Spanien nicht nur für Anfänger
Rezension von Knud Böhle | 17.07.2019 (durchgesehen 02.08.2020)

Zum einen greift er gängige Spanien-Topoi auf und hinterfragt sie. Was ist dran an Flamenco, Siesta, Stierkampf, spanischer Küche und den für typisch gehaltenen Sitten und Gebräuchen? Häufig werden die persönlichen Eindrücke durch Anekdotisches unterstützt. Zum anderen gelingt es Dahms, sowohl die neuere Geschichte als auch aktuelle soziale und politische Fragen in journalistischer Tonlage abzuhandeln. Dabei bringt er seine persönliche Meinung klar zum Ausdruck und spart nicht mit kritischen Einschätzungen. Für ihn steht z.B. außer Frage, dass die Franco-Diktatur bis 1959 nicht bloß eine autoritäre Herrschaftsform darstellte, sondern ein „terroristischer Staat“ war.
Die Beobachtung, dass den Spaniern weder in kleinem Kreis noch im politisch-öffentlichen Raum viel an einer produktiven Streitkultur gelegen sei, und sie nicht gut darin seien, Konsens zu erzielen, erscheint zunächst provokant. Mit Blick auf den Umgang der Parteien miteinander, etwa bei der Regierungsbildung, oder mit Blick auf die mangelnde Dialogbereitschaft im Katalonienkonflikt, kann man dieser These jedoch eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. Es spricht übrigens auch für dieses Länderporträt Spaniens, dass dieser Konflikt nicht ausgespart wird. Für Dahms geht es dabei im Kern nicht um Fragen des Völkerrechts, sondern um einen Konflikt zwischen zwei konkurrierenden politischen Ideologien, dem spanischen und dem katalanischen Nationalismus.
Ein weiteres inhaltliches und stilistisches Element ist die Vermittlung bestimmter Problemlagen über ihre Personalisierung. So erzählt uns Dahms von Emilio Silva, der seinen Großvater, ein Opfer der Franco-Diktatur, im Jahr 2000 exhumieren ließ. Wie viele andere auch, war auch dieser nach seiner Ermordung einfach in einem Massengrab verscharrt worden. Silva sollte dann alsbald mit anderen den „Verein zur Wiedererlangung des Historischen Gedächtnisses“ (ARMH = Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica“) gründen und entscheidend dazu beitragen, den „Pakt des Schweigens“ zu unterlaufen, und den Konsens in Frage zu stellen, nachdem der Übergang von der Diktatur zur Demokratie (die „transición“) als abgeschlossene Erfolgsgeschichte zu betrachten sei.
Die zweite Persönlichkeit, die Dahms besonders herausstellt, ist der Richter Baltasar Garzón, der international vor allem wegen seines Haftbefehls gegen Augusto Pinochet bekannt geworden war, in Spanien aber an vielen juristischen Fronten kämpfte: der Bekämpfung der Korruption, der Aufklärung der GAL-Affäre (staatlich zumindest tolerierte geheime Antiterrorkommandos gegen die ETA), der effektiven Bekämpfung des ETA-Umfelds und schließlich der Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen während der Franco-Diktatur – bis die spanische Justiz ihn deshalb zu Fall brachte. Das wirkliche Opfer des Garzón-Prozesses, daran lässt Dahms keinen Zweifel, war der spanische Rechtsstaat.
Ein vierter Baustein des Länderporträts sind gewissermaßen Antworten auf implizite Fragen vom Typ „Wie ist das denn bei den Spaniern?“ „Was ist ähnlich, was ist ganz anders als in Deutschland?“. Angesprochen werden u.a. die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zuwanderung, das Erziehungswesen, die Innovations- und Unternehmenskultur, der Stand bei den erneuerbaren Energien, die durch den Klimawandel sich verschärfende Frage der Verteilung der Wasserressourcen zwischen Nord und Süd, die politische Teilhabe der Regionen, die Krise der Monarchie, die politische Rolle der Kirche. Eine gute Orientierung bieten auch die Seiten zu der sich verändernden Medienlandschaft, die neben der Zeitungskrise auch durch Boulevardisierung und Krawallisierung gekennzeichnet ist. Auf seriöse Online-Zeitungen im Internet als Alternative wird hingewiesen.
Vielleicht muss sich der Autor von manchen die Frage gefallen lassen, wo denn das Positive bleibe. Dem beugt Dahms zwar schon in der Einleitung vor mit der Erklärung, dass er nur aus seinem persönlichen Blickwinkel schreibe und keine Liebesgeschichte schreiben wolle. Dabei kommt vielleicht die in Spanien durchaus beobachtbare, beeindruckende Veränderungskraft und Kreativität kollektiver Anstrengungen etwas zu kurz. Die Comisiones Obreras, jener sich während der Franco-Diktatur herausbildende Typ der Arbeitervertretung, deren Bedeutung für die Demokratisierung Spaniens durchaus mit der der Solidarność für Polen verglichen werden kann, wird gar nicht erwähnt. Auch die nach dem Platzen der Immobilienblase entstandene spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen und für Hypotheken-Opfer sowie die Entstehung zweier neuer Parteien (Podemos und Ciudadanos) als Antwort auf die Krise und die Korruption der beiden Altparteien PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) und PP (Spanische Volkspartei), wird nur am Rande behandelt.
Abschließend sei eine Bemerkung von Dahms aufgegriffen, der in Andrés Trapiello einen wichtigen spanischen, in Deutschland noch zu entdeckenden Schriftsteller sieht. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Daran anschliessend läßt sich sagen, dass ein Länderportrait durchaus gewinnen kann, wenn auf Literatur (in Übersetzung) aufmerksam gemacht wird, die gesellschaftliche Verhältnisse und Problemlagen anschaulich macht. Für Spanien leisten das etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, der Roman „Patria“ von Fernando Aramburu, der uns den Konflikt im Baskenland anhand zweier verwobener Familiengeschichten nahebringt, oder „Am Ufer“ von Rafael Chirbes, der uns die fatalen Folgen der geplatzten Immobilienblase am Beispiel eines kleinen Handwerksunternehmens drastisch vor Augen führt.
Kurzum: Ein Länderportrait wird nie allen Wünschen genügen können, aber Dahms ist es erstaunlich gut gelungen, ein Buch über Spanien für Anfänger und bereits gut Informierte (hier in der zweiten Auflage) vorzulegen.
Martin Dahms: Spanien – ein Länderporträt. Berlin 2018: Ch. Links Verlag, 2., aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-96289-048-3