitsschraube erfolgte. Für diese Phase war das neuartige Zusammenspiel von separatistischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Re­gionalregierung charakteristisch. Deren Präsident Artur Mas und dessen Partei hatten bis dahin für den Ausbau der Rechte und Kompetenzen der autonomen Gemeinschaft gestanden. Das Scheitern der Verhandlungen der Regionalregierung in Madrid über einen neuen Fiskalpakt, der für Kataloni­en ähn­lich vorteilhafte Bedingungen vorsah, wie sie das Baskenland bereits erreicht hatte (vgl. S. 182), werden zu einem Sinneswandel bei Artur Mas und zum Schulterschluss mit den separatisti­schen Kräften beigetragen haben.

Eskalation und Implosion des Procés

Die neue Phase der Eskalation, die bei Aschmann minutiös beschrieben wird, setzte dann nach der Diada 2012 ein, als Artur Mas «staatliche Strukturen für Katalonien» ankündigte und mit Diplocat im November 2012 einen «diplomatischen Dienst» Kataloniens ins Leben rief und für das Ende des Jahres Neuwahlen ankündigte, die plebiszitären Charakter haben sollten. Mit anderen Worten: die Wähler wurden aufgerufen, mit ihrer Stimmabgabe für eine der separatistischen Parteien, diesem Lager ein Mandat für weitere politische Schritte auf dem Weg der Abspaltung zu erteilen.

Einige wenige Hinweise genügen, um deutlich zu machen, dass der Procés von da an in vollem Gang war. Immer mehr Schritte wurden unternommen, die nicht oder nur schwerlich in Einklang mit der spanischen Verfas­sung zu bringen waren: 2013 proklamierte das Regionalparlament die «Souveränität» des katalani­schen Volkes, 2014 erfolgte eine Konsultation ohne bindenden Charakter (eine Art Surrogat für ein Unabhängigkeitsreferendum), 2015 wurde wieder eine Wahl mit plebiszitärem Charakter durchgeführt, im Juni 2016 wurde beschlos­sen, nun ein bindendes Referen­dum über die Unabhängigkeit durchzuführen, im September 2017 folgten Gesetze zur Vorbereitung der Unabhängigkeit, und im Oktober 2017 kam es zu dem Referendum und dem Ausrufen der katalanischen Republik.

Es folgte, was bereits oben angesprochen wurde. Aschmann spricht von einer «nachgerade ge­räuschlosen Implosion des Procés» (S. 240). Dass es kaum zu Gewalt kam und dass die zentralstaat­liche In­tervention friedlich verlief, wird mit dem emotionalen Regime, zu dem ganz entscheidend auch die Gewaltlosigkeit gehörte, erklärt, aber auch damit, dass die Separatisten über den Punkt der Unab­hängigkeitserklärung hinaus keine präzisen Vorstellungen über weitere Schritte und Vorge­hensweisen entwickelt hatten (vgl. S. 241). Dazu kam, dass auch die Zentralregierung inzwischen (nach ihrem gewaltsamen Einschreiten am Tag des Referendums am 2. Oktober) gelernt hatte, dass in den internationalen Medien veröffentlichte Bilder schlagender Polizisten ihrem Image schadeten. Aschmann gibt zu bedenken, dass es auch anders hätte kommen können: «Was passieren würde, wenn in der spannungsgeladenen Situation gewaltbereite katalanische und spanische Akteure aufeinanderträfen, war keineswegs ausgemacht» (S. 242).

Fazit und Schlussbemerkungen

Die Autorin liefert auf 250 Seiten die derzeit beste deutschsprachige Darstel­lung des politischen Katalanismus von seinen Anfängen bis zum Jahr 2020. Der Ton ist sachlich, die Darstellung konzis und die Sprache eingängig. Der gewählte emotionsgeschichtliche Ansatz be­währt sich als Leitfaden durch das dynamische Geschehen des Procés. Er dürfte auch geeignet sein, ein breiteres Publikum anzusprechen.

Im Ergebnis wird die katalanische Unabhängigkeitsbewegung aus verschiedenen Gründen kri­tisch gesehen. Rechtlich erscheinen die Verstöße der Separatisten gegen die Buchstaben der Verfassung von 1978 und die Missachtung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts problematisch. Sachlich ist die Arbeit der separatistischen Kräfte am Narrativ der spanisch-katalanischen Geschichte problematisch, weil sie in mehreren Punkten als wissenschaftlich nicht haltbar nachgewiesen werden kann. Dazu kommen zwei kritische Punkte in Bezug auf das Demokratieverständnis der Separatisten, die sich selbst als vorbildlich demokratisch verstehen. Da ist zum einen die Kritik am mangelnden Respekt der Separatisten für die demokratischen Verfahrensregeln des katalanischen Parlaments (besonders in der heißen Phase des Procés 2016/2017). Zum anderen wird auf das demokratische Defizit der Bewegung hingewiesen, das darin liegt, dass sich die separatistischen Parteien auf Basis einer knappen Sitzmehrheit im Regional­parlament ermächtigt fühlten, für alle Katalanen (und alle Spanier) ­in einer so grundsätzlichen, die Zukunft betreffenden Angelegenheit, einseitig zu entscheiden.

Eine emotionsgeschichtliche Analyse, hier des Procés, sollte sich der Gefahr bewusst sein, spekulative Zuschreibungen von Gefühlen vorzunehmen, die empirisch kaum überprüfbar sind. Für den politischen Journalismus ist das kein Problem, für die Wissenschaft kann es dazu werden. Ein Beispiel: Welche Gefühle beherrschten Carles Puigdemont am Tag vor der Abstim­mung über die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober 2017? Nach Ansicht der Autorin «dürfte sich bei Puigdemont eine Konkurrenz der Ängste etabliert haben: Der Angst vor den politischen, sozia­len und ökonomischen Folgen der Unabhängigkeit standen die Befürchtungen bezüglich des eige­nen Karriereendes und das Unbehagen angesichts persönlicher Diffamierung gegenüber» (S. 235). Das mag so sein, aber wir wissen es nicht. Dazu kommt, dass das gewählte Gefühlslabel «Angst» auch eine suggestive Komponente beinhaltet. Von der Aussage her (der Angst vor den Folgen der Unabhängigkeit) hätte zum Beispiel auch von «Verantwortungsgefühl» gesprochen werden können, was einen anderen Klang gehabt hätte. Verantwortung wäre, auf den Procés und seine Protagonisten bezogen, wohl auch die politisch ergiebigere Kategorie.

Das Ziel der präzise fokussierten Studie, «die Eigenlogik von Emotionen zu analysieren und damit die Entwicklung zumindest retrospektiv zu verstehen» (S. 15), wurde erreicht. Gleichzeitig haben aber gerade die Einsichten in die Mechanismen der Eskalation den Wunsch erzeugt, noch besser und auf andere Weise zu verstehen, was die Personen, die sich in der Unabhängigkeitsbewegung engagieren, sozial, politisch und ökonomisch charakterisiert und motiviert. Dieses Desiderat soll abschließend an zwei Fragekomplexen verdeutlicht werden. Der eine betrifft das «antispanische Ressentiment», der andere die sozialen Faktoren, die eine Hinwendung zum Katalanismus begünstigen.

In dem Buch wird das «antispanische Ressentiment» und der sich daraus speisende Hass angeführt. Die Frage bleibt offen, gegen wen sich dieser Hass eigentlich richtet? Gegen die Regierung in Madrid? Gegen jede Regierung in Madrid? Gegen das politische System? Gegen die Spanier, die in Katalonien leben und Katalanen und Spanier sein wollen? Gegen alle Spanier? Bleibt das Ressentiment auf der rhetorisch-diskursiven Ebene oder manifestiert es sich auch im Alltagsleben in entsprechenden Praktiken? Lässt sich die (vermeintliche oder reale) Diskriminierung der Nicht-Separatisten durch die Katalanisten im Alltag nachweisen? Und andersherum gefragt: Wie schlägt sich die (vermeintliche oder reale) Unterdrückung der Katalanen durch den Zentralstaat im Alltag insbesondere der Separatisten nieder?

Dieser Fragenkomplex, der das Alltagsleben in Katalonien hinterfragt, verlangt empirische Untersuchungen, ebenso wie der zweite Fragenkomplex, der insbesondere auf den sozialen Hintergrund und die Interessen der Akteure zielt. Welche Personenkrei­se spricht der Separatismus an, und mit welchen ökonomischen Interessen ist er verbunden? Asch­mann gibt erste Hinweise, wo die Unabhängigkeitsbewegung stark ist: in einigen städti­schen Hochburgen wie Girona im Nordosten Kataloniens und in Gemeinden im Landesinne­ren (vgl. S. 169). Es wäre wünschenswert, hier weiter zu gehen, um die Struktur der Bewegung mit Blick auf Altersverteilung, Bildungsgrad, Einkommen und soziale Stellung zu ermitteln. Ist der radikale Katalanismus eher ein Mittelschichtenp­hänomen oder eine breite, sich aus allen Schichten speisende Bewegung? Wie ist die soziale Charakteristik derer, die keine separatistischen Parteien oder gar nicht wählen? Wie ist die Ein­stellung der ökonomischen Eliten und der mächtigen katalanischen Familien zum Procés und wie wirken sie auf ihn ein? Solche Untersuchungen sind freilich nicht primär von der Geschichtswissenschaft einzufordern, sondern von anderen Sozialwissenschaften und guten Journalisten. Wenn es solche Untersuchungen in Spanien und besonders in Katalonien schon gibt, wäre es außerordentlich verdienstvoll, ihre Ergebnisse auch in der deutschen Öffentlichkeit zu verbreiten.

Der Procés ist noch nicht zu Ende. Was die historische Arbeit von Birgit Aschmann eindrucksvoll gezeigt hat und was auch für die Zukunft des Konflikts im Auge zu behalten ist: Vieles ist noch möglich, und selbst das Unwahrscheinli­che kann nicht ausgeschlossen werden.


Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1

Der Text ist beim Verlag auch als E-Book im PDF-Format erhältlich



Krystyna Schreiber: Die Übersetzung der Unabhängigkeit

Das katalanistische Narrativ um 2015

Rezension von Knud Böhle | 04.08.2020

Die Auswahl der Interviewpartner für den vorliegenden Interviewband, ermöglicht es Krystyna Schreiber, verschiedene Facetten der katalanistischen Bewegung auszuloten. Gekonnt bringt sie ihre Interviewpartner dazu, unumwunden und unverkrampft Auskunft zu geben. Das ist möglich, weil Sympathie für den Procès auf beiden Seiten besteht. Ziel des Buches ist es dementsprechend, dass deutsche Leser die katalanistische Seite besser verstehen. Kurze Bemerkungen zu Beginn jedes Interviews zur Gesprächssituation und zum ersten Eindruck, den ein Gesprächspartner auf die Interviewerin gemacht hat, sind unterhaltsam und fördern das Verständnis. Die Fragen, die gestellt werden, sind wohl überlegt.

Der Band enthält Interviews mit Artur Mas, dem damaligen Präsidenten der Regierung der autonomen Gemeinschaft Katalonien, mit Carme Forcadell, der damaligen Präsidentin der Bürgerinitiative „Katalanische Nationalversammlung“ (ANC) und mit Muriel Casals, damals Präsidentin der zweiten großen zivilgesellschaftlichen Organisation für die Unabhängigkeit Kataloniens „Òmnium Cultural“, des Weiteren mit Amadeu Altafaj, damals Ständiger Vertreter der Regierung Kataloniens bei der Europäischen Union sowie mit Santiago Vidal zur Zeit des Interviews 2015 noch Richter am Gerichtshof der Provinz Barcelona und Mitverfasser eines Entwurfs für eine Verfassung Kataloniens. Dazu kommt noch ein Gespräch mit Elisenda Paluzie, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität Barcelona – und seit März 2018 auch Präsidentin des ANC.

Kondensiert man den Diskurs der Katalanisten, lautet das Ergebnis etwa so: Katalonien hat eine tausendjährige Kultur. Seit 300 Jahren, dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs, ist die katalanische Nation in den spanischen Staat zwangsweise integriert. Auch nach dem Ende des Franquismus und der Verfassung von 1978 hat der „bösartige“ (p. 29) Zentralstaat nicht aufgehört, Katalonien zu diskriminieren. Mit dem Kassieren wichtiger Bestimmungen des Autonomiestatuts von 2006 durch das Verfassungsgericht wurde ein Tipping-Point erreicht, mit der Folge einer immer stärker werdenden zivilgesellschaftlichen Bewegung und einem Strategiewandel der Regierungsparteien in Katalonien. Ein Referendum über den künftigen politischen Status Kataloniens abzuhalten mit der Option, einen eigenständigen Staat zu gründen, war damals (2015) die zentrale Forderung. In dem Narrativ ist kein Platz mehr für einen ethnischen Katalanismus, der inzwischen als überholt angesehen wird. Die Frage der Sprache(n) in einem katalanischen Nationalstaat wird unterschiedlich gesehen. Ob Artur Mas, der Katalonien auf einem guten Weg zu einem komplett zweisprachiges Land sah (p. 88), das heute noch so sagen würde, sei dahingestellt. Allenfalls in Bezug auf Tugenden wie Pünktlichkeit und Sparsamkeit oder die besondere Friedfertigkeit der Katalanen, wird der Nationalcharakter noch herangezogen.

Außer den katalanischen Persönlichkeiten wurden auch deutschsprachige Wissenschaftler befragt, namentlich Kai-Olaf Lang (Berlin), Nico Krisch (Genf), Tilbert Didac Stegmann (Frankfurt a.M.), Klaus-Jürgen Nagel (Barcelona), des Weiteren Bernhard von Grünberg, bis 2017 SPD-Abgeordneter des Landtages NRW, und schließlich der lettische Schriftsteller und Journalist Otto Ozols.

Von den Nicht-Katalanen ist das Interview mit Kai-Olaf Lang, der die Beziehungen Kataloniens zum Zentralstaat und zur EU nüchtern einschätzt, sehr informativ und auch der Beitrag des Völkerrechtlers Nico Krisch der die staats- und völkerrechtlichen Möglichkeiten für mehr Unabhängigkeit Kataloniens auslotet. Seine Anregung, die UN-Deklaration zu den Rechten indigener Völker auf Volksgruppen wie die Katalanen und Basken anzuwenden, und ihnen darüber Autonomierechte zu verschaffen, erscheint mir indes für ein Katalonien, dessen Bewohner überwiegend einen Migrationshintergrund haben und eine Bewegung, die um keinen Preis mehr ethnisch definiert sein möchte und einen eigenen Staat anstrebt, etwas unpassend. In anderen Gesprächen mit nicht-katalanischen Experten kommt es vereinzelt zu Aussagen, die schwer nachzuvollziehen sind. So meint der Gesprächspartner aus Lettland, „In Lettland gibt es immer noch lettische und russische Schulen. In diesem Sinne sind die Katalanen für uns ein Vorbild. Bildung in einer einzigen Sprache ist der beste Weg, damit eine Gesellschaft gegenseitiges Verständnis lernt“ (p. 257). Auf andere Weise erscheint die Einschätzung des befragten Romanisten etwas verstiegen, der sagt, dass er „keinen ernst zu nehmenden katalanischen Künstler, Akademiker, Intellektuellen, Sprachwissenschaftler oder Wirtschaftsfachmann mehr kenne, der die Unabhängigkeit Kataloniens nicht für dringend notwendig hielte“ (p. 184). Eduardo Mendoza, um nur ein wichtiges Gegenbeispiel zu nennen, wäre demnach kein Katalane, oder er wäre nicht ernst zu nehmen. Unter dem Strich sind aber auch die Interviews mit den Nicht-Katalanen aufschlussreich.

Wünschenswert wäre ein ähnlicher Interviewband – nicht mit der Gegenseite der spanischen Nationalisten ­ –, sondern mit denen, die den Glauben an einen dritten, integrativen Weg noch nicht aufgegeben haben.

Krystyna Schreiber: Die Übersetzung der Unabhängigkeit. Wie die Katalanen es erklären, wie wir es verstehen. Interviews mit führenden Persönlichkeiten und Experten über Kataloniens Anliegen. Dresden: Hille Druckerei und Verlag 2015; ISBN 9783939025603