Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus

Ein gut verständliches Buch über einen schwer verständlichen Prozess

Rezension von Knud Böhle

Katalanisten verstehen

Für den unvoreingenommenen politisch Interessierten in Deutschland ist der katalanische Nationa­lismus und sein Ziel, einen neuen Nationalstaat durch Abspaltung von Spanien zu gründen, nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Das Fremdverstehen ist dadurch erschwert, dass es in Deutschland derzeit kein nennenswertes Nationalitätenproblem und keine Unabhängigkeitsbewegung gibt. Dazu kommt, dass es auch keine relevante politische Partei gibt, die das Grundgesetz und mithin die fö­derale Struktur der Bundesrepublik oder die Staatsform grundsätzlich in Frage stellte. Die im Wall­stein Verlag erschienene Schrift der an der Humboldt Universität lehrenden Historikerin Birgit Asch­mann verspricht, den katalanischen Nationalismus und besonders seine Radikalisierung als Unab­hängigkeitsbewegung, etwa seit 2010, einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen.

Die unglaubliche Wachstumskurve des katalanischen Separatismus

1976, im ersten Jahr nach Francos Tod, sprachen sich nur zwei Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit aus (vgl. S. 159). Im Referendum über die Verfassung von 1978, die das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen festschrieb, stimmten (bei einer Wahlbeteiligung von 68 Prozent) 90,5 Prozent der Katalanen für diese Verfassung. Vier Jahrzehnte später zeigte sich ein völlig verändertes Bild: Der Präsident der Regierung der autonomen Region Katalonien Carles Puigdemont verkündete am 10. Oktober 2017: «Katalonien konstituiert sich als unabhängiger Staat in Form einer Republik» (vgl. S. 230). Sekunden später wurde diese einseitige Unabhängigkeitserklärung zwar ausgesetzt. Aber am 27. Oktober 2017 wurde dann über die Unabhängigkeitserklärung im katalanischen Regionalparlament, der Generalitat, abgestimmt. Die zu dem Zeitpunkt pro-separatistische Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür. Von den 135 Abgeordneten des katalanischen Parlaments galten 72 als Unabhängigkeitsbefürworter. Bei der Abstimmung am 27. Oktober wurden 70 gültige Stimmen pro Unabhängigkeit abgegeben.

Der nach dieser einseitigen Unabhängigkeitserklärung vorgesehene Konstitutionsprozess eines neuen Nationalstaats, der katalani­schen Republik, kam de facto nicht in Gang. Noch am selben Tag wurde die katalanische Regierung abgesetzt, das Parlament aufgelöst, und eine Zwangsverwaltung gemäß § 155 der spanischen Verfas­sung trat in Kraft. Außerdem wurden Neuwahlen in der autonomen Region anberaumt. Haftbefehle gegen hochrangige Protagonisten der Unabhängig­keitsbewegung wurden wenige Tage später erlassen. Nach der Wahl am 21. Dezember 2017 dauerte es bis zum 14. Mai 2018 bis eine neue Regierung in Katalonien gebildet wurde und die Zwangsverwaltung endete.

Damals wie heute haben die Parteien, die für eine Unabhängigkeit Kataloniens eintreten, eine knap­pe Sitzmehrheit im katalanischen Parlament. Das bedeutet nicht automatisch, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben. Das Wahlsystem und die Wahlbeteiligung wären für eine korrekte Beurteilung einzubeziehen. Im Jahr 2017 entsprach die Mehrheit der Sitze der separatistischen Parteien keiner Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Rechnerisch wäre nach der letzten Wahl (14. Februar 2021) eine linke (sinngemäß: sozialdemokratische) Koalitionsregierung möglich gewesen. Dem stand jedoch das In­teresse der separatistischen Mehrheit im Parlament entgegen, die am politischen Projekt der Unabhängigkeit fest­hielt. Innerhalb der Regierungsparteien gibt es derzeit unterschiedliche Auffassungen, ob das Ziel, die Unabhängigkeit Kataloniens zu erreichen, kurzfristig oder eher mittel- bis langfris­tig anzusetzen ist, und ob eine einseitige Unabhängigkeitserklärung weiterhin als politische Option gesehen wird. Es dürfte unter den nationalistischen Katalanen außerdem auch unechte Separatisten geben, denen die Unabhängigkeitsforderung als strategisch einzusetzendes Mit­tel dient, um den Zentralstaat an den Verhandlungstisch zu zwingen und einen vorteilhaften Sonderstatus für Katalonien im föderalen spanischen Staatsgebilde zu erstreiten.

Juristisch wird manchmal zwischen Separation und Sezession unterschieden, wo­bei erstere eine Zustimmung des Gesamtstaats zur Abspaltung (etwa auf Basis eines legalen Referen­dums) voraussetzt, während die letztere die Nicht-Zustimmung des Gesamtstaates zur Abspaltung, wie bei der einseitigen Unabhängigkeitserklärung 2017 in Katalonien, in Kauf nimmt. Ein aus einer solchen Abspaltung hervorgehender Neustaat dürfte vergleichsweise geringe Chancen haben, inter­national anerkannt zu werden.

Fragestellung der Analyse und emotionsgeschichtlicher Ansatz

Die zentrale Frage des Buches ist, wie es von der relativ geringen Virulenz des politischen Katala­nismus zumindest bis zum Jahr 2006 zu diesem unwahrscheinlichen Erstarken des katalanischen Nationalismus kommen konnte. Wie konnte es dazu kommen, dass nicht mehr der Ausbau und die Vertiefung der regionalen Autonomie (Autonomismus) das Ziel weiter Teile des politischen Katalanismus blieb, son­dern die Abspaltung von Spanien und die Gründung eines eigenen Staates zum neuen Erwartungs­horizont wurde?

Um die Dynamik des Prozesses (el Procès) besser zu verstehen, verfolgt Aschmann die Wendungen und Wandlungen des politischen Katalanismus von seinen Anfängen bis zur aktuel­len Lage Ende 2020. Das Besondere an der Darstellung, auch im Unterschied zu zahlreichen spanischen Analysen des Procès, ist die emotionsgeschichtliche Perspektive ihrer Untersuchung (vgl. S. 15 und S. 160). Das Augenmerk wird folglich auf Phänomene wie die Emotionspolitik als Herrschaftsmittel und Machtinstrument, auf die Eigenlogik von Emotionen und die Dialektik von emotionaler Gemeinschaftsbildung und sozialer Ausgrenzung gelegt. Erwartungen, Enttäuschungen, Ängste und Wut, Empörung und Ressentiments spielen für die Dynamik des Prozesses eine große Rol­le.

Der jüngere katalanische Nationalismus wird dabei nicht als regional einzigartige, singuläre soziale Bewegung verstanden, sondern in den größeren Kontext einer in den letzten zwei Jahrzehnten weit­hin beob­achtbaren veränderten Emotionskultur gestellt, die eine stärkere Emotionalisierung von Po­litik und Gesellschaft auszeichnet. Diese Veränderung wird – mit Verweis auf den Soziologen An­dreas Reckwitz ­– als Signum der Spätmoderne begriffen, und an Phänomenen wie erstarkendem Na­tionalismus und Populismus, neuen sozialen Bewegungen der Empörung und sozialen Bewegungen entlang von Identitätsfragen – eben auch von kollektiven Identitäten – festgemacht. Auch in anderer Hinsicht operiert der periphere Nationalismus Kataloniens nicht isoliert, sondern beobachtet andere periphere Nationalismen und separatistische Bestrebungen außerhalb des Landes und ist mit diesen in Kontakt. In Spanien sind die Entwicklungen im Baskenland unbestritten die wichtigste Referenz (vgl. S. 194f.).

Katalanismus von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Ende des Franquismus

Im Anschluss an die Einleitung, die Ansatz und Fragestellungen der Arbeit erläutert, wird die Ge­schichte und mithin auch die Emotionsgeschichte des Katalanismus chronologisch in drei Kapiteln abgehandelt (vgl. dazu im Detail das Inhaltsverzeichnis). Für das 19. Jahrhundert wird als kennzeichnend ein Regionalismus mit doppelten Identitäten und die Ko­existenz emotionaler Gemeinschaften herausgearbeitet (Kapitel II). Das folgende Kapitel (III) be­schreibt die Formierung des katalanischen Nationalismus ab 1898 im Kontext der spanisch-katala­nischen Geschichte bis zum Tode Francos 1975. Der Zeitraum umfasst die Monarchie bis zur Dikta­tur Pri­mo de Riveras, die Diktatur Primos (1923-1930), die Zeit der Zweiten Republik und des Bür­gerkriegs (1931-1939) und schließlich die lange Zeit der Franco-Diktatur (bis 1975). Es wird aufge­zeigt, dass der zentralistische spanische Nationalismus während der beiden Diktaturen den periphe­ren katalanischen Nationalismus nicht ausschalten konnte, sondern indirekt sogar eher bestärkte. Aschmann spricht von der «Dialektik von katalanischen Autonomieansprüchen und spanischem Nationalismus» (S. 68). Eine Art nationalistisches Hochschaukeln ist auch heute zu beobachten.

In den Jahren der Republik wurde zwar gleich anfangs eine kata­lanische Republik «in der Föderation iberischer Republiken» (1931) proklamiert (und nach drei Ta­gen wieder zurückgenommen) und 1934 ein katalanischer Staat «innerhalb der föderalen spanischen Republik» ausgerufen (und zehn Stunden später gewaltsam abgeschafft). Aber beide Vorstöße in Rich­tung Föderation realisierten sich nicht, waren nicht von Dauer und sehr spezifischen historischen Um­ständen geschuldet. Tatsächlich erreicht wurde während der Zweiten Republik ein Autonomiestatut für Katalonien. Dar­an konnte nach 1975 angeknüpft werden.

Während des Franquismus entwickelte sich innerhalb des Katalanismus, so die Autorin, der gegen die Diktatur gerichtete und die Katalanen einigende «katholische Katalanismus zur hegemonialen Kraft» (S. 101). Bemerkenswert ist auch die Schaffung starker zivilgesellschaftlicher Organisatio­nen wie Crist y Catalunya (1954) oder Òmnium Cultural (1961) bereits unter der Diktatur (vgl. S. 103, S. 107).

Katalanismus in der Demokratie 1975 bis 2010: Autonomismus und nation-building

In die Zeit von 1975 bis 2009 (Kapitel IV) fielen die Verfassungsgebung (1978) und der Aufbau des spanischen Autonomiestaats (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Dis­kussionen das im Spaniene­cho besprochene Buch von Aschmann und Waldhoff). In der autonomen Gemeinschaft Katalonien regierte von 1980 bis 2003 eine bürgerliche Koalition mit Jordi Pujol als Regierungschef (Präsident der Generalitat). Als Pujolismo wird diese politischen Ära heute bezeichnet, die im Zeichen des institutionellen Ausbaus der Autonomie (S. 128) im Sinne eines nation-building (S. 133) stand. Das meint eine Katalanisie­rung der Sprachpolitik, der Me­dienpolitik, der Bildungs- und Schulpolitik, und nicht zuletzt des Geschichtsnarrativs.

Zentraler Baustein der Geschichtsrevision wurde das «katalanistische Opfernarrativ», das in seiner kürzesten Form aus dem Mund eines Unabhängigkeitsbefürworters lautet «Wir haben immer nur in die Fresse gekriegt» (vgl. S. 187). Diese Sicht spiegelt das Ressentiment, das sich aus (realen oder vermeintlichen) wiederholten Niederlagen und dauerhaften Ohnmachtserfahrun­gen und der Er­innerung daran speist. Ressentiments verbinden sich leicht mit aversiven Gefühlen. Für die katalani­sche Unabhängigkeitsbewegung spielte die Aktualisierung des «katalanisch antispanischen Ressen­timents» (S. 190) eine zentrale Rolle. Gemäßigt im Ton, aber unmissverständlich bemerkt Aschmann, dass sich auch Fachhistoriker daran beteiligten: «Die Bereitschaft, die kontinuierliche Unterdrückung durch ‹Spanien› für eine Tatsache zu halten, war umso größer, als professionelle Historiker das ihre dazu beitrugen, die The­sen zu plausibilisieren» (S. 187).

Im Jahr 2003 wurde das bürgerliche Parteienbündnis unter der Führung Pujols von einer linken Koa­lition unter dem Sozialisten Pasqual Maragall von der PSC (Partit dels Socialistes de Catalunya) abgelöst. Ein Ziel dieser Regierung war es, ein neues Autonomiestatut für Katalonien zu erwirken, in dem un­ter anderem Katalonien als «Nation» anerkannt werden sollte. Damit waren, wie Asch­mann es vorsichtig formuliert «überaus heikle Bereiche der spanischen Verfassung tangiert» (S. 151).

Da es keine Vorprüfung der Verfassungsmäßigkeit des auf den Weg gebrachten Autonomiestatuts gab, konnte das Statut, wenngleich mit erheblichen Veränderungen am Text, im spanischen Parla­ment angenommen werden, und nach einem positivem Referendum in Katalonien auch 2006 in Kraft treten. Nicht zuletzt von der konservativen Volkspartei (Partido Popular), die zu der Zeit in der Opposition war, wurde danach noch gegen das Statut vor dem Verfassungsgericht geklagt. Die höchstrichterliche Entscheidung zog sich bis 2010 hin. Einige Passagen des Statuts waren dem­nach nicht verfassungs­konform. «Das Scheitern des Versuches, Katalonien offiziell den Sta­tus einer ‹Nation› zuzuschreiben, bildete den Ausgangspunkt einer politischen Kehrtwende» (S. 160). Von da an war ein schneller Anstieg der Zahl der Unabhän­gigkeitsbefürworter zu verzeichnen.

Katalanismus in der Demokratie ab 2010: der Procés als Kind der Empörung

Vor allem ab 2010 stellte die katalanische Zivilgesellschaft ihre außerordentliche Organisationsfä­higkeit, ihr Mobilisierungspotenzial und ihre beeindruckende Kreativität unter Beweis. Ein Element waren die «subversiven Urnengänge» (S. 168) zwischen 2009 und 2011, bei denen fast 60 Prozent aller katalanischen Gemeinden darüber abstimmten, ob Katalonien ein «unabhängiger und demokrati­scher Sozialstaat innerhalb der Europäischen Union» werden sollte (vgl. ebd.). Ein anderes Element waren die Massendemonstrationen, die jeweils am Nationalfeiertag der Katalanen, der Diada, am 11. September stattfanden, und offenkundig Hunderttausende, bisweilen sogar mehr als eine Million Menschen auf die Straße brachten. Aschmann unterstreicht die Bedeutung dieser kollekti­ven emotionsgeladenen performativen Aktionen, also das aktive Dabeisein und Mittun, für das Ge­meinschaftsgefühl der katalanischen Nationalisten (S. 179). Zur Kreativität der Bewegung gehörte es auch, die Anschlussfähigkeit für nicht separatistische Teile der Bevölkerung und der Öffentlich­keit zu erhöhen. Die Forderung auf das «Recht zu entscheiden» (vgl. S. 168) wurde nicht nur von Unabhängigkeitsbefürwortern unterstützt.

Genauso wichtig, oder sogar noch wichtiger aus emotionshistorischer Perspektive war eine Trans­formation des emotional regime. Den zwei stärksten zivilgesellschaftlichen Organisationen Òmnium Cultural mit Muriel Casals an der Spitze und der neu gegründeten Assemblea Nacional Catalana (ANC) mit Carme Forcadell an der Spitze gelang es, so Aschmann, das emotional regime der Be­wegung zu revolutionieren und die «Revolution des Lächelns» (revolució dels somriures) auf den Weg zu bringen. «Dabei handelt es sich keineswegs um ein vermeintlich essentiell ‹weibliches› Ver­halten, sondern um eine gezielte Strategie dieser Frauen, anhand eines spezifischen Emotionsmana­gements dem katalanischen Nationalismus im In- und Ausland erhebliche Sympathiegewinne zu er­möglichen. Das erforderte eine strikte Abgrenzung von aggressiven Emotionen und Praktiken» (S. 174).

2012 war das Jahr, in dem die entscheidende Wende vom Autonomismus zum Separatismus Gestalt annahm und die nächste Drehung an der Unabhängigkeitsschraube erfolgte. Für diese Phase war das neuartige Zusammenspiel von separatistischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Re­gionalregierung charakteristisch. Deren Präsident Artur Mas und dessen Partei hatten bis dahin für den Ausbau der Rechte und Kompetenzen der autonomen Gemeinschaft gestanden. Das Scheitern der Verhandlungen der Regionalregierung in Madrid über einen neuen Fiskalpakt, der für Kataloni­en ähn­lich vorteilhafte Bedingungen vorsah, wie sie das Baskenland bereits erreicht hatte (vgl. S. 182), werden zu einem Sinneswandel bei Artur Mas und zum Schulterschluss mit den separatisti­schen Kräften beigetragen haben.

Eskalation und Implosion des Procés

Die neue Phase der Eskalation, die bei Aschmann minutiös beschrieben wird, setzte dann nach der Diada 2012 ein, als Artur Mas «staatliche Strukturen für Katalonien» ankündigte und mit Diplocat im November 2012 einen «diplomatischen Dienst» Kataloniens ins Leben rief und für das Ende des Jahres Neuwahlen ankündigte, die plebiszitären Charakter haben sollten. Mit anderen Worten: die Wähler wurden aufgerufen, mit ihrer Stimmabgabe für eine der separatistischen Parteien, diesem Lager ein Mandat für weitere politische Schritte auf dem Weg der Abspaltung zu erteilen.

Einige wenige Hinweise genügen, um deutlich zu machen, dass der Procés von da an in vollem Gang war. Immer mehr Schritte wurden unternommen, die nicht oder nur schwerlich in Einklang mit der spanischen Verfas­sung zu bringen waren: 2013 proklamierte das Regionalparlament die «Souveränität» des katalani­schen Volkes, 2014 erfolgte eine Konsultation ohne bindenden Charakter (eine Art Surrogat für ein Unabhängigkeitsreferendum), 2015 wurde wieder eine Wahl mit plebiszitärem Charakter durchgeführt, im Juni 2016 wurde beschlos­sen, nun ein bindendes Referen­dum über die Unabhängigkeit durchzuführen, im September 2017 folgten Gesetze zur Vorbereitung der Unabhängigkeit, und im Oktober 2017 kam es zu dem Referendum und dem Ausrufen der katalanischen Republik.

Es folgte, was bereits oben angesprochen wurde. Aschmann spricht von einer «nachgerade ge­räuschlosen Implosion des Procés» (S. 240). Dass es kaum zu Gewalt kam und dass die zentralstaat­liche In­tervention friedlich verlief, wird mit dem emotionalen Regime, zu dem ganz entscheidend auch die Gewaltlosigkeit gehörte, erklärt, aber auch damit, dass die Separatisten über den Punkt der Unab­hängigkeitserklärung hinaus keine präzisen Vorstellungen über weitere Schritte und Vorge­hensweisen entwickelt hatten (vgl. S. 241). Dazu kam, dass auch die Zentralregierung inzwischen (nach ihrem gewaltsamen Einschreiten am Tag des Referendums am 2. Oktober) gelernt hatte, dass in den internationalen Medien veröffentlichte Bilder schlagender Polizisten ihrem Image schadeten. Aschmann gibt zu bedenken, dass es auch anders hätte kommen können: «Was passieren würde, wenn in der spannungsgeladenen Situation gewaltbereite katalanische und spanische Akteure aufeinanderträfen, war keineswegs ausgemacht» (S. 242).

Fazit und Schlussbemerkungen

Die Autorin liefert auf 250 Seiten die derzeit beste deutschsprachige Darstel­lung des politischen Katalanismus von seinen Anfängen bis zum Jahr 2020. Der Ton ist sachlich, die Darstellung konzis und die Sprache eingängig. Der gewählte emotionsgeschichtliche Ansatz be­währt sich als Leitfaden durch das dynamische Geschehen des Procés. Er dürfte auch geeignet sein, ein breiteres Publikum anzusprechen.

Im Ergebnis wird die katalanische Unabhängigkeitsbewegung aus verschiedenen Gründen kri­tisch gesehen. Rechtlich erscheinen die Verstöße der Separatisten gegen die Buchstaben der Verfassung von 1978 und die Missachtung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts problematisch. Sachlich ist die Arbeit der separatistischen Kräfte am Narrativ der spanisch-katalanischen Geschichte problematisch, weil sie in mehreren Punkten als wissenschaftlich nicht haltbar nachgewiesen werden kann. Dazu kommen zwei kritische Punkte in Bezug auf das Demokratieverständnis der Separatisten, die sich selbst als vorbildlich demokratisch verstehen. Da ist zum einen die Kritik am mangelnden Respekt der Separatisten für die demokratischen Verfahrensregeln des katalanischen Parlaments (besonders in der heißen Phase des Procés 2016/2017). Zum anderen wird auf das demokratische Defizit der Bewegung hingewiesen, das darin liegt, dass sich die separatistischen Parteien auf Basis einer knappen Sitzmehrheit im Regional­parlament ermächtigt fühlten, für alle Katalanen (und alle Spanier) ­in einer so grundsätzlichen, die Zukunft betreffenden Angelegenheit, einseitig zu entscheiden.

Eine emotionsgeschichtliche Analyse, hier des Procés, sollte sich der Gefahr bewusst sein, spekulative Zuschreibungen von Gefühlen vorzunehmen, die empirisch kaum überprüfbar sind. Für den politischen Journalismus ist das kein Problem, für die Wissenschaft kann es dazu werden. Ein Beispiel: Welche Gefühle beherrschten Carles Puigdemont am Tag vor der Abstim­mung über die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober 2017? Nach Ansicht der Autorin «dürfte sich bei Puigdemont eine Konkurrenz der Ängste etabliert haben: Der Angst vor den politischen, sozia­len und ökonomischen Folgen der Unabhängigkeit standen die Befürchtungen bezüglich des eige­nen Karriereendes und das Unbehagen angesichts persönlicher Diffamierung gegenüber» (S. 235). Das mag so sein, aber wir wissen es nicht. Dazu kommt, dass das gewählte Gefühlslabel «Angst» auch eine suggestive Komponente beinhaltet. Von der Aussage her (der Angst vor den Folgen der Unabhängigkeit) hätte zum Beispiel auch von «Verantwortungsgefühl» gesprochen werden können, was einen anderen Klang gehabt hätte. Verantwortung wäre, auf den Procés und seine Protagonisten bezogen, wohl auch die politisch ergiebigere Kategorie.

Das Ziel der präzise fokussierten Studie, «die Eigenlogik von Emotionen zu analysieren und damit die Entwicklung zumindest retrospektiv zu verstehen» (S. 15), wurde erreicht. Gleichzeitig haben aber gerade die Einsichten in die Mechanismen der Eskalation den Wunsch erzeugt, noch besser und auf andere Weise zu verstehen, was die Personen, die sich in der Unabhängigkeitsbewegung engagieren, sozial, politisch und ökonomisch charakterisiert und motiviert. Dieses Desiderat soll abschließend an zwei Fragekomplexen verdeutlicht werden. Der eine betrifft das «antispanische Ressentiment», der andere die sozialen Faktoren, die eine Hinwendung zum Katalanismus begünstigen.

In dem Buch wird das «antispanische Ressentiment» und der sich daraus speisende Hass angeführt. Die Frage bleibt offen, gegen wen sich dieser Hass eigentlich richtet? Gegen die Regierung in Madrid? Gegen jede Regierung in Madrid? Gegen das politische System? Gegen die Spanier, die in Katalonien leben und Katalanen und Spanier sein wollen? Gegen alle Spanier? Bleibt das Ressentiment auf der rhetorisch-diskursiven Ebene oder manifestiert es sich auch im Alltagsleben in entsprechenden Praktiken? Lässt sich die (vermeintliche oder reale) Diskriminierung der Nicht-Separatisten durch die Katalanisten im Alltag nachweisen? Und andersherum gefragt: Wie schlägt sich die (vermeintliche oder reale) Unterdrückung der Katalanen durch den Zentralstaat im Alltag insbesondere der Separatisten nieder?

Dieser Fragenkomplex, der das Alltagsleben in Katalonien hinterfragt, verlangt empirische Untersuchungen, ebenso wie der zweite Fragenkomplex, der insbesondere auf den sozialen Hintergrund und die Interessen der Akteure zielt. Welche Personenkrei­se spricht der Separatismus an, und mit welchen ökonomischen Interessen ist er verbunden? Asch­mann gibt erste Hinweise, wo die Unabhängigkeitsbewegung stark ist: in einigen städti­schen Hochburgen wie Girona im Nordosten Kataloniens und in Gemeinden im Landesinne­ren (vgl. S. 169). Es wäre wünschenswert, hier weiter zu gehen, um die Struktur der Bewegung mit Blick auf Altersverteilung, Bildungsgrad, Einkommen und soziale Stellung zu ermitteln. Ist der radikale Katalanismus eher ein Mittelschichtenp­hänomen oder eine breite, sich aus allen Schichten speisende Bewegung? Wie ist die soziale Charakteristik derer, die keine separatistischen Parteien oder gar nicht wählen? Wie ist die Ein­stellung der ökonomischen Eliten und der mächtigen katalanischen Familien zum Procés und wie wirken sie auf ihn ein? Solche Untersuchungen sind freilich nicht primär von der Geschichtswissenschaft einzufordern, sondern von anderen Sozialwissenschaften und guten Journalisten. Wenn es solche Untersuchungen in Spanien und besonders in Katalonien schon gibt, wäre es außerordentlich verdienstvoll, ihre Ergebnisse auch in der deutschen Öffentlichkeit zu verbreiten.

Der Procés ist noch nicht zu Ende. Was die historische Arbeit von Birgit Aschmann eindrucksvoll gezeigt hat und was auch für die Zukunft des Konflikts im Auge zu behalten ist: Vieles ist noch möglich, und selbst das Unwahrscheinli­che kann nicht ausgeschlossen werden.


Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1

Der Text ist beim Verlag auch als E-Book im PDF-Format erhältlich



2 Gedanken zu “Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus

  1. Werner Wuertele 14. November 2021 / 11:55

    Lieb Knud,

    hier begegnet ein sehr belesener Rezensent einer Historikerin auf
    Augenhöhe oder vielleicht sogar noch drüber.

    Eine kleine kritische Anmerkung hätte ich dann doch, ohne dass ich alles
    intensiv gelesen hätte: Ich finde, dass der Rezensionsteil stärker nach
    oben gehört hätte. So könnten Kritiker vorbringen, dass es Dir in erster
    Linie um die Präsentation Deines Wissens und weniger um das Buch
    gegangen wäre. Doch sei´s drum, Dein Inhaltlich  so reicher Beitrag zählt.

    Bist Du noch im fernen Sevilla? Du Beneidenswerter! Herzliche Grüße
    Werner und Adriana

    Like

  2. Knud Otto Böhle 20. Dezember 2021 / 19:48

    Klar, schon mitgekriegt. Ich wünsche ihm eine glückliche Hand und viel Verstand…

    Gruß Knud

    Like

Hinterlasse einen Kommentar