Eine informativ-unterhaltsame Plauderei über spanische Themen
Rezension von Knud Böhle
Paul Ingendaay (Journalist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler) teilt in flüssiger Diktion einiges davon mit, was er im spanischen Alltag und auf Reisen im Lande gesehen und erlebt, und was er darüber hinaus in Gesprächen mit Spaniern und Spanierinnen erfahren hat. Er kann aus dem Vollen schöpfen, zumal er fünfzehn Jahre Feuilletonkorrespondent der FAZ für die Iberische Halbinsel mit Sitz in Madrid war (bis 2016). Der Name der Reihe bei Piper «Gebrauchsanweisung» steht in augenzwinkerndem Kontrast zu der Ich-Form, in der Paul Ingendaay von persönlichen Begegnungen, Einschätzungen und Vorlieben erzählt. Das Buch ist ein Longseller. Die erste Auflage erschien 2002; 2011 gab es eine überarbeitete Fassung, und im Mai 2021 erschien nun die hier besprochene aktualisierte Neuausgabe.
Im Laufe der Plauderei werden, wie zu erwarten, nicht wenige der gängigen Spanien-Stereotype und ‑Topoi aufgerufen. Dazu gehören auch einige angenommene Eigenheiten der Spanier und Unterschiede zu den Deutschen («Ordnung – oder was man in Deutschland dafür hält – ist in diesem Land keine erwünschte Tugend», S. 82). Ab und zu werden dazu spanische Vokabeln eingestreut und erläutert, von denen einige mit typischen Formen spanischen Sozialverhaltens zu tun haben, wie z.B. die envidia sana, der gesunde Neid, bei dem jemand um etwas beneidet wird, das man ihm aber gleichwohl gönnt, vgl. S. 14). Ebenso wird an passenden Stellen auch auf Filmschaffende (z.B. Luis Buñuel, Carlos Saura, Pedro Almodóvar) und Schriftsteller wie Rafael Chirbes, Eduardo Mendoza oder Fernando Aramburu hingewiesen, denen nicht nur gemeinsam ist, dass sie auch in Deutschland bekannt sind, sondern dass ihre Werke sich um die spanische Gesellschaft und ihren notorischen Probleme drehen.
Von Hochzeiten ist die Rede, von Kindern und Müttern und deren «ungewöhnliche[r] Mischung aus allgemeiner Fürsorge und partikularer Gleichgültigkeit» (S. 81), von den Konventionen bei Vor- und Nachnamen, von der Religiosität der Spanier, deren «satte Mehrheit» inzwischen der «nicht praktizierende Katholik» darstelle (S. 101). Von den wunderbaren Kellnern wird gesprochen, von der Hotelkette der Paradores und ihrer Entstehung, vom Massentourismus und Benidorm, und von den weniger frequentierten Gegenden der Costa de la Luz und der Extremadura, die es dem Autor besonders angetan haben. Auch den „im völkerrechtlichen Sinn anachronistischen“ (S. 204) spanischen Exklaven in Nordafrika, Ceuta und Melilla, und der britischen Exklave Gibraltar wird ein Kapitel gewidmet. Es fehlen auch nicht die erwartbaren Klassiker wie Fußball, Semana Santa, Stierkampf, und für den Literaturfreund ein Muss, auch nicht der Don Quijote von Miguel de Cervantes: «Alles, wirklich alles aus Spaniens Goldenem Zeitalter ist angestaubt, also erklärungsbedürftig – nur dieser Roman voller Schönheit, Blödsinn, Rührung und Wahn nicht» (S. 76).
Eine Stärke dieses leichtfüßigen Reisebuchs liegt darin, dass es trotzdem gelingt, auch Probleme, die Spanien wirklich plagen, zum Thema zu machen. Das gilt für den Katalonienkonflikt, die ETA und den baskischen Nationalismus sowie seine problematische Bekämpfung staatlicherseits. Das trifft auch für den Themenkomplex Immobilienspekulation, Immobilienblase, Zwangsräumungen, Bankenkrise, Wirtschaftskrise und deren Folgen zu. Und das schließt auch die Aufarbeitung der Vergangenheit mit den ungezählten Massengräbern aus der Zeit der Franco-Diktatur ein. Es wird vermutet, dass noch 100.000 Opfer der franquistischen Repression in anonymen Massengräbern liegen. Die zivilgesellschaftliche Antwort auf dieses lange verdrängte Problem begann mit einer Person, mit Emilio Silva, derim Jahr 2000 seinen Großvater, der Anfang des Bürgerkriegs getötet worden war, exhumieren und würdig bestatten wollte. Daraus entstand mit der Zeit «eine Volksbewegung ohne Ideologie oder politische Agenda» (S. 123 f.). Ingendaay legt den Finger auch in eine andere Wunde: die unmenschliche Behandlung marokkanischer Arbeiter in der Landwirtschaft Andalusiens. Er war vor Ort und hat sich die Unterbringung der Arbeitskräfte angesehen. «Da wusste ich, dass es Tomaten und Gurken in der Provinz Almería besser haben als Menschen!» (S. 109 f.).
Das erste Kapitel, in dem der Autor unter anderem den Versuch unternimmt, den abgedankten König Juan Carlos I in Schutz zu nehmen, ist weniger gelungen. Selbst wenn der Autor meint, der König sei eben ein «Outdoor-Typ», der sich mit der Zeit im Amt gelangweilt (vgl. S. 13), und sich lieber Männersachen gewidmet habe, so wäre an dieser Stelle auch ein Hinweis auf die erheblichen finanziellen Unregelmäßigkeiten und Rechtsverstöße nötig gewesen, die dem König vorgeworfen werden. Außerdem darf man sich wundern, dass der Autor im Jahr 2021 noch die Ansicht vertritt, Juan Carlos I sei trotz allem «auf wundersame Weise der ‚König aller Spanier‘» (S. 14) geblieben. Neuere Umfragen sprechen eine deutlich andere Sprache.
Was erklärt die Attraktivität des Buches? An erster Stelle ist zu nennen, dass hier jemand von seinem persönlichen Standpunkt aus kenntnisreich und meinungsstark, aber nicht doktrinär, spricht. Egal wie viel oder wenig man selbst z.B. über den Stierkampf, den Quijote, die Semana Santa oder den Jugendstil in Barcelona wissen mag, bleibt es doch interessant zu erfahren, was ein bekannter Journalist und Spanien-Kenner darüber zu sagen hat. Dazu kommt, dass es Ingendaay häufig gelingt, Dinge sprachlich eingängig, präzise und direkt auf den Punkt zu bringen.
Weiterhin ist bemerkenswert, dass gekonnt mit hoch und tief gespielt wird:auf der einen Seite werden Zeichen bildungsbürgerlicher Gelehrsamkeit eingestreut, z.B. kurze Erwähnungen großer Autoren wie Rafael Sánchez Ferlosio oder Elias Canetti. Auf der anderen Seite werden z.B. Witze über die Leute aus Lepe, das spanische Pendant unserer Ostfriesenwitze, wiedergegeben. Hier und da wird auch Kurioses aus der High-Society eingeflochten: die Herzogin von Alba hatte das «verbriefte Recht, zu Pferd in die Kathedrale von Sevilla einreiten zu dürfen» (S. 49). Außerdem ist das Prinzip der Perlenschnur für die leichtgängige Lektüre wichtig. Damit ist gemeint, dass Themen nicht systematisch und erschöpfend kapitelweise abgehandelt, sondern wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht werden, wobei die Art und das Material der Perlen variiert.
Im Kapitel «Baumeister des Himmels» fängt der Erzähler zum Beispiel mit dem Nationalheiligen der Katalanen, Sant Jordi (Sankt Georg), an, dessen Gedenktag am 23. April ist, dann geht er weiter zum «Tag des Buches» in Barcelona (ebenfalls der 23.4.), stößt beim Flanieren auf Gaudí, den «Gestalter einer menschenfreundlichen Wohnkultur», schiebt einiges zu dessen Leben und Bauwerken ein, kommt von da zu den Nachteilen des Massentourismus für die Stadt und den Bemühungen der Bürgermeisterin Ada Colau, einen nachhaltigen Tourismus voranzubringen (S. 163), zu dem ja wieder ein Museumsbesuch gehören kann. So kann von da zum Maler Ramon Casas übergegangen werden:«keiner der Superberühmten», aber einer der «absoluten katalanischen Lieblingskünstler» (S. 164) des Autors. Gegen Ende des Kapitels gibt es dann noch einen Buchtipp zum katalanischen Jugendstil und zum Ausklang noch etwa Geplauder über den Charakter der Katalanen, die manche für die «Schwaben der Iberischen Halbinsel» halten.
Fazit: Die Lektüre hat sich gelohnt: ein paar Stunden gutes Infotainment, drei Orte Acorisa, Calanda, Seseña gegoogelt, zwei der im Text empfohlenen Bücher gleich antiquarisch bestellt ‒ und vorgemerkt, bei nächster Gelegenheit die Werke von Ramon Casas in Barcelona anzuschauen. Mehr Nutzen dürfte sich selten aus einer Gebrauchsanweisung ziehen lassen.
Paul Ingendaay: Gebrauchsanweisung für Spanien. Aktualisierte Neuausgabe. München: Piper 2021, ISBN: 978-3-492-27751-8
Über einen Stützpfeiler des Franquismus: Städtebau in Spanien als politisch zielgerichtet eingesetztes Herrschaftsmittel
Rezension von Knud Böhle
1. Einleitung
Uwe Altrock (Universität Kassel), Harald Bodenschatz (TU Berlin und Bauhaus-Universität Weimar), Jean-François Lejeune (University of Miami), Piero Sassi (federführend; Bauhaus-Universität Weimar) und Max Welch Guerra (Bauhaus-Universität Weimar) haben einen großformatigen (30 cm x 24 cm) mit 570 Illustrationen ausgestatteten Band zum Städtebau während der ersten 20 Jahre der Franco-Diktatur (1938–1959) vorgelegt.
Die Autoren sind renommiert und decken zusammen ein weites fachliches Spektrum ab, zu dem unter anderem Architektur, Architekturgeschichte, Stadt- und Raumplanung zählen, aber ebenso Politik- und Planungswissenschaft sowie Architektursoziologie. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur Erforschung des Städtebaus europäischer Diktaturen. Vergleichbare Arbeiten zu Deutschland, der Sowjetunion, Italien und Portugal sind in früheren Jahren bereits veröffentlicht worden.
Der Text-Bild-Band imponiert allein schon durch das vielfältige, mit aussagekräftigen Legenden versehene Bildmaterial. Dafür wurde aus zahlreichen Quellen, auch aus Sammlungen der Autoren selbst, geschöpft. Neben Fotos von Bauwerken, Städten und Statuen, werden auch Ansichtskarten, Pläne, Skizzen, Prospekte, Plakate, Bilder aus Filmen und anderes mehr einbezogen. Der mit dem Buch verbundene Anspruch geht selbstverständlich weit über den eines Bildbandes hinaus.
2. Anspruch der Studie
Für die Spezifizierung und das Anliegen der vorliegenden Studie sind zwei Grundannahmen zentral: Die erste Hypothese ist, dass die Protagonisten der Franco-Diktatur von Anfang an im Städtebau «ein wirksames Herrschaftsmittel» (S. 27, S. 342) erkannten, welches sie «politisch zielgerichtet» (S. 29) einsetzten. Die zweite Hypothese lautet, dass es während der ersten 20 Jahre der Diktatur «eine eigene, eine einzigartige Städtebaupolitik» (S. 31) gegeben hat, während das Regime ab 1960 dann weitgehend den Leitbildern der «westeuropäischen Nachkriegsmoderne» (S. 344) folgte. Diese doppelte Perspektive auf den Städtebau ermöglicht es den Autoren, Formen und Funktionen des Städtebaus in Wechselbeziehung zu der politischen, ideologischen und sozialen Konfiguration dieser Phase des Franquismus in den Blick zu nehmen.
Die Rezension wird sich vor allem mit der ersten Hypothese befassen. Eine kritische Erörterung der zweiten Hypothese, die den Sachverstand der mit dem Städtebau hauptsächlich befassten scientific communities erforderte, kann hier nicht geleistet werden. In der vorliegenden Besprechung wird bewusst auf Abbildungen verzichtet. Bildmaterial findet sich auf den Internet-Seiten des Verlags, die gleichzeitig einen Eindruck von der Gestaltung des Buches ermöglichen.
Für die Anlage und Rahmung der Publikation ist es wichtig, dass sie «mit dem deutschsprachigen Publikum vor Augen» (S. 34) verfasst wurde. Das bedeutet unter anderem, dass an vielen Stellen politische sowie städtebauliche Bezüge zu Deutschland aufgezeigt werden, wozu auch der Einfluss prominenter deutscher Architekten gehört ‒ etwa von Hermann Jansen, Paul Bonatz oder Otto Bartning. Der langjährige «intensive, deutsch-spanische, fachprofessionelle Austausch» (S. 79) ist dabei als Hintergrund mitzudenken.
Die Autoren reklamieren im Übrigen für sich eine andere Herangehensweise an ihren Gegenstand als die in Spanien übliche, die «architektengeprägt» sei (S. 37). Demgegenüber wird hier der Städtebau betont, der perspektivisch in den Kontext des Städtebaus jener europäischen Diktaturen gestellt wird, die zu Beginn der Franco-Diktatur in Europa bereits an der Macht waren.
3. Aufbau der Studie
Der Aufbau des Bandes ist didaktisch gut durchdacht und sorgfältig komponiert. An den Anfang, quasi als Ouvertüre, wird eine Bildstrecke von 20 Seiten gestellt, auf der die Hauptphänomene des Städtebaus, um die es gehen wird, exemplarisch aufgezeigt werden. Am Ende des Buches wird wiederum eine Bildstrecke geboten, die vor allem der Geschichtserinnerung und dem heutigen Umgang mit dem gebauten Erbe gewidmet ist. Das an die erste Bildstrecke sich anschließende Kapitel hat einleitenden Charakter. Es ordnet die Franco-Diktatur ein, erläutert den Forschungsstand und den eigenen Ansatz.
Das nächste Kapitel lässt sich als weitere Hinführung und hilfreicher Einstieg für ein deutsches Publikum begreifen. Im Vergleich zweier großer, 1942 in Madrid gezeigter Ausstellungen, namentlich «Neue deutsche Baukunst» und «Arbeiten der Generaldirektion für Architektur», werden die jeweilige Städtebaupropaganda und die unterschiedlichen Zwecksetzungen des Städtebaus sichtbar. Nazi-Deutschland hat die Niederlage von Stalingrad und die Zerstörung deutscher Städte noch vor sich, in Spanien geht es bereits um den Wiederaufbau im Bürgerkrieg zerstörter Städte, den Wohnungsbau und freilich nicht zuletzt um die bauliche Glorifizierung des Sieges.
In weiteren Kapiteln wird das Material ausgebreitet und erläutert. An manche der behandelten Themen hätte vermutlich kaum einer bei dem Stichwort Städtebau des Franquismus gedacht. Folgende acht Handlungsfelder des Städtebaus, die hier nur schlagwortartig angedeutet werden können, werden untersucht: (1) der Wiederaufbau im Krieg zerstörter Orte, (2) die Erneuerung und Erweiterung der Innenstadt Madrids und die Neugestaltung der Stadtregion, (3) der Altstadtumbau und der industrielle Städtebau in und um Barcelona, (4) die «Arbeiteruniversitäten – Universitätsstädte neuen Typs», (5) die Erneuerung der Altstädte, (6) Binnenkolonisation, Kolonistendörfer und Wasserbauinfrastruktur, (7) der Städtebau in den spanischen Kolonien Nordwestafrikas, und (8) das Tal der Gefallenen als «Schlüsselprojekt des franquistischen Städtebaus» (S. 322ff).
Zu den «Arbeiteruniversitäten» sei kurz erläutert, dass es weder um Universitäten noch um Berufsschulen im bei uns üblichen Verständnis ging, sondern um «totale Institutionen», wie der Soziologe ErvingGoffman sagen würde. In ihnen wurden Internat, ideologische Indoktrination durch die Falange und die Kirche mit Sekundarstufe und Fachausbildung gekoppelt, um regimetreue Eliten heranzuziehen. Anfangs gehörte in einigen Einrichtung auch die landwirtschaftliche Selbstversorgung dazu.
In den meisten Kapiteln werden typische Grundzüge des Städtebaus anhand herausragender Beispiele deutlich gemacht, wobei die Beispiele so gewählt sind, dass die städtebauliche Vielfalt deutlich aufgezeigt werden kann. Beim Thema Wiederaufbau etwa, werden die im Bürgerkrieg zerstörten Städte Brunete, Guernica und Belchite genauer untersucht. Bei den «Arbeiteruniversitäten» werden von den 21 Einrichtungen dieses Typs zwei, die von Gijón und Cordoba, eingehend (aber nicht ausschließlich) beleuchtet. Im Kapitel zur Altstadterneuerung werden Saragossa, Salamanca, Santander, Santillana del Mar und Granada als Beispiele gewählt.
Im letzten Kapitel werden auf wenigen Seiten (S. 340-351) die wichtigsten Einsichten aus den vorherigen, eher deskriptiven Kapiteln aufgenommen und in eine Gesamtsicht der Formen und Funktionen des Städtebaus im frühen Franquismus (1939-1959) integriert. Die acht Anhänge sind ein gutes Mittel, den Haupttext zu entlasten und lesefreundlich zu gestalten. Es werden biografische Angaben zu den im Text genannten einflussreichen Städtebau-Experten jener Zeit gemacht; die Dekrete, Verordnungen und Gesetze, mit den der Städtebau politisch geordnet wurde, werden aufgeführt; die Archive und Sammlungen, denen das Bildmaterial entstammt, werden aufgelistet und erwartungsgemäß gibt es auch ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister. Im letzten Anhang erfährt man etwas mehr über die Autoren der Studie.
Idealtypisch lassen sich vielleicht vier Zielgruppen beziehungsweise Erkenntnisinteressen identifizieren, die das Buch befriedigen kann. Zum einen sind es die Architekten, Architekturhistoriker, Raum- und Stadtplaner, denen ein in vielen Facetten vernachlässigtes Kapitel europäischer Städtebaugeschichte nahegebracht wird. Besonders mit den Kapiteln über den Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg, die Arbeiteruniversitäten, die Binnenkolonisation und den Städtebau in den westafrikanischen Kolonialgebieten wird die Aufmerksamkeit auf Themenfelder gelenkt, die in der Forschung bisher offenbar stark vernachlässigt worden sind.
Das Buch ist ebenso für Zeithistoriker und andere Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Franquismus als Herrschaftssystem befassen, überaus interessant. Mit dem Städtebau als Herrschaftsmittel wird ihnen eine üblicherweise kaum ausgeleuchtete Dimension eröffnet. Weiter bietet das Buch auch jenen etwas, die sich für die aktuellen Auseinandersetzung um die Erinnerungskultur in Spanien interessieren. Dabei ist die Frage, was man mit der baulichen Hinterlassenschaft der Diktatur macht (z.B. Abriss, Transformation, Rekonstruktion, Vergessen, Verdrängen, Neuinterpretation oder Verherrlichung, vgl. S. 38), für das gesamte bauliche Erbe Francos zu stellen – und nicht nur für das bekannte und vieldiskutierte Tal der Gefallenen.
Schließlich bietet der Band auch den städtebaulich interessierten Touristen, die durch die spanischen Lande reisen oder Städte besichtigen möchten, durchaus Überraschendes. Wenige werden wissen, dass das berühmte gotische Viertel in Barcelona, wie es heute dem Besucher erscheint, weitgehend während der ersten Hälfte der Diktatur gestaltet wurde, oder dass der bekannte mit Deutschem Werkbund und Bauhaus verbundene Architekt Otto Bartning 1942 in Barcelona eine Kirche für die Deutsche (nazifreundliche) Evangelische Gemeinde erbaute, oder dass es mit dem zwischen 1940 und 1945 in Saragossa errichteten Kirchenkomplex San Antonio de Padua mit Kirche, Kloster und Mausoleumsturm eine besondere Bewandtnis hat. In dem Turm ruhen nicht nur die sterblichen Überreste von etwa 3.000 Italienern, die im Bürgerkrieg gegen die Republik kämpften. Der Turm war und ist noch heute italienisches Hoheitsgebiet (vgl. S. 353). Auch die ausführlichen Kapitel zu Madrid und Barcelona inklusive Stadtgeschichte, oder die Befassung mit den Neudörfern könnten neugierige Touristen inspirieren. Natürlich bieten auch die Informationen zum Wiederaufbau Guernicas (baskisch: Gernika) samt der unrühmlichen Vorgeschichte der Zerstörung der Stadt mit maßgeblicher deutscher Beteiligung durch die Legion Condor, aber auch die Nachgeschichte des Gedenkens auf deutscher und spanischer Seite, Anreize, sich den Ort genauer anzusehen.
5. Attribute des frühen Franquismus (1938-1959)
Zum Verständnis des Städtebaus im frühen Franquismus (1938-1959) ist eine gewisse Kenntnis einiger Eigenheiten der Franco-Diktatur nützlich. Das nötigte Hintergrundwissen wird von den Autoren in knapper Form in der Einleitung bereitgestellt. Einige Charakteristika des frühen Franquismus werden auch hier kurz vorgestellt, wobei den Autoren sinngemäß weitgehend gefolgt wird.
Es steht außer Zweifel, dass die Diktatur sich auf die Macht des Militärs, der Kirche, der Monarchisten und der Falange stützte, und das Wohlwollen der Großgrundbesitzer, der Industrie- und Finanzoligarchie genoss (vgl. S. 31). Die Diktatur verstand sich nicht als bloß restaurativ. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Reformbedürftigkeit Spaniens gerade in der Wirtschaft unter dem Begriff «regeneracionismo» diskutiert. Dieses Problembewusstsein teilte der Franquismus mit allen vorherigen Regierungen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Im frühen Franquismus war es die besonders vom italienischen Faschismus inspirierte Falange, die der Entwicklungspolitik ihren Stempel aufdrückte.
Die aus einem Militärputsch und dem Bürgerkrieg hervorgegangene Diktatur setzte bis Ende der 50er Jahre die Unterscheidung von Siegern und Besiegten gnadenlos durch und perpetuierte sie. Zwischen den stigmatisierten Besiegten des republikanischen Lagers einerseits und den markierten Siegern andererseits, also der Gefolgschaft aus Überzeugungstätern und direkten Profiteuren, gab es noch viele Personen, die in dem Klima von materieller Not und Repression ihr tägliches Überleben oder die Verbesserung ihrer Lage zu sichern suchten. Von daher gab es nicht wenige, die sich genötigt sahen, Angebote der sozialen Integration (auf der Siegerseite) anzunehmen. Das gilt auch für nicht wenige Architekten. Die vom Regime eingeforderte Folgsamkeit und Loyalität schließt eine Ablehnung der Diktatur aber nicht unbedingt aus. Wie es in einer anderen Buchbesprechung im Spanienecho hieß: «Es gab viel Antifranquismus im Franquismus». Auch das dürfte für einige Architekten gelten (vgl. dazu auch den Hinweis in der Studie auf die Distanz der Architektenkammer Kataloniens zur Franco-Diktatur auf S. 192).
Auf der Ebene der Ideologie waren in jener Zeit (bis 1959) der Nationalsyndikalismus und der Nationalkatholizismus vorherrschend.Ohne ins Detail zu gehen, gemeinsam war beiden ein übersteigerter Nationalismus, ein antiparlamentarisches, hierarchisches und ständisches Ordnungsdenken, eine Glorifizierung vergangener historischer Größe und des ländlichen Raums (gegenüber der Stadt). Gemeinsam war beiden auch die manichäische Radikalisierung in Denken und Handeln, sowohl während des Krieges als auch in den zwei Jahrzehnten danach.
Der nationalsyndikalistische Diskurs war stark von faschistischen Ideen geprägt, was eine gewisse Anerkennung der sozialen Frage, der Interessen der (loyalen) Werktätigen und der Notwendigkeit staatlich gelenkter wirtschaftlicher Entwicklung beinhaltete ‒ mit einer Vorliebe für Großprojekte, in denen vormoderne Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und Infrastrukturverbesserung kurzgeschlossen wurden. Demgegenüber war der Nationalkatholizismus ein rückwärtsgewandter Fundamentalismus, der die Trennung von Kirche und Staat rückgängig machen und einen konfessionellen Staat errichten wollte, was im frühen Franquismus tatsächlich gelang.
Auf der Ebene der Sprache war die katholisch reaktionäre Metaphorik besonders präsent: der Bürgerkrieg wurde zum Kreuzzug, der Diktator wurde mit Gottesgnadentum ausgestattet, die Gegner wurden mit Begriffen wie Anti-Christ, Anti-Patria und Anti-España verteufelt. In dieser ideologisierten Wirklichkeit, um ein für den Städtebau relevantes Beispiel zu wählen, mutierte die Ausbeutung durch Zwangsarbeit zur «Erlösung von Strafen durch Arbeit». Das dem Justizministerium unterstehende, die Zwangsarbeit steuernde Gremium hatte bezeichnenderweise (ab 1942, vgl. S. 327) den aufgeblasenen Namen: «Zentralpatronat Unserer Lieben Frau der Gnade für die Erlösung von Strafen durch Arbeit» (Patronato Central de Nuestra Señora de la Merced para la Redención de las Penas por el Trabajo). Nach 1945, dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Krieges, waren die Nationalsyndikalisten und ihre Ideologie vor allem international nicht mehr präsentabel, behielten aber im Innern noch über Jahre beachtlichen Einfluss etwa in der Lohnpolitik, aber auch in der Siedlungs- und Entwicklungspolitik.
6. Probleme des Städtebaus und ideologisch geprägte Lösungen
Der Städtebau jener Zeit hatte, jenseits ideologischer Erfordernisse, auf eine Reihe handfester Probleme zu antworten, die die Autoren mit Zahlen unterfüttern.
Der Wiederaufbau zerstörter Städte bezog sich auf etwa 200 Orte (S. 72, S. 348). Ende des Bürgerkriegs waren 192 Ortschaften mindestens zu 60% zerstört (S. 48). Die Eindämmung der Landflucht durch Förderung der Landwirtschaft wurde als weiteres dringendes Problem gesehen. Binnenkolonisation und Verbesserung der Infrastruktur auf dem Lande, insbesondere durch den Wasserbau, waren die Antworten. Im Rahmen der Binnenkolonisation wurden bis 1959 etwa 200 Neudörfer angelegt, nach 1960 noch weitere 95 (S. 296, S. 302). Betrachtet man Bewässerung und Elektrizitätsgewinnung als wichtige Elemente der Infrastrukturverbesserung, dann kann der Bau von Staudämmen als brauchbarer Indikator dienen: 1939 gab es 180 Staudämme; in den Jahren 1943-1954 kamen 100 weitere Staudämme dazu, und in den Folgejahren 1955-1970 nochmals 276 (S. 255f).
Ein weiteres unübersehbares Problem stellte die Wohnungsnot in den Großstädten dar, die sich an den zahlreichen informellen Siedlungen zeigte. Allein in Madrid gab es Anfang der 1950er Jahre 30 Elendssiedlungen, in denen etwa 400.000 Personen lebten (S. 153). Dieses Problem wurde nur unzureichend angegangen. Stattdessen wurde der Wohnungs- und Städtebau für Personenkreise gefördert, die man an das Regime binden wollte. Der Wohnungs- und Städtebau (auf dem Lande) wurde als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um die Gefolgschaft des Diktators zu belohnen, indem Loyalität gegenüber dem Regime mit bevorzugter Wohnungs- oder Landvergabe prämiert wurde.
Eine weitere Aufgabe des Städtebaus war der Aufbau einer «Infrastruktur der Unterdrückung», worauf die Autoren ausführlich für Madrid (S. 166ff) und Barcelona (S. 205ff) eingehen. Gemeint sind damit Haftanstalten, Konzentrationslager, Hinrichtungsstätten. Genutzt wurden vorhandene Gefängnisse, modernste Haftanstalten wurden neu errichtet, andere vorhandene Gebäude wurden für den Zweck der Repression umgewidmet, Friedhöfe wurden als Hinrichtungsstätten mißbraucht.
Eine Funktion des Städtebaus, vermutlich in allen Diktaturen, ist es, Erinnerungsorte zu schaffen. Zu den bekanntesten Erinnerungsorten des franquistischen Spaniens gehören das Tal der Gefallenen nordwestlich von Madrid, der Siegesbogen in Madrid (arco de la victoria) und die wiederaufgebaute Festung (der Alcázar) in Toledo. Aber auch die Art, wie im Krieg zerstörte Städte wieder aufgebaut und vorgezeigt werden, erfüllte neben der des Wiederaufbaus eine propagandistische Funktion. Die Autoren zeigen das anhand von drei legendären Kriegsschauplätzen des Bürgerkriegs (Brunete, Belchite und Guernica).
Der Städtebau war in vielerlei Hinsicht ideologisch geprägt und spiegelte ein rückwärtsgewandtes Weltbild: Heraufbeschwören der großen imperialen Vergangenheit, eine Präferenz für den ländlichen Raum, Zentralismus der Hauptstadt Madrid, Erinnerungsorte im Umkreis der Hauptstadt (S. 161), eine Präferenz für die Plaza Major, an der die staatstragenden Einrichtungen wie die Falange und ihre Gewerkschaftsorganisation, Polizei, Rathaus und Kirche demonstrativ in Szene gesetzt wurden. Letztlich gab es kaum ein städtebauliches Projekt im Franquismus, das ohne Kirche ausgekommen wäre ‒ egal ob es um Arbeiteruniversitäten, Wohnviertel oder Neudörfer ging. Der rückwärtsgewandten Gesellschaftspolitik korrespondiert auch eine «erhaltende Altstadterneuerungspolitik» (S. 345) für mittlere und kleinere Städte.
Es gab sogar einen von der Falange präferierten Baustil, den Escuralismo, ein an der Architektur des Escorial orientierter strenger, neoklassischer Stil (S. 212). Die Arbeiteruniversität in Gijón ist dafür eines der bekanntesten Beispiele. Der Escuralismo stellte aber nur eine Variante innerhalb einer Vielzahl praktizierter Baustile dar. Zu ergänzen ist ferner, dass das Regime auch die eigene Modernität unter Beweis stellen wollte, ablesbar etwa am Bau von Hochhäusern in Madrid, dem industriellen Städtebau in Barcelona oder dem Bau moderner Flughäfen und riesiger Fußballstadien.
7. Grenzen des Einflusses der Falange auf den Städtebau
An die Aussage zur Vielfalt der Architekturstile knüpft eine außerordentlich interessante These der Autoren zur Rolle der Architekten und Städtebauer im Franquismus an. Unter den Architekten des Regimes gab es entschiedene Franco-Anhänger und solche, die die Chance in ihrer Profession tätig zu sein, ergriffen: «Dem Franquismus gelang es, das technische Können und die gestalterische Kreativität der spanischen Architektenschaft schon früh und in beträchtlichem Maße für sich zu mobilisieren» (S. 344). Das ermöglichte der weitgehend falangistisch geprägten Administration, «die in ihren Reihen fehlende fachliche Kompetenz auszugleichen» (S. 345). Im Ergebnis kam es dadurch zu einer Vielzahl an Formsprachen und Baustilen bei hoher fachlicher Qualität, was besonders sinnfällig an den Arbeiteruniversitäten und Kolonistendörfern gezeigt wird. Über die Architekten wurde auch eine Kontinuität mit bereits existierenden Plänen und Projekten gesichert, die nicht originär franquistisch waren, sondern wie die Bebauungspläne für Madrid und Barcelona eine lange Vorgeschichte hatten. Eine weitere Quelle der städtebaulichen Vielfalt ist darin zu sehen, dass diese Städtebauer die internationale Diskussion kannten und sich zudem von den Produkten anderer Diktaturen inspirieren lassen konnten. Insgesamt sehen die Autoren den Städtebau dieser Zeit «in den Städten wie auf dem Land als eine traditionelle Variante der Moderne, die auch das faschistische Italien wie die Sowjetunion Stalins prägte» (S. 346).
Kennzeichnend für die Herrschaft des Franquismus ist auch, wie die Analyse der Autoren zeigt, dass selbst dort, wo die Falangisten soziale Anliegen im Städtebau umsetzen wollten, es am Ende zu einer Umverteilung und Begünstigung der bereits Wohlhabenden kam. Beispiel 1: Es gab eine staatliche Förderung für den Bau von Mietwohnungen für Mittelschichten, von der auch private Unternehmen über Steuerbegünstigungen profitierten (S. 145). Steigenden Mieten begegnete das Regime zunächst durch eine Mietpreisdeckelung und dann durch ein Verbot von Mieterhöhungen. Dadurch wurde der Bau von Mietwohnungen von den privaten Unternehmen nicht mehr als attraktiv angesehen, und das führte dazu, dass diese Wohnungen dem Mietmarkt entzogen und an Wohlhabende verkauft wurden. Beispiel 2: Insgesamt wurden von 1939 bis 1975 beachtliche 1.635.000 Hektar Land durch staatlich finanzierte Maßnahmen bewässert. An Siedler der Neudörfer wurden davon nur 149.358 Hektar verteilt (S. 249). «Die Hauptprofiteure waren nicht die Siedler, sondern die Besitzer großer landwirtschaftlicher Güter, die eine gewaltige Aufwertung erfuhren» (ebd.) – nach Schätzungen eine Steigerung von 1.200 bis 2.000 Prozent gegenüber dem Vorkriegswert.
8. Drei kritische Anmerkungen und ein Wunsch
Die Autoren gehen von einer «kritischen Leserschaft» aus (S. 39). Vier Punkte, bei denen es nicht um grundsätzliche Kritik geht, sondern um Nuancierungen und Klärungsbedarf, sollen hier angesprochen werden. Bei den drei Anmerkungen geht es darum, prägnante Formulierungen der Autoren zu hinterfragen, zunächst den Haupttitel des Buches «Städtebau als Kreuzzug Francos», dann den Titel des Schlusskapitels, das die Ergebnisse synthetisieren soll «Städtebau unter Franco. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln». Schließlich wird noch eine zentrale Aussage diskutiert: «Der Städtebau […] erweist das Regime als offen repressive Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs» (S. 341). Der Wunsch bezieht sich auf eine Erweiterung der Abschnitte zur „Infrastruktur der Unterdrückung“. Wer kein besonderes Interesse an kleinteiligen Auseinandersetzungen um Worte und Begriffe hat, mag diesen Teil der Rezension überspringen, und gleich zum Fazit übergehen.
(1) Der Haupttitel des Buches «Städtebau als Kreuzzug Francos» ist irritierend, zumal die Autoren nicht explizieren, wie der Titel verstanden werden soll. Ein deutscher Leser mag zunächst an die Kreuzzüge des Mittelalters denken. Im Kontext der Franco-Diktatur stammt der Begriff Kreuzzug (cruzada) ohne Frage aus der ideologischen Kiste des Nationalkatholizismus, und wurde verwendet, um damit den Kampf der Aufständischen gegen die Zweite Republik und den Sieg im Bürgerkrieg zu sakralisieren. Cruzada ist in dem ideologischen Kontext ein Synonym für den Bürgerkrieg. Nach der cruzada beginnt eine neue Etappe, die auch von den Protagonisten und Propagandisten der Diktatur nicht mehr als cruzada bezeichnet wird. Den Worten der Sektion Architektur der Falange aus dem Jahr 1939 folgend, stand nach dem Kreuzzug das «großartige Problem des Wiederaufbaus Spaniens» (vgl. S. 340) an. Nach dem militärischen Sieg kam es darauf an, die Herrschaft zu sichern. Damit war durchaus auch die Aufgabe verbunden, wie man bei den Autoren lernen kann, die neue Herrschaft im ganzen Territorium mit Mitteln des Städtebaus zu manifestieren, durch neue Straßennamen, Gedenktafeln, Monumente des Sieges, Sakralbauten, Wiederaufbau zerstörter Städte, Stauseen, Neudörfer, Arbeiteruniversitäten und anderes mehr. Von daher wäre ein Titel, der die Sicherung der diktatorialen Herrschaft durch den Städtebau direkt zum Ausdruck gebracht hätte, möglicherweise treffender gewesen.
(2) Die Überschrift des letzten, die Ergebnisse der Untersuchung resümierenden Kapitels «Städtebau unter Franco. Die Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln» (S. 340) ist sicherlich aufrüttelnd gemeint, bringt aber die wesentlichen Einsichten der Studie gar nicht auf den Punkt. Die Nachkriegszeit in Spanien war geprägt durch Massenarmut, politische Verfolgung, Staatsterror und Massenmord, Ausbeutung durch Zwangsarbeit sowie weitere Formen sozialer Ausgrenzung und Exklusion der ehemaligen Gegner. Von daher kann metaphorisch durchaus von einer Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln gesprochen werden. Aber realiter fanden die Untaten und zahllosen Menschenrechtsverletzungen des Franquismus in diesen Jahren gerade nicht mehr in einem Krieg statt, der immer zwei bewaffnete Lager, die sich im Kampf befinden, voraussetzt. Das war hier nicht mehr der Fall und deshalb wiegen diese Verbrechen noch schwerer. Die Drastik der gewählten Metapher erweist sich gegenüber der Realität als noch zu harmlos.
Herrschaftssoziologisch ging es nach 1939 in erster Linie um Herrschaftssicherung und Veralltäglichung der im Krieg aufgebauten charismatischen Herrschaft Francos im Interesse seiner Anhänger, um die Erweiterung der sozialen Basis des Regimes und um die Integration weiterer, für die Stabilisierung der Herrschaft wichtiger Kreise. In der problematisierten Überschrift kommt die Wechselbeziehung von Repression und sozialer Integration nicht mehr zum Ausdruck. Die offenkundige Repression derer, die auf Seiten der Republik gekämpft hatten, erzeugte auch einen außerordentlicher Anpassungs- und Konformitätsdruck bei allen anderen. Es war die Angst vor Repressalien im Verein mit Aussichten auf verbesserte Lebenschancen, die das Regime einsetzte, um seine soziale Basis zu erweitern.
Der Städtebau ist das Paradebeispiel, wie Repression und Integrationsangebote in der Praxis der Diktatur zusammen gehörten. Auf der einen Seite steht die Errichtung einer «Infrastruktur der Unterdrückung», der massive Einsatz von Zwangsarbeit im Baubereich und bei der Verbesserung der städtischen und ländlichen Infrastruktur, der Ausschluss von günstigem Wohnraum und Land, und die große Armut im ganze Lande, die deutlich an den vielen Elendsvierteln ablesbar ist und auf einen unsozialen Wohnungsbau hinweist. Auf der anderen Seite war die Diktatur bestrebt, ihre Gefolgschaft zu bedienen und auszuweiten: das fängt beim modernisierenden Wiederaufbau zerstörter Städte an und dem Bau anständiger Stadtwohnungen für die Bürokratie des Neuen Staates und die Mittelschichten, die man zu gewinnen hoffte. Das setzt sich in der Binnenkolonisation mit den zahlreichen Neudörfern für die integrationswillige Landbevölkerung fort und zeigt sich ebenso beim Bau der Arbeiteruniversitäten für den Elitenachwuchs aus kleinen Verhältnissen. Das Überraschende ist am Ende, wie durchdacht und politisch zielgerichtet die Eliten die verschiedenen Funktionen des Städtebaus zur Stabilisierung ihrer Herrschaft zu nutzen wussten. Das ist die wichtige Erkenntnis der Autoren, die in der Überschrift und der Rede von der «Fortsetzung des Spanischen Bürgerkriegs mit anderen Mitteln» verloren geht.
(3) Auch der Begriff der «Entwicklungsdiktatur», den die Autoren zur Charakterisierung dieser frühen Phase der Diktatur ins Spiel bringen, ist zu diskutieren: «Der Städtebau […] erweist das Regime als offen repressive Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs» (S. 341).
Zum einen kann argumentiert werden, dass seit den Jahren des Regenerationismus alle spanischen Regierungen sich mit dem Problem nachholender Entwicklung konfrontiert sahen. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Entwicklungsgedanke zwar im Diskurs der Falange eine bedeutende Rolle spielte, dass die Realität des Franquismus als Regime aber durchaus auch andere Prioritäten kannte, wie von den Autoren selbst an zwei Beispielen aufgezeigt wurde: dem Scheitern des geförderten Mietwohnungsmodells zugunsten privater Bauunternehmer und den Bewässerungsmaßnahmen zugunsten von Großgrundbesitzern.
Drittens, nur im Städtebau war es möglich gewesen, mit wenig technisierten Methoden, traditionellen Materialien und Bauweisen (ohne Stahl und Beton), guten Architekten, viel Handarbeit und Zwangsarbeit qualitativ hochwertige Ergebnisse hervorzubringen. Dieses low-tech-Modell war nicht auf andere Sektoren, mit anderen technischen und qualifikatorischen Voraussetzungen für Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, übertragbar. Aus den Leistungen im Städtebau und Infrastrukturausbau lässt sich deshalb nicht auf die allgemeine Entwicklung der Wirtschaft schließen und von daher qualifiziert sich auch das Regime als Ganzes nicht als Entwicklungsdiktatur. Anders gesagt: Nur im von den entwicklungspolitischen Vorstellungen der Falange geprägten Sektor des Städtebaus wurde das Modell einer offen repressiven Entwicklungsdiktatur staatswirtschaftlichen Typs mit einem gewissen Erfolg umgesetzt. Die Erfolge auf dem Sektor Städtebau reichen, so die hier vertretene Ansicht, nicht aus, um das Regime insgesamt als Entwicklungsdiktatur zu erweisen.
Man kann sogar noch weiter gehen: die Produktivität in Landwirtschaft und Industrie war im frühen Franquismus extrem niedrig und blieb es. Das Wirtschaftsmodell insgesamt scheiterte. Die staatlich gelenkte Wirtschaft geriet 1956 in eine systemgefährdende Krise, aus der erst eine neue wirtschaftsliberale Politik herausführte, mit neuem politischen Personal, Stabilisierungsplan, veränderter Ideologie und Integration in die Weltwirtschaft, Investitionen aus dem Ausland, Arbeitsemigration etc. (vgl. zur Tiefe der Krise Anna Catharina Hofmann: Francos Moderne. Technokratie und Diktatur in Spanien 1956-1973. Göttingen 2019: Wallstein Verlag). In der Literatur wird bezogen auf den Franquismus deshalb meistens erst für die Zeit nach 1959 von Entwicklungsdiktatur gesprochen, wobei es durchaus strittig ist, ob damit nur auf die Selbstbeschreibung, also die neue Legitimationsideologie des desarrollismo, abgezielt wird, oder gemeint ist, der späte Franquismus sei politologisch und herrschaftssoziologisch korrekt als Entwicklungsdiktatur zu bezeichnen.
Viertens und abschließend: Es ist bemerkenswert und wichtig, dass in dem Buch auch die bauliche Infrastruktur der Unterdrückung und die Bedeutung der Zwangsarbeit für den Städtebau thematisiert wird – insbesondere in den Kapiteln über Madrid, Barcelona und das Tal der Gefallenen. Dieser Themenkomplex könnte weiter ausgebaut werden, indem ausführlich auf die Errichtung und die Nutzung der zahlreichen Lager (von 194 Konzentrationslagern ist die Rede, S. 166) eingegangen würde. Auch wenn die Stadtforscher das nicht als ihr Aufgabengebiet sehen würden, wären doch mehr Informationen zu den zahlreichen informellen Siedlungen (vulgo Slums oder chabolas) und der darauf bezogenen Politik durchaus wünschenswert, um das gesamte Wohnungswesen im frühen Franquismus besser zu überschauen.
9. Fazit
Das Werk kann nicht nur jedem, der sich wissenschaftlich für den Städtebau und gesellschaftliche Entwicklungen in Spanien interessiert, sondern auch einem breiteren Publikum zum Schauen, Lesen und Studieren empfohlen werden. Der Stil ist sachlich-nüchtern, der Aufbau gut durchdacht und das Lektorat muss außerordentlich sorgfältig gearbeitet haben. Es ist in dieser detailreichen Studie außerordentlich viel über den Städtebau Spaniens von 1938 bis 1959 in seinen zahlreichen Facetten und Funktionen zu erfahren, wobei gerade auch auf fast vergessene Themen, wie die Binnenkolonisation oder die Arbeiteruniversitäten, ausführlich eingegangen wird. Für die unterschiedlichen städtebaulichen Handlungsfelder wird herausgearbeitet, wie der Städtebau als Herrschaftsmittel im Franquismus eingesetzt wurde. Die überzeugende Verzahnung von Städtebau und Herrschaftsform ist ein besonderes Verdienst der Arbeit. Herauszustellen ist aber auch, dass die Autoren die Vielfalt der anzutreffenden Baustile und Stadtanlagen herausarbeiten und erklären. Dabei spielen die nicht dem präferierten Stil der Falange verpflichteten Architekten eine große Rolle, die einerseits Kontinuität zum Vor-Franco-Städtebau herstellen konnten, und die andererseits die internationale Fachdiskussion und Entwicklungen im Städtebau anderer europäischer Diktaturen kannten und berücksichtigen konnten. Schließlich soll noch einmal betont werden, dass die Autoren das Studium der Städtebaugeschichte mit der aktuellen Frage verbinden, wie mit dem baulichen Erbe des Franquismus umgegangen wird oder werden sollte.
Dem Buch sind viele Leser zu wünschen, und es wäre zu hoffen, dass es in der deutschsprachigen aber auch in der spanischen Fachöffentlichkeit (und darüber hinaus) Resonanz erzeugte und eingehend diskutiert würde. Auf den Listen der besten Sachbücher hätte diese Studie einen herausragenden Platz verdient.
Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hrsg.): Städtebau als Kreuzzug Francos. Wiederaufbau und Erneuerung unter der Diktatur in Spanien 1938–1959. Berlin: DOM Publishers 2021, ISBN: 978-3-86922-527-2
Über Alfons Quintà und ein katalanisches Kapitel der Universalgeschichte der Niedertracht
Rezension von Knud Böhle
1. Ein Buch, das an der Zeit ist
Es ist eher unwahrscheinlich, dass das literarische Sachbuch (no ficción literaria, S. 251), das Jordi Amat im November 2020 veröffentlicht hat, jemals ins Deutsche übersetzt wird. Das ist bedauerlich, weil auch in Deutschland viele, die weder spanische noch katalanische Bücher lesen können, gerne mehr über Entwicklungen in Katalonien und den politischen Katalanismus (katalanischen Nationalismus) wüssten.
Jordi Amat ist einer der besten Kenner der katalanischen Kultur und der politischen Entwicklungen in der Region. Er ist von daher ein idealer Führer durch das national-katalanische Labyrinth, ein Subsystem des spanischen Labyrinths (vgl. S. 194). Offenkundig war eine spannend geschriebene, faktenreiche Arbeit zu diesem Themenkomplex in aufklärerischer Absicht (vgl. dazu das Nachwort des Autors S. 249-252) in Spanien an der Zeit. In wenigen Monaten brachte es das Buch in beiden Sprachen (Spanisch und Katalanisch) auf sechs (Stand 4.3.2021) bzw. zehn Auflagen (Stand 13.4.2021). Die Medienresonanz war außerordentlich. Die etwa zwanzig Besprechungen, die ich mir angesehen habe, waren positiv, manche sogar überschwänglich. Auf negative Kritiken bin ich noch nicht gestoßen. Gelobt wird allenthalben die schriftstellerische Qualität und mindestens ebenso die intelligente Analyse der jüngsten Geschichte Kataloniens (besonders der transición, des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nach Francos Tod). Hervorzuheben ist auch die intensive Recherchearbeit, die das Buch erst ermöglichte. In einer Rezension wird von etwa 70 Interviews gesprochen, die Jordi Amat führte und etwa 600 Dokumenten, die für das Buchprojekt herangezogen wurden (vgl. Carles Geli in: El País vom 11.11.2020). In dem Buch treten weit mehr als 100 namentlich genannte Personen auf.
2. Worum genau geht es in dem Buch?
Der Titel des Buches «Der Sohn des Chauffeurs» sagt zunächst noch nicht viel. In der katalanischen Ausgabe kommt ein erläuternder Untertitel dazu: «Die geheimen Fäden der Macht: Aufstieg und Fall des Alfons Quintà». Auf den Spuren eines ebenso ehrgeizigen wie psychopathischen katalanischen Journalisten, und sagen wir es gleich, auch Mörders, schlägt Jordi Amat eine Schneise durch die neuere Geschichte des politischen Katalanismus, die auch eine Geschichte der Macht ist: politischer, ökonomischer und nicht zuletzt auch von Medienmacht (die vierte Macht neben Exekutive, Legislative und Judikative). Jordi Amat nimmt seine Leser bei der Hand und führt sie durch das katalanische Labyrinth vorbei an Regierungspalästen, Banketagen, Chefredaktionen und Kloaken der Macht. Das ansonsten unentwirrbare Netz aus zahllosen Kommunikationen und Aktionen – solcher die im Licht der Öffentlichkeit stattfinden und solcher, die dieses Licht gerade scheuen – wird in eine kriminalistisch angelegte, detailreiche Erzählung überführt, die an wichtigen Stationen der katalanischen Politik in die Tiefe geht. Da es sich um eine Geschichte von Machtverhältnissen handelt, spielen sich viele Ereignisse außerhalb des Rechts, der Wahrheit und der Öffentlichkeit ab, und sind folglich wie bei jedem Kriminalfall zunächst intransparent. Jordi Amat geht investigativ vor, wie ein Detektiv, der aus Zeugenaussagen und Indizienbeweisen eine komplexe Geschichte rekonstruiert.
Alfons Quintà war ein knappes Jahrzehnt lang ein äußerst einflussreicher Journalist und Medienmacher in Spanien. Sein Lebensweg, die Biografie einer infamen Person, und die schmutzigen Seiten einer national-katalanischen Episode werden in dem Buch ineinander verwoben. In gewisser Weise schlüpft der auktoriale Erzähler Jordi Amat in die Rolle eines Meisterdetektivs vom Typ Hercule Poirot, der nach abgeschlossener Untersuchung dem staunenden Publikum erläutert, wie die Puzzlestücke zusammenpassen. Überlegungen zur Macht allgemein und zur Medienmacht im Besonderen stehen im Zentrum des Erklärungsansatzes. Erstens: Macht lässt sich als die Herstellung erwünschter Wirkungen definieren (S. 24). Da muss es weder legal noch transparent zugehen. Zweitens: Medien sind die vierte Macht und erfüllen als solche eine demokratische Funktion. Der Theorie nach sind sie unabhängig, in der Praxis aber nicht (vgl. S. 111). Interesse, Instrumentalisierung und Korruption kommen ins Spiel: Welcher wirtschaftlichen oder politischen Macht nützt die Veröffentlichung einer bestimmten Nachricht? Wer ist daran interessiert, dass eine bestimmte Nachricht unterdrückt wird? Wer liefert mit welchem Interesse Informationen an welche Medien? Dazu kommt die generelle Überlegung, dass sich die politische Macht dessen bewusst ist, dass sie Medien benötigt, die ihr Trachten nach politischer und kultureller Hegemonie unterstützen.
3. Die Protagonisten der Geschichte: Alfons Quintà und Jordi Pujol
Es treten auf: Alfons Quintà (1943-2016), der Sohn des Chauffeurs; Jordi Pujol (*1930), der Sohn eines Bankiers; die vierte Macht (Hörfunk, Presse, Fernsehen) mit El País und TV3 in herausgehobener Stellung; die Banca Catalana als Inbegriff der ökonomischen Macht; die politische Macht mit den Regierungen in Madrid und der regionalen Regierung in Katalonien (Generalitat) als Kraftzentren. Dazu kommen zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten (Hintermänner, Strohmänner, Intellektuelle, graue Eminenzen, Staatsmänner etc.). Der Glutkern der Geschichte ist der Fall Banca Catalana, den Alfons Quintà skandalisieren und den Jordi Pujol unter dem Radar der Öffentlichkeit halten will. Hier soll nicht der gesamte Inhalt des vielschichtigen und vielfädigen Buches wiedergegeben werden, aber einige Worte zu den beiden Protagonisten Quintà und Pujol und zum Fall Banca Catalana sind nötig, um das Machtknäuel anzudeuten, um dessen Entwirrung es Amat geht.
Alfons Quintà kam aus kleinen Verhältnissen, erlebte eine unglückliche Kindheit, in der nicht allein die Schläge des Vaters Verletzungen und Narben hinterließen. Er durchlebte eine turbulente Jugend, erst als Halbstarker und etwas später als Linksradikaler. Seine journalistische Laufbahn beginnt Mitte der 60er Jahre mit Arbeiten für Associated Press, Le Monde und die New York Times. Seinen ersten Zeitungsartikel in Spanien veröffentlichte er 1969.
Das Pfund, mit dem er wuchern konnte, waren seine Kontakte zum konservativen Katalanismus, die über seinen Vater vermittelt waren, der es vom Handlungsreisenden in Sachen Textil zum Chauffeur, Sekretär und Vertrauten des katalanischen Schriftstellers Josep Pla gebracht hatte. Übrigens ist Pla als Schriftsteller in Deutschland kein Unbekannter. Neben einigen Erzählungen wurden die bekannten Bücher Enge Straße (Ammann Verlag), Das graue Heft (Suhrkamp Verlag) sowie die Künstlerbiografien über Dalí und Gaudí (Berenberg Verlag) übersetzt.
Josep Pla war das Zentrum einer Art politischer Tafelrunde einflussreicher Leute, die an der Stärkung der Position Kataloniens in Spanien interessiert waren. Amat spricht in Anspielung auf die Tafelrunde des Königs Artus vom «Camelot de Pla». Was da verhandelt und unternommen wurde, bekommt auch Alfons Quintà mit, und vor allem nützt ihm dieses Elite-Netzwerk bei seiner Karriere. In der eindrücklichen Beschreibung dieser Tafelrunde, findet sich auch eine für die Machtanalyse Amats wichtige Einsicht, die aus dem Kreis selbst kommt: Diktaturen korrumpieren alles, insbesondere lange andauernde Diktaturen. Man kann sie nur von innen bekämpfen, und das wiederum verlangt ein doppeltes Spiel, oder mit einem anderen Ausdruck: es gab viel Antifranquismus im Franquismus (vgl. S. 29f).
Quintà machte sich einen Namen bei Radio Barcelona als Direktor des ersten Nachrichtenprogramms auf Katalanisch (Dietari), das ab 1974 gesendet wurde. Es gelang ihm dann der Karrieresprung zum Katalonien-Korrespondenten der Tageszeitung El País (1976). 1981 endete seine Karriere bei El País unfreiwillig (aber mit einer hohen Abfindung). Seine nächste prestigeträchtige Aufgabe war der Aufbau des ersten öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Kataloniens, TV3, ab Juni 1981. Dort verlor er seinen Posten als Direktor im Juni 1984. Wiederum erhält er eine hohe Abfindung. Nach seiner Entlassung zog er sich einige Jahre zurück, wurde dann wieder als Journalist und Medienmacher tätig, aber die Erfolge früherer Zeiten blieben aus.
Schlagzeilen machte er erst wieder, nachdem er sich mit derselben Schusswaffe das Leben nahm, mit der er zuvor seine Frau umgebracht hatte. Seine Frau lebte zu dem Zeitpunkt nicht mehr mit ihm zusammen, kümmerte sich aber um ihn nach einer Herzoperation. Diese scheußliche Tat bildete den Schlusspunkt eines wenig erbaulichen Lebenswegs. Quintà wird als gewalttätig, übergriffig, frauenfeindlich, aggressiv, sexistisch, tyrannisch, gefräßig, maßlos, nachtragend, erpresserisch, rachsüchtig und autoritär beschrieben. Es sind diese Eigenschaften, so lesen wir, die seine Beziehungen zu Frauen ebenso wie seine Karriere immer wieder zerstört haben. Jordi Amat spart nicht mit oft geradezu absurden und grotesken Beispielen aus Quintàs Privat- und Berufsleben. Selbst nach seinem Tod hat anscheinend niemand ein gutes Wort für ihn übrig gehabt. Wir müssen uns Quintà nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Jordi Pujol ist als öffentliche Person freilich viel bekannter als Quintà. Er kam aus der katholisch-katalanischen Opposition gegen Franco. 1974 gründete er die bürgerlich-katalanistische Partei Convergència Democràtica de Catalunya. 1980 wurde er zum Präsidenten der Generalitat (Regierungschef Kataloniens) gewählt und löste damit seinen Vorgänger im Amt, Josep Tarradellas, ab, der für einen moderaten und konzilianten Katalanismus stand. Pujol war dann ohne Unterbrechung bis 2003 Regierungschef. Er prägte eine ganze Ära, bekannt als pujolismo, in der das katalanische «nation building» (hacer país) als das alles überwölbende Vorhaben gelten kann. Ab 1984 bekam der pujolismo einen stark populistischen Zug: der Zentralstaat wurde zum Gegner erklärt, Politik wurde moralisiert und emotionalisiert, und viele Katalanen wurden mobilisiert (S. 173). Jordi Pujol begegnet uns außerdem als ein wenig erfolgreicher Medienunternehmer, der erst mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TV3 (von Alfons Quintà aufgebaut) das bekam, was er als mediale Unterstützung seiner politischen Macht anstrebte. Von 1980 bis 1986 musste er sich auch darum kümmern, dass der Fall Banca Catalana seine politischen Ambitionen nicht zerstörte. In der Banca Catalana steckte das Vermögen des Vaters, das dieser während der Franco-Diktatur, teilweise durch illegale Geschäfte, erworben hatte. Er selbst war in leitender Funktion in der Bank tätig.
4. Der Fall Banca Catalana als Lehrstück
Die Banca Catalana geriet Ende 1979 in finanzielle Schwierigkeiten, was damals nur wenige wussten. Alfons Quintà und ein Kollege berichteten darüber in El País am 29. April 1980 in einem ersten Artikel einer als Dreiteiler angelegten kleinen Serie. «Ökonomische Schwierigkeiten der Bankengruppe von Jordi Pujol» lautete der Titel des ersten Teils, der in dem Buch in Gänze wiedergegeben wird (S. 100-105). Der gut recherchierte und informierte Text hatte das Potenzial, dem Ruf der Bank, ihren Aktionären und Einlegern sowie dem Ansehen des Politikers Pujol, der gerade die erste Regionalwahl in Katalonien gewonnen hatte, zu schaden. Ein fundierter Artikel dieser Art konnte nicht ohne geheime Informationen von Gegnern Pujols geschrieben, und nicht ohne die Zustimmung des damaligen Chefredakteurs von El País,Luis Cebrián, veröffentlicht werden. Die Banca Catalana intervenierte bei Cebrián, zuerst vermittelt über die spanische Zentralbank und später in einem direkten Gespräch mit den Herausgebern der Tageszeitung. Cebrián sagte zu, einstweilen keine weiteren Folgen des geplanten Dreiteilers zu publizieren. Die geplanten Artikel erschienen auch nicht, aber die kritische Berichterstattung über die Banca Catalana wurde in kleineren Portionen noch bis Ende 1981 fortgesetzt. Erst als die Pläne von El País gereift waren, eine katalanische Ausgabe der Zeitung herauszugeben, musste Quintà seine Attacken einstellen. Seine Ambition, Chef der katalanischen Ausgabe von El País zu werden, wurde frustriert. Dies machte sich Jordi Pujol zu Nutze, der nun dem bis dato entschiedenen Anti-Pujolisten Quintà anbot, Direktor des ersten öffentlich-rechtlichen katalanischen Fernsehsenders zu werden. Der nahm an, baute den Sender auf, und gleichzeitig verstummte mit dem Wechsel ins Lager der Pujolisten seine Kritik an der Banca Catalana.
Die Kritik an der Banca Catalana flammte aber 1984 an anderer Stelle wieder auf, als sich der spanische Generalstaatsanwalt mit dem Fall zu befassen begann. Die konkrete Untersuchung der Vorwürfe gegen die Banca Catalana wurde vorschriftsmäßig von zwei zuständigen Staatsanwälten in Barcelona durchgeführt. Diese kamen zu der Auffassung, dass ein Strafverfahren gegen die Banca Catalana zu eröffnen sei, bei dem es unter anderem auch um die persönliche Bereicherung einiger Insider, darunter Jordi Pujol, zu gehen habe, die – während die Bank auf die Insolvenz zusteuerte – auf Kosten der Einleger und Steuerzahler, noch Vermögen für sich privat beiseite geschafft hätten. El País erhielt entsprechende Informationen und berichtete unverzüglich darüber.
Und nun passierte etwas höchst Unwahrscheinliches: Jordi Pujol, der bei den Wahlen in Katalonien vom 29.4.1984 die absolute Mehrheit erlangt hatte, ging zum Gegenangriff über und drehte den Spieß um. Derjenige, der auf die Anklagebank sollte, klagte an und stellte sich und Katalonien als Opfer einer Kampagne des Zentralstaats, der sozialistischen Regierung und der die Regierung stützenden Medien dar. Das gipfelte am 30. Mai 1984 in einer Rede (selbstverständlich in Katalanisch) auf einer gut vorbereiteten Massenkundgebung anlässlich seiner Einsetzung als Präsident: «Ich möchte etwas klarstellen: Die Madrider Regierung, genauer gesagt die Zentralregierung, hat ein unwürdiges Spiel getrieben, und von nun an, wenn jemand über Ethik und faires Spiel spricht, werden wir es sein» (vgl. S. 177). Diese Rede kann als Wendepunkt zum populistischen Katalanismus angesehen werden, der mit dem Opfer-Narrativ, einfachen Feindbildern und emotionalisierter Politik einhergeht (vgl. S. 173).
Es gab auch danach durchaus noch Journalisten, die sich für den Fall der Banca Catalana interessierten. Diese wurden, wie in dem Buch an einem Beispiel verdeutlicht wird, in ihrer Arbeit behindert. Die Ergebnisse ihrer Recherchen erschienen erst nach erheblicher Verzögerung im Sommer 1985. Zudem war der veröffentlichte Text ohne Wissen der Autoren um entscheidende Passagen gekürzt worden. Die politische Großwetterlage hatte sich verändert. In Madrid regierten die Sozialisten mit absoluter Mehrheit. Felipe González war Ministerpräsident: felipismo in Madrid, pujolismo in Barcelona. Der Chefredakteur von El País liess im Oktober 1985 seine Mitarbeiter in Katalonien wissen, dass das Thema Banca Catalana nicht weiter verfolgt werden müsse. Die Staatsanwälte aus Barcelona, die noch mit dem Fall betraut waren, gerieten unter Druck. Im September 1986 trafen sich González und Pujol persönlich. Die Sache sollte beigelegt werden, um die Stabilität der neuen staatlichen Ordnung nicht zu gefährden – auf Kosten der Informations- und Pressefreiheit sowie der Rechtsstaatlichkeit. Eine Woche nach dem Gespräch trat der Generalstaatsanwalt zurück, möglicherweise um seiner Entlassung zuvor zu kommen (S. 191). Und im November 1986 beschloss die Mehrheit der in Barcelona zuständigen Richter (der Audiencia Territorial de Barcelona), das Verfahren gegen Banca Catalana erst gar nicht zu eröffnen. Wir erinnern uns an die Ausgangsthese Amats, Macht als das Erreichen erwünschter Wirkungen zu verstehen. Quod erat demonstrandum.
4. Einsichten, Hypothesen, Schlussgedanken
Als wichtigste Einsichten über den politischen Katalanismus nehme ich aus dem Buch mit, dass er lange Zeit weder links noch separatistisch, sondern vorwiegend bürgerlich, liberal und konservativ war. In der Ära Pujol, die in der transición beginnt und im pujolismo ihre Fortsetzung findet, wurde der katalanische Nationalismus im Sinne eines «nation building» (hacer país), unterstützt von Medien wie TV3, massiv vorangetrieben. Eine Alternative zu Pujol im postfranquistischen Katalonien hätte Josep Tarradellas, der Präsident der Generalitat im Exil (1954-1977) und von 1977 bis 1979 Präsident der Generalitat, sein können. Dieser Option fehlte es indes an der nötigen parteipolitischen Unterstützung. Bereits nach wenigen Jahren der Präsidentschaft Pujols gab es im Zusammenhang mit dem Fall der Banca Catalana einen populistischen Schub im katalanischen Nationalismus, der für das Verständnis der heutigen politischen Situation in Katalonien wichtig ist.
Das Buch legt auch nahe, mehr auf die Gesamtkonstellation Spanien-Katalonien zu schauen. Zum Beispiel wurde das Startkapital der Banca Catalana im korrupten Franquismus erworben, und die Bank war Teil des spanischen Finanzsystems und wurde deshalb von der Zentralbank gestützt, als sie in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Ein anderes Beispiel: die franquistische Regierung konnte Ende der 50er Jahre bei der Entwicklung des für das Überleben des Regimes so wichtigen Stabilisierungsplans katalanische Experten wie Joan Sardà (Mitarbeiter von Tarradellas auf republikanischer Seite während des Bürgerkriegs) und Fabián Estapè einbinden. Beide gehörten zur Tafelrunde Josep Plas. Und wir erfahren auch, dass dieser katalanische Schriftsteller eine Zeit lang für einen der franquistischen Geheimdienste tätig war (öffentlich gemacht von Alfons Quintà).
Es gab viel Franquismus im Antifranquismus oder auch umgekehrt viel Antifranquismus im Franquismus. Da Franco nicht angetreten war, die Interessen der reichen und wohlhabenden Klassen zu beschneiden, gab es Raum für solche Ambivalenz. Eine genaue Untersuchung der reichen und einflussreichen Familien Kataloniens und Spaniens generell, würde vermutlich einiges zum Verständnis der Funktionsweise der Diktatur und zur politischen Kultur in der Zeit danach beitragen können. Für die Verlierer im Bürgerkrieg gab es bekanntermassen keine vergleichbaren Möglichkeiten sich zu arrangieren: viele wurden noch nach dem Ende des Bürgerkriegs, wenn nicht gar getötet, verfolgt, verhaftet, gefoltert, zu Zwangsarbeit gezwungen, sozial ausgegrenzt und benachteiligt.
Das Buch legt auch den Gedanken nahe, dass gerade eine lang andauernde Diktatur dieser Art, die Korruption selbst nach ihrem Ende noch zu begünstigen scheint. Machtausübung qua informeller, intransparenter und illegaler Einflussnahme ist der springende Punkt. Am Fall der Banca Catalana hat Jordi Amat die vielfältigen Wege der Einflussnahme exemplarisch aufgezeigt. Meisterlich führt er die Ambivalenz der Medien vor, die als vierte Macht eine Säule der Demokratie sein sollen, gleichzeitig aber auch stets Gefahr laufen, als Arm der Macht und der Mächtigen instrumentalisiert und missbraucht zu werden. Der Lebensweg des zeitweise mächtigen, letztlich aber auch korrumpierbaren und ausnutzbaren Alfons Quintà passt dazu. Dem Lebensweg des Journalisten Quintà zu folgen, der Ende der sechziger Jahre klein anfängt (Tele/eXpress), groß rauskommt, und wieder klein endet (Diari de Girona), bedeutet gleichzeitig, der Mediengeschichte in Katalonien und der Konkurrenz der Medienunternehmen in Katalonien und Madrid während der transición zu folgen. Auf diese Ebene des Buches einzugehen, wie auf einige andere Ebenen mehr, ginge über die Absicht dieser Rezension, auf ein lehrreiches und spannendes Buch zur neuesten Geschichte Kataloniens und Spaniens hinzuweisen, hinaus.
Jordi Amat: El hijo del chófer. Barcelona: Tusquets Editores 2020 (10.11.2020), ISBN 978849066871 Jordi Amat: El fill del xofer. Els fils secrets del poder: ascens i caiguda d‘ Alfons Quintà. Barcelona: Edicions 62 2020 (11. November 2020); Übersetzer: Ricard Vela, ISBN 8429778942
Beide Texte sind auch als e-book erhältlich, die spanische Fassung gibt es auch als Hörbuch gelesen von Pere Molina.
Vom Wunderkind zum Prügelknaben oder von Reformbedarf und Reformchancen
Rezension von Knud Böhle
1. Einleitung
2018 wurde das 40-jährige Jubiläum der spanischen Verfassung von 1978 begangen. Das war auch der Anlass für ein Symposium in der Spanischen Botschaft in Berlin (13.12.2018 – 14.12.2018), zu dem renommierte Rechtswissenschaftler und Historiker aus Deutschland und Spanien geladen waren (vgl. dazu den Tagungsbericht). Auf diese Veranstaltung, die Birgit Aschmann und Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität zu Berlin organisiert hatten, geht auch der vorliegende Sammelband zurück. Die Publikation enthält 12 Beiträge, dazu eine Einleitung der beiden Herausgeber und als Anhang den Verfassungstext auf Deutsch (vgl. das Verzeichnis der Beiträge am Ende dieser Besprechung). Acht Beiträge sind auf Spanisch und vier auf Deutsch verfasst. Fünf Beiträge stammen von Historikern, sieben von Juristen (überwiegend Verfassungsrechtler).
In dieser Besprechung wird versucht, aus dem Gesamt der Beiträge eine knappe, synthetisierende Darstellung der Entstehung der Verfassung, ihrer Struktur und ihrer Besonderheiten herauszufiltern, um dann den Diskurs um Reformbedarf und Reformchancen, so wie er sich in den Beiträgen des Bandes findet, darzustellen. Dabei sind neben der politisch-territorialen Verfasstheit Spaniens, die Staatsform der Monarchie und das Schutzregime für die sozialen Grundrechte wichtige Streitpunkte. In einem Fazit wird dann zusammengefasst, was das Buch leistet.
2. Genese der Verfassung von 1978 im Kontext
Drei Beiträge ordnen die spanische Verfassung in einen größeren Rahmen ein und liefern damit nützliches Hintergrundwissen. Birgit Aschmann stellt die aktuelle Verfassung von 1978 in den Kontext der spanischen Verfassungsgeschichte seit 1812, Christian Waldhoff arbeitet die Besonderheiten der Verfassungsentstehung, des «constitutional moment», in einem typisierenden Vergleich heraus, und Karl-Peter Sommermann stellt einen systematischen Vergleich mit den beiden anderen in den 1970er Jahren entstandenen demokratischen Verfassungen Griechenlands und Portugals an.
In fast allen Artikeln wird, mehr oder weniger ausführlich, auf den Entstehungsprozess der Verfassung eingegangen, der in den Kontext der Demokratisierung nach Francos Tod (November 1975) einzuordnen ist. Die erste Etappe war das erste halbe Jahr nach Francos Tod, das sich als unergiebiges «Weiter-so» abschreiben ließe, die zweite Etappe setzte mit der Ernennung von Adolfo Suárez zum Ministerpräsidenten im Juli 1976 ein, der den Demokratisierungsprozess vorantrieb und es dabei fertig brachte, die reformwillige politische Klasse des Franquismus im Spiel zu halten, die reformunwilligen reaktionären Kräfte des Franquismus weitgehend aus dem Spiel zu halten, und den von der antifranquistischen Opposition angestrebten konsequenten Bruch mit dem alten System zu vermeiden. Karl-Peter Sommermann ist sogar geneigt, Adolfo Suárez «‘als welthistorisches Individuum‘ im Hegelschen Sinne» zu sehen (S. 76). Ein zentraler Baustein dieses Transformationsprozesses, der «transición», war das «Gesetz für die Politische Reform» (Ley para la Reforma Política), das quasi eine Scharnierfunktion zwischen der Legalität der Diktatur, also den von Franco erlassenen «leyes fundamentales», und der zu erreichenden demokratischen Verfassung erfüllte. In der Formulierung des damaligen Präsidenten der Cortes Fernández-Miranda «de la ley a la ley a través de la ley» (deutsch in etwa: vom Gesetz zum Gesetz durch das Gesetz) wird diese Funktion des Gesetzes auf den Punkt gebracht. Am 15.12.1976 wurde dieses Gesetz in einem Referendum mit 94 % Zustimmung, bei einer Beteiligung von 78 % der Stimmberechtigten, angenommen (S. 37). Mit diesem Gesetz und dieser Phase der transición befasst sich in dem Sammelband eingehend Alejandro Saiz Arnaiz.
AndreuMayayo i Artal betont, dass der Prozess zwar von der franquistischen politischen Klasse geleitet wurde, aber von der sozialen Mobilisierung vorangetrieben wurde (S. 45) und dadurch zur «ruptura pactada» (dem paktierten Bruch mit dem Franquismus) wurde. Er erinnert außerdem daran, dass sich der Demokratisierungsprozess unter der Drohung des Militärs vollzog, diesen zu stoppen, und von erheblicher politischer Gewalt begleitet wurde: 647 Todesopfer politischer Gewalt waren während der transición zu beklagen. 485 Menschen kamen bei Terroranschlägen um, von denen 354 als Opfer der baskischen Terrororganisation ETA gelten. 162 Menschen kamen bei Aktionen der staatlichen Sicherheitsorgane um (vgl. S. 47). Den Endpunkt dieser Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie bildete die Parlamentswahl vom Juni 1977.
Darauf folgte der im gewählten Parlament bewerkstelligte fünfzehn Monate dauernde verfassungsgebende Prozess, der mit dem Referendum über die Verfassung im Dezember 1978 abgeschlossen wurde. Die Wahlbeteiligung lag bei 67 %. Für die Verfassung stimmten davon 88 % (S. 7). Häufig wird die transición erst 1982 als abgeschlossen angesehen, nachdem der Putschversuch vom 23. Februar gescheitert war und der PSOE (Partido Socialista Obrero Español, dt.: Spanische Sozialistische Arbeiterpartei), die erste Partei aus der anti-franquistischen Opposition, in den vorgezogenen Neuwahlen vom Oktober 1982 bei hoher Wahlbeteiligung (80 %) die absolute Mehrheit erreichte.
3. Besonderheiten und Strukturmerkmale der spanischen Verfassung von 1978
Der Wille zum Konsens und die Kompromissbereitschaft der am verfassungsgebenden Prozess beteiligten Akteure wurden vielfach bewundert. „Niemals zuvor hat es eine solche Bereitschaft zu Kompromiss und Konsens gegeben wie im Zuge der Entstehung und Einsetzung dieser Verfassung“ (Aschmann, S. 23). In dem Band ist es vor allem Luis López Guerra, der darauf hinweist, dass der Zwang zum Konsens in der historischen Situation dazu führte, verfassungsrechtliche Unbestimmtheiten bewusst in Kauf zu nehmen und sogar absichtlich vage Formulierungen zu verwenden, wohl wissend, dass damit konkrete Entscheidungen in die Zukunft verlegt würden (López Guerra, S. 92-94; vgl. auch Aschmann, S. 23). Dies gilt sowohl für die Grundrechte als auch in besonders folgenreicher Weise für die territoriale Ordnung. Man könnte es auch so sagen: das Prädikat Kompromiss- und Konsensbereitschaft bezog sich in erster Linie auf den Willen, eine demokratische Verfassung zu schaffen, nicht aber auf die Einigung auf der Ebene der konkreten politischen Ausgestaltung. Darum ist es in gewisser Weise nicht verwunderlich, dass auf der Ebene des Verfassungstextes verdrängte Probleme später als politische Konflikte auftauchten. Auf diese hatte dann der Gesetzgeber Antworten zu finden, wobei das Verfassungsgericht häufig als Schiedsrichter angerufen wurde.
Generell lässt sich über die Verfassung von 1978 weiterhin sagen, dass sie sehr stark an die republikanische Verfassung von 1931 anknüpft (vgl. Aschmann, S. 18), wenngleich die Staatsform geändert wurde: «Die Staatsform des spanischen Staates ist die parlamentarische Monarchie» (Artikel 1 (3) der spanischen Verfassung, vgl. dt. S. 206). Die weitgehend repräsentativen Aufgaben des spanischen Königs behandelt Jordi Canal ausführlich in seinem Beitrag zu dem Sammelband.
Zu erwähnen ist auch, dass es bemerkenswert hohe Verfahrenshürden für eine Änderung der Verfassung gibt und bislang kaum Änderungen stattgefunden haben (vgl. dazu Sommermann, S. 87). Die bislang einzigen Verfassungsänderungen wurden durch das Europarecht erzwungen (Stichwort: Schuldenbremse, Stichwort: passives Kommunalwahlrecht aller Unionsbürger). Eine Änderung wichtiger Teile der Verfassung (etwa der Staatsform Monarchie, der territorialen Ordnung, der Grundrechte) verlangte erstens, dass beide Kammern der Änderung mit 2/3-Mehrheit zustimmen würden, woraufhin zweitens das Parlament aufzulösen wäre und Neuwahlen stattfänden, nach denen dann drittens die beiden neu zusammengesetzten Kammern wiederum mit einer 2/3 Mehrheit der anhängigen Verfassungsänderung zustimmen müssten, bevor dann viertens der Änderungsvorschlag in einem Referendum eine Mehrheit finden müsste.
4. Dezentralisierung und territoriale Ordnung
In der Geschichte des spanischen Konstitutionalismus zeichnet sich die spanische Verfassung von 1978 durch ihre starke Dezentralisierung aus (Bernecker, S. 168, Canal, S. 179 ). Die «Länderebene» in Spanien besteht heute aus 17 autonomen Gemeinschaften mit jeweils eigenen Autonomiestatuten, die zusammen den spanischen Autonomiestaat bilden.
Die gewählte Form eines «asymmetrischen Föderalismus», der Nationalitäten und Regionen unterscheidet, ist eine Besonderheit. Der Artikel 2 der Verfassung ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt der territorialen Ordnung Spaniens als Autonomiestaat. Er hat sich als interpretationsbedürftig erwiesen und wurde durchaus unterschiedlich interpretiert.
«Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die Bestandteil der Nation sind, und auf die Solidarität zwischen ihnen.»
Die ursprüngliche Annahme der Verfassungsväter war offenbar, dass die peripheren Nationalismen der «Nationalitäten» sich loyal zu den in der spanischen Verfassung ausgedrückten Werten verhalten würden (Bernecker, S. 174). Nach Xosé M. Núñez Seixas, der in dem Sammelband den parteipolitischen Diskurs zur dezentralen territorialen Verfassung Spaniens nach Franco nachzeichnet, entsprach die Unterscheidung spanische Nation und Nationalität gedanklich der Unterscheidung Meineckes von 1907 in Staatsnation und Kulturnation. Nur die Staatsnation wird dabei als politisch souverän gedacht. Später wurde in dem Zusammenhang mitunter auch das Konzept des «Verfassungspatriotismus» unter Bezugnahme auf Dolf Sternberger und Jürgen Habermas bemüht (vgl. etwa Núñez Seixas, S. 127f, vgl. Aschmann, S. 29 mit Bezug auf Peces-Barba, einen der Verfassungsväter). Diese Diskussion beförderte augenscheinlich jedoch die emotionale Bindung an den Zentralstaat in den autonomen Gemeinschaften mit starken Nationalbewegungen keineswegs. Oder anders gesagt: «Nicht der zentrale Staat, sondern die periphere nationale Gemeinschaft konnte innerhalb der letzten Dekade in Spanien eine spezifische Dynamik von Zugehörigkeitsgefühlen einerseits und Exklusionsgefühlen andererseits generieren» (Aschmann, S. 29).
Das zweite Problem des Artikels 2 liegt im Verhältnis der Nationalitäten zu den anderen Regionen. Bislang habe der politische Diskurs noch keine das Dilemma «Symmetrie vs. Asymmetrie» überwindende Formel hervorgebracht, so Núñez Seixas (vgl. S. 137 u. S. 139). Felipe González, Ministerpräsident Spaniens von 1982 bis 1996, sprach in diesem Zusammenhang einmal von «differentiellen Tatsachen» (hechos diferenciales) in Spanien, die zwar dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen, dafür aber die Integration unterschiedlicher (nationaler) Identitäten ermöglichen (González 2013 zitiert bei Bernecker, S. 174). Aber nicht alle Regionen mochten sich damit abfinden, weniger Rechte und Kompetenzen zu haben als die drei in der Verfassung als «historische Nationalitäten» gemeinten Gebiete (Galicien, das Baskenland und Katalonien).
Heute nehmen acht der 17 Autonomen Gemeinschaften in ihren Statuten für sich in Anspruch Nationalitäten zu sein. Neben den so genannten «historischen Nationalitäten» sind das Andalusien, Aragon, Valencia, die Balearen und die Kanarischen Inseln. Über entsprechende Änderungen ihrer Autonomiestatuten haben inzwischen Andalusien, Aragon, Valencia und die Balearen sogar den Status «historischer Nationalitäten» erlangt. Pedro Cruz Villalón, Präsident des spanischen Verfassungsgerichts von 1998 bis 2001, sieht dahinter die Absicht, den Begriff der «historischen Nationalitäten» aufzuweichen. (S. 158). Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch der Versuch vom Juli 1982, ein «Organgesetz zur Harmonisierung des Autonomieprozesses» (LOAPA, Ley Orgánica de Armonización del Proceso Autonómico) auf den Weg zu bringen. Das Gesetzesvorhaben wurde seinerzeit von der UCD (Unión de Centro Democrático, deutsch: Union des Demokratischen Zentrums), die damals noch an der Regierung war, und dem PSOE eingebracht, hatte aber vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand.
Weit größere Bedeutung als Katalysator für die derzeitige politische Krise und den Katalonienkonflikt hat indes das zweite Autonomiestatut Kataloniens, das alle erforderlichen demokratischen Abstimmungen erfolgreich bewältigt hatte und 2006 in Kraft trat. Vier Jahre später aber wurde es dann über ein Verfassungsgerichtsurteil in Teilen für nicht verfassungsgemäß erachtet. Die mit dem neuen Statut angestrebte Aufwertung Kataloniens zur Nation wurde zurückgewiesen. Ohne die vorherige (oder auch nachträgliche) unerlässliche Reform einiger Bestimmungen der Verfassung (Cruz Villalón, S. 154, Mayayo i Artal, S. 53, 55) war das Statut, wie seine Befürworter wohl wussten, rechtlich anfechtbar. Damit, so Mayayo, begann die Fehlerkette, die zu der heutigen Situation geführt hat.
Kurzum, wir haben es bei der territorialen Ordnung Spaniens mit äußerst anspruchsvollen und deshalb auch zerbrechlichen Anerkennungsverhältnissen zu tun. Es war von daher mit Versuchen zu rechnen, die in der Konstitution nicht ausreichend ausbuchstabierte Konfiguration je eigenen Interessen und Vorstellungen gefügig zu machen. Mit der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, der folgenden sozialen Protestbewegung, dem Erstarken der separatistischen Bewegung in Katalonien ab 2010 und dem erweiterten Parteienspektrum ab 2013/14 (rechtsnationalistisch Vox, linkspopulistisch Podemos) ist ein Interessenausgleich nicht gerade leichter geworden. Drei unterschiedliche Sichtweisen der Krise und nötiger Reformen zu ihrer Überwindung werden in dem Sammelband erläutert.
5. Sichtweisen der Krise und Lösungsoptionen
Pedro Cruz Villalón plädiert dafür, dem «Estado de las nacionalidades», der in der Verfassung angedacht und in der Entwicklung verwässert wurde, wieder Geltung zu verschaffen, wobei er die Chancen zu diesem Modell zurückzukehren, selbst als gering erachtet (S. 154). Die Uneindeutigkeit der Verfassung habe dazu beigetragen, dass es heute die bekannten Probleme mit der Konfiguration des Staates gibt (S. 164f). In der spanischen Geschichte habe es nachweislich ein Integrationsproblem bezogen auf das Baskenland, Galicien und Katalonien gegeben. Es sei dieses reale Problem, das die Verfassungsväter von 1978 dazu veranlasste, das Konzept der «Nationalitäten» in Artikel 2 aufzunehmen und eine Sonderstellung bestimmter Gebiete damit zu ermöglichen. Gedacht war damals offenkundig an die drei genannten Gebietskörperschaften, die während der II. Republik (1931-1939) Autonomiestatuten auf den Weg gebracht hatten (vgl. S. 160). Die Qualifikation einer autonomen Gemeinschaft als «Nationalität» macht nur Sinn, wenn tatsächlich Unterschiede zu den anderen autonomen Gemeinschaften der «Regionen» ausgemacht werden können. Dankenswerterweise wird Cruz Villalón hier konkret, und nennt neben der eigenen Sprache und Kultur zwei weitere Kennzeichen von «Nationalitäten»: erstens das messbare und stabile Vorhandensein einer gewissen Anzahl von Bürgern mit einem ausgeprägten Verlangen nach der Unabhängigkeit des Territoriums, das sie als ihr Land betrachten. Daraus leitet sich die Anerkennung ihres kollektiven Selbstbestimmungsrechts ab, dessen Wahrnehmung möglicherweise zur Abspaltung des Gebiets vom Staat führen könnte (vgl. S. 161). Das zweite Kennzeichen ist ein Parteiensystem mit Parteien, die es grundsätzlich ablehnen sich außerhalb ihres Territoriums aufzustellen und die ihren engen nationalen Bezug in den Vordergrund stellen, der ihnen vielleicht sogar wichtiger ist als jede andere politische Festlegung (vgl. S. 161). Die Lösung des Problems sieht Cruz Villalón darin, die drei «Nationalitäten» in der Verfassung konkret auszuweisen und klar zu definieren, welche Rechte und Pflichten sie als besondere autonome Gemeinschaften hätten (vgl. S. 163). Im Gegenzug wäre dann Loyalität gegenüber der Verfassung zu erwarten.
José Manuel Sánchez Saudinós spricht von einem eklatanten Scheitern (rotundo fracaso, S. 148) der Verfassung in Sachen Autonomiestaat. Er sieht es so, dass der Verfassungspatriotismus, also die Idee dass die Werte der Verfassung über den Nationalismen stehen, in der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 verbraucht wurde. Je mehr Dezentralisierung (Katalonien) gewährt wurde, desto stärker wurde die nationalistische Radikalisierung. Der Prozess zu immer umfangreicherer Selbstverwaltung und -regierung ging einher mit dem Verlust der kollektiven Identität (als Spanier) zugunsten einer spanienfeindlichen, nationalistischen Identität. Sprachpolitik, Erziehungswesen und Medien trugen ihren Teil dazu bei. Der Prozess ging auch auf Kosten der Binnenpluralität in den betreffenden Regionen und führte schließlich sogar dazu, dass aus einer autonomen Regierung heraus (Katalonien) die spanische Verfassung angegriffen wurde.
Man kann diese Diagnose auch so beschreiben, dass mit dem Sonderstatus der «Nationalität» in der Verfassung ein Erstarken des peripheren Nationalismus begünstigt wurde. Dieser sah sich zunächst im Rahmen der Verfassung ermächtigt, «nation building» zu betreiben, also die eigene Kulturnation zu fördern und möglichst viel in Verhandlungen mit dem Zentralstaat für die autonome Gemeinschaft herauszuholen. Ab einem bestimmten Punkt in der Krise, zu der auch die Frustration nach dem Urteil des Verfassungsgerichts von 2010 zum Autonomiestatut beitrug, politisierte sich das «nation building» in Katalonien und wandte sich gegen den spanischen Staat. Souveränitätsansprüche wurden artikuliert, die separatistischen Parteien erstarkten, und die Loyalität gegenüber der spanischen Verfassung war nicht mehr selbstverständlich. Aus dem Ziel «nation building» wurde das Ziel «state building».
Nach Sánchez Saudinós sind weder Re-Zentralisierung noch Separatismus noch Konföderation angemessene Lösungen in diesem Konflikt. Er bringt, ohne sehr konkret zu werden, eine Ausweitung der Instrumente der direkten und partizipativen Demokratie ins Spiel, die Stärkung der Kontrollmechanismen und der checks and balances des Rechtsstaates sowie eine Verbesserung der Garantien des politischen und territorialen Pluralismus (vgl. S. 150).
Walther L. Bernecker spricht sich dafür aus, eine Reform der Verfassung einzuleiten (S. 174f). Er nimmt dabei Bezug auf einen von mehreren spanischen Verfassungsrechtlern 2017 erarbeiteten Vorschlag für ein modifiziertes Modell territorialer Organisation, das von Kommunikations-, Partizipations- und Kooperationsdefiziten im derzeitigen System ausgeht (vgl. S. 175). Es wird diagnostiziert, dass die autonomen Gemeinschaften zu wenig in die Institutionen des Staates eingebunden und zu wenig an den Entscheidungen des Staates beteiligt seien. Ein Gremium, über das die autonomen Gemeinschaften an den Entscheidungen des Staates mitwirken könnten, fehle. Der Senat, die zweite Parlamentskammer, kann diese Aufgabe in seiner jetzigen Form, so Bernecker, nicht erfüllen (vgl. S. 175). Außerdem fehle ein Gremium für den Interessenausgleich und die Aushandlung gemeinsamer Positionen zwischen den autonomen Gemeinschaften. Es würde helfen, in der Verfassung die Verteilung der Kompetenzen und die wesentlichen Elemente der Finanzierung sowie die Instrumente der Kooperation festzulegen. Eine Reform dieser Art könnte die problematischen Einzelverhandlungen zwischen Zentralstaat und jeder einzelnen autonomen Gemeinschaft beenden. Zudem würden die entsprechenden Konkretisierungen in der Verfassung zu einer Entlastung des Verfassungsgerichts führen.
Dieser Vorschlag ist einleuchtend: institutionelle und organisatorische Verzahnung der Ebenen und ständiger Austausch zwischen den autonomen Gemeinschaften und dieser mit dem Zentralstaat. Das Ziel wäre, abstrakt gesprochen, durch institutionelle Vorkehrungen und Verfahren eine gemeinsame Verantwortung für den Staat als integriertes Mehrebenensystem aufzubauen. Welchen Status die «Nationalitäten» dabei in der neuen Konfiguration hätten, wäre im Reformprozess zu klären.
Die praktischen Schwierigkeiten einer Verfassungsreform dürften allerdings weniger bei den verfahrenstechnischen hohen Hürden einer Verfassungsänderung liegen als vielmehr darin, dass man sich in der zerstrittenen politischen Parteienlandschaft nur schwerlich auf ein konsensfähiges Reformprojekt wird verständigen können – von der hochemotionalen Lage in Katalonien noch ganz abgesehen.
6. Monarchie oder Republik
Die Kritik an der parlamentarischen Monarchie als Staatsform, die selbstverständlich die Verfassung berührt, wird vor allem aus dem linken Spektrum (jenseits der Sozialdemokraten) und von Unabhängigkeitsbefürwortern vorgetragen. Dem setzt der Historiker Jordi Canal i Morell eine Apologie der Monarchie als Institution und ein Loblied auf den aktuellen König Felipe VI entgegen. Im Ton hört sich das stellenweise nach Hofberichterstattung an, wenn etwa mitgeteilt wird, welche spanischen Modeschöpfer die Königin Letizia bei dieser oder jener Gelegenheit einkleideten (namentlich Felipe Varela und Manuel Pertegaz, vgl. S. 186 und 189). In der Sache ist ihm jedoch zuzustimmen, dass parlamentarische Monarchien nicht per se schlechtere Demokratien sein müssen (S.183). Dass die Wiedereinführung einer Monarchie, nach einer nur kurz währenden Republik und einer langen Diktatur, verfassungsgeschichtlich einzigartig ist, liegt auf der Hand (S. 180). Canal betont, dass die Legalität der parlamentarischen Monarchie sich allein aus der Verfassung von 1978 ableite, und nicht aus einer Kontinuität der monarchischen Tradition und auch nicht aus den «leyes fundamentales», also der franquistischen Legalität. Dass Juan Carlos I am 22. November 1975 noch im alten Regime zum König proklamiert wurde, würde Canal wohl nicht als Einwand gelten lassen. Er betont des weiteren die Vorbildfunktion des Königs als Element der Legitimität der Institution. Insofern war es konsequent, dass Juan Carlos I abdankte, als er dem Anspruch nicht mehr genügte, und sein Sohn an seine Stelle trat. Der neue König macht nach Canal seine Sache bislang gut, orientiert sich strikt an seinem Verfassungsauftrag und distanziert sich entschieden von den Mitgliedern der königlichen Familie, die sich nicht einwandfrei verhalten. Die Diskussion um die Staatsform und eine mögliche Verfassungsänderung hält selbstverständlich auch Canal für legitim, nur den Zeitpunkt erachtet er als ungünstig. Seiner Meinung nach ist Spanien zwar nicht unbedingt mehrheitlich monarchistisch, aber doch zunehmend dezidiert «pro-felipistisch» (sólidamente felipista, S. 202).
7. Reformbedarf bei den Grundrechten
Auch bei den Grundrechten wird von manchen eine Revision der Verfassung für nötig gehalten. In der spanischen Verfassung werden die Grundrechte eingeteilt in «Grundrechte und öffentliche Freiheiten», «Rechte und Pflichten der Bürger» und «Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik». Die Grundrechte der ersten Gruppe gelten als direkt anwendbar und für sie ist eine Verfassungsbeschwerde zulässig. Für die zweite Gruppe gilt allgemeiner Gerichtsschutz, während die dritte Gruppe der sozialen Rechte den Status von Leitprinzipien hat, die der Orientierung und als Prüfmaßstab dienen sollen (vgl. Sommermann, S. 81, López Guerra, S. 94-97). Für diese Differenzierung innerhalb der Grundrechte wird auch der Terminus «Normativitätsdistinktion» gebraucht. Während Sommermann die Normativitätsdistinktion und die damit verbundenen gestaffelten Schutzregime für ein innovatives Merkmal der spanischen Verfassung hält (S. 80f), sieht López Guerra darin eher etwas Barockes («un cierto barroquismo», S. 94). Er bedauert, dass die sozialen Rechte nicht besser geschützt sind. Gleichwohl hält er eine Reform der Verfassung bei den Grundrechten wegen der hohen verfahrenstechnischen Hürden für unwahrscheinlich, und sieht die Verantwortung für künftige Verbesserungen beim Gesetzgeber und der Rechtsprechung, insbesondere auch beim Verfassungsgericht (S. 98). Dem gegenüber macht sich Itziar Gómez Fernández, wissenschaftliche Mitarbeiterin am spanischen Verfassungsgericht, in einem überaus ausführlichen Beitrag für eine umfassende Reform stark, die konzeptionell von der Universalität aller Grundrechte und dem Kriterium der Vulnerabilität von Individuen und Gruppen ausgehen solle. Sie plädiert für die Aufhebung der Abstufung bei den Grundrechten und ein Schutzregime, das auch die Durchsetzbarkeit (exigibilidad) der sozialen Rechte einschließt – eine alte sozialdemokratische und sozialistische Forderung. Die Unterentwicklung des spanischen Staates als Sozialstaat wird von ihr in einen größeren Zusammenhang gestellt: die Krise der Demokratien und das Aufkommen des Rechtspopulismus. Der Ausbau des Sozialstaats durch die Stärkung der sozialen Rechte wird als probates Mittel angesehen, die Bindung an die Verfassung und den Staat zu erhöhen. Wie López Guerra weist auch sie auf den Handlungsspielraum des Verfassungsgerichts hin, anders als dieser spricht sie sich aber für eine grundlegende Reform der Verfassung aus und denkt dabei perspektivisch an einen neuen, vom Volk als Souverän ausgehenden verfassungsgebenden Prozess (S. 123).
8. Fazit
Der mit etwa 250 Seiten (samt Anhängen) gar nicht so umfangreiche Band ermöglicht insgesamt ein gutes und differenziertes Verständnis der spanischen Verfassung von 1978. Die Kontextualisierung der Verfassungsgenese in zeitgeschichtlicher (transición), systematischer (constitutional moment), historischer (Cádiz 1812 ff) und ländervergleichender (Portugal, Griechenland) Hinsicht ist nützlich, um die Besonderheiten der Verfassung zu verstehen. Als Problemfelder, die eine Verfassungsreform nötig machen könnten, werden in der Hauptsache die territoriale Ordnung und daneben auch die sozialen Grundrechte und die Frage der Staatsform behandelt.
Was die territoriale Ordnung bzw. das Nationalitätenproblem und seine mögliche Bewältigung angeht, kommen erfreulicherweise unterschiedliche Einschätzungen zu Wort. Weitgehende Einigkeit besteht dahingehend, dass ein Kernproblem der Verfassung von 1978 ihre Unbestimmtheit in wichtigen Punkten war und ist. Rückblickend scheint das größte Versäumnis der Verfassung von 1978 darin zu liegen, keine gemeinsame Verantwortung für den neuen föderalen Staat institutionell und operational verankert zu haben. Das Zusammenspiel der territorialen Einheiten festzulegen, ist eine Aufgabe der Verfassung, die weder die Gerichte noch der Gesetzgeber im Nachhinein übernehmen können. Von daher wäre ein längerfristig angelegter Reformprozess wünschenswert, an dessen Ende die Verfassung konkret festschriebe, welche Rechte und Pflichten den unterschiedlichen territorialen Einheiten zukommen, und wie die verschiedenen Ebenen verlässlich und belastbar zusammenwirken können.
Wie mehrfach in dem Sammelband angesprochen, sind Änderungen der Verfassung vom Verfahren her in Spanien zwar nicht leicht durchzusetzen, aber es ist auch klar geworden, dass darin nicht unbedingt das Hauptproblem liegt. Es fehlt, anders als nach 1975, ein einigendes Reformvorhaben und der nötige parteiübergreifende Konsens.
Abschließend lässt sich über den Band noch sagen, dass praktisch nur das gemäßigte Spektrum des wissenschaftlichen Diskurses abgebildet wird, während extreme Kritiker des «Regimes von 1978» von Links oder aus den Strömungen der peripheren Nationalismen nicht vertreten sind. Ob von dieser Seite konkrete Vorschläge ausgearbeitet wurden, die über die in dem Sammelband angesprochenen Reformvorschläge hinausgehen, sei dahingestellt.
Es hätte wohl auch den Rahmen des Bandes gesprengt, die wichtigen Unterschiede zwischen den peripheren Nationalismen und den dort jeweils geltenden Autonomiestatuten eingehend zu behandeln. Insbesondere hätte es sich vermutlich gelohnt, die Beilegung des Konflikts zwischen Zentralstaat und baskischem Nationalismus, der die transición überschattete, im Zusammenhang mit dem heute dort geltendem Autonomiestatut zu erörtern.
Ein letzter Satz: Angesichts des relativ breiten öffentlichen Interesses in Deutschland an den Vorgängen in Katalonien und der politischen Situation in Spanien insgesamt wäre ein deutschsprachiges Angebot aller Beiträge dieses inhaltsreichen Buches sicherlich die attraktivere Variante gegenüber dem gewählten Mix gewesen.
9. Übersicht über Autoren, Titel und Themen
Birgit Aschmann (Prof. für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin): Die Verfassung von 1978 im Kontext der spanischen Geschichte
Alejandro Saiz Arnaiz (Prof. für Verfassungsrecht an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona): La Ley para la Reforma Política: de la legalidad fundamental del franquismo a la Constitución democrática
Andreu Mayayo i Arial (Prof. für Zeitgeschichte an der Universität von Barcelona): La ruptura con el franquismo
Christian Waldhoff (Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin): Der „constitutional moment“. Wann und wie entstehen Verfassungen?
Karl-Peter Sommermann (Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Staatsrecht und Rechtsvergleichung an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaft in Speyer): Die südeuropäischen Transformationsverfassungen der 1970er Jahre im Vergleich – Griechenland, Portugal, Spanien
Luis López Guerra (Prof. emeritus für Verfassungsrecht an der Universität Carlos III, Madrid): Los derechos fundamentales en la Constitución española
Itziar Gómez Fernández (Professorin am Institut für Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Carlos III, Madrid): Vulnerabilidad y derechos fundamentales en el actual sistema constitucional español
Xosé M. Núñez Seixas (Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Santiago de Compostela): Verfassungspatriotismus und Nationalismus im Spanien des 21. Jahrhunderts
José Manuel Sánchez Saudinós (Prof. für Verfassungsrecht an der Universität Carlis III in Madrid): La relación entre el derecho, la historia y la sociedad
Pedro Cruz Villalón (Prof. für Verfassungsrecht an der Universität Autónoma de Madrid): El malogrado Estado de las nacionalidades (y la enorme dificultad de su reconducción)
Walther L. Bernecker (Inhaber des Lehrstuhls Auslandswissenschaft Romanischsprachige Kulturen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): ¿Existe una urgente necesidad de reformar la Constitución española de 1978?
Jordi Canal i Morell (Prof. für Geschichte der Moderne an der École des hautes études en sciences sociales, París): La Constitución española, la monarquía de Felipe VI y el proceso independentista en Cataluña (2014-2018)
Birgit Aschmann und Christian Waldhoff (Hrsg.): Die spanische Verfassung von 1978: Entstehung – Praxis – Krise? Münster: Aschendorff Verlag 2020
Die Auswanderung nach Andalusien, ein weitgehend vergessenes Kapitel spanisch-deutscher Geschichte, wird erstmals systematisch ausgeleuchtet
Rezension von Knud Böhle
1. Aufgeklärter Absolutismus und das spanische Kolonisierungsprojekt (1767-1835)
1767 – es ist die Zeit des aufgeklärten Absolutismus in Europa: Joseph II steht seit März 1764 an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches, Friedrich der Große herrscht über Preußen, Katharina die Große über Russland und in Spanien ist der Bourbonenkönig Karl III (Carlos III) an der Macht. Ideen der Aufklärung und physiokratisches Denken haben in Spanien Einzug gehalten. Aufklärer wie Campomanes, Aranda und Olavide bekleiden wichtige politische Ämter. Zur Ideenwelt, die die Reformpolitiker inspiriert, gehören staatlicher Interventionismus, die Verbesserung der Landwirtschaft, eine aktive Bevölkerungspolitik und Prestigeprojekte.
In diesem Zusammenhang ist die Ansiedlung von Ausländern in landwirtschaftlich ungenutzten Landesteilen (Kolonisierung) zu sehen, wie sie etwa von Preußen, Russland und eben auch von Spanien ab 1767 (in vergleichsweise kleinem Maßstab) praktiziert wird. Ebenfalls in das Jahr 1767 fällt das Verbot des Jesuitenordens und die Ausweisung der Jesuiten. Die Institution der Inquisition bleibt hingegen bestehen. Eine andere spanische Besonderheit ist das Banditentum (bandolerismo), welches den Transport überseeischer Waren von den Häfen Andalusiens nach Madrid gefährdet. Von daher ist es auch ein Ziel des Siedlungsprojekts gewesen, diese Wege (Teilstrecken des Camino Real) sicherer zu machen. In der Handschrift von Saragossa, dem weltberühmten, erstmals 1804 veröffentlichten Buch des Grafen Potocki, wird auf diesen Zusammenhang gleich zu Anfang angespielt: «Der Graf von Olavidez hatte in der Sierra Morena noch keine Ausländer angesiedelt: diese steile und stolze Gebirgskette, die Andalusien von der Mancha trennt, war also nur von Schmugglern bewohnt, von Räubern und von einigen Zigeunern…» (Inselausgabe 1980, S. 11).
Vorschläge für die Besiedlung dieser Gegend mit ausländischen Einwanderern gibt es schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts, entscheidend ist aber der April des Jahres 1767 als der König von Spanien mit dem Bayern Johann Kaspar Thürriegel einen Vertrag abschließt über 6.000 Kolonisten, die anzuwerben und nach Spanien zu bringen sind. In dem Vertrag sind genaue Vorgaben zu Herkunft, Religionszugehörigkeit, Altersstruktur und den nachzuweisenden Qualifikationen der angeforderten Kolonisten enthalten. Im Juli 1767 werden die Regularien, die in den Siedlungsgebieten gelten sollen im Fuero de Población (etwa: Sonderrechte für die Ansiedlungen) festgeschrieben. Der bereits genannte Pablo de Olavide übernimmt im Juni 1767 als Superintendente die Leitung des Kolonisierungsprojekts. Im August 1767 kommen bereits die ersten Migranten aus dem Südwesten des Heiligen Römischen Reiches in Spanien an. Die avisierten Siedlungsgebiete liegen zunächst in der Sierra Morena und ab 1768 kommen Flächen etwas weiter westlich in Andalusien dazu.
Legende: Die Kolonien liegen in den hellgrünen Flächen; die vier Reiche zusammen entsprechen weitgehend der heutigen autonomen Region Andalusien. Quelle: Wikipedia
Offiziell wird bei dem Projekt seit 1768 von den Nuevas Poblaciones de Sierra Morena y de Andalucía (etwa: Neusiedelungen in der Sierra Morena und Andalusien) gesprochen. Viele der damals neu gegründeten Dörfer gibt es noch heute. La Carolina in der Sierra Morena (Provinz Jaén), La Carlota (Provinz Córdoba) und La Luisiana (Provinz Sevilla) dürften zu den bekannteren Orten zählen. Mit der Aufhebung der letzten Sonderregelungen und staatlichen Zuwendungen für die Gebiete im Jahr 1835 endet das Projekt. Für die historische Untersuchung des Migrationsprozesses sind natürlich die ersten Jahre besonders relevant.
2. Komplexität des Themas und ihre wissenschaftliche Bewältigung
Nicola Veith bearbeitet das Thema in ihrer Dissertation (Johann-Gutenberg Universität Mainz, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften) auf die denkbar anspruchsvollste Weise, indem sie den Migrationsprozess auf Basis der wissenschaftlichen Literatur und intensiver Archivarbeit – verbunden mit dem Studium überwiegend spanischer und deutscher Quellen und Materialien – analysiert und rekonstruiert (vgl. zur Quellenlage S. 22-28).
Erstmalig wird hier der Migrationsprozess ganzheitlich dargestellt. Das bedeutet, dass zunächst die Umstände der Emigration aus dem Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) und die Reiserouten und Reiseverläufe bis in das neue Siedlungsgebiet untersucht werden. Erst danach wird die Ansiedlung und die sich anschließende Geschichte der Entwicklung der Kolonien und der Integration der Auswanderer behandelt. Dem entspricht in der Gliederung der Arbeit die folgende Dreiteilung: Teil I: Hintergründe der Spanienauswanderung im 18. Jahrhundert, Teil II: Verlauf der Spanienauswanderung 1767 bis 1769 und Teil III: Ansiedlung und Integration.
Im Rahmen dieser Struktur werden erstens die rechtlichen, politischen, organisatorischen und finanziellen Aspekte detailliert behandelt. Zweitens werden sowohl die Lebensbedingungen in der Herkunftswelt, die die Auswanderer motivierten, als auch die soziale Wirklichkeit in den Ansiedlungen und die sich dort nach und nach bildende neue Alltagswelt akribisch herausgearbeitet. Für die exemplarische Untersuchung der Herkunftswelten werden insbesondere die Kurpfalz, die Markgrafschaft Baden-Durlach sowie der schwäbische Raum ausgewählt. Fast unwillkürlich denkt man, dass auch diese Auswanderungsgeschichten einen Filmemacher wie Edgar Reitz (Stichwort: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht) verdient hätten.
Die von Nicola Veith zu bewältigende Komplexität des Themas ist hoch. Vorschnelle Vereinfachungen verbieten sich. Es geht um notwendige Differenzierungen. Lässt man sich, um gleich das wichtigste Beispiel zu nehmen, genauer auf die Herkünfte der Migranten ein, wird die Bedeutung solcher Differenzierung sichtbar: Zwar waren die überwiegende Anzahl der Kolonisten südwestdeutsche, elsässische und lothringische Bauern und Handwerker. Aber dazu kommen dann weitere Kolonisten aus den verschiedenen deutschsprachigen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches, den Niederlanden und der Schweiz, und weitere Kolonisten mit französischer Muttersprache aus der Schweiz und Frankreich sowie Italiener (vgl. S. 354). In dem Zusammenhang vertritt Nicola Veith die interessante These, dass die deutschsprachigen Migranten zwar durch die Fremdzuschreibung als «Deutsche» in ihrer regionalen und territorialstaatlichen Identität (als Kurpfälzer, Badener etc.) geschwächt wurden, dass aber gerade die dadurch ermöglichte gemeinsame Identität als «Deutsche», die Integration in den Kolonien erleichterte (vgl. S. 361, S. 399).
Für ein realistisches Gesamtbild der Auswandererkolonien kommt es zudem darauf an, viele unterschiedliche Facetten in die Betrachtung einzubeziehen: Fragen der Siedlungsform, Architektur, Bodenbeschaffenheit, Kolonialverwaltung, Familienstrukturen, Nachbarschaftsbeziehungen, Krankenversorgung, Seelsorge, Freizeitgestaltung etc., die in dieser Rezension aber nicht weiter vertieft werden können. Dem sechsseitigen Inhaltsverzeichnis, das online als pdf-Dokument verfügbar ist, kann man die Vielzahl der in der Dissertation behandelten Aspekte entnehmen.
3. Widersprüche, Fehler und Konflikte im Kolonisierungsprojekt
Ein Verdienst der Arbeit liegt darin, wichtige im Projekt angelegte und im Projektverlauf aufgetretene Konflikte und Widersprüche herausgearbeitet zu haben, was die Grundlage für eine kritische Gesamtbewertung liefern kann. Einige kritische Punkte sollen hier kurz angesprochen werden.
Bereits die Anwerbung von Kolonisten stand im Widerspruch zu den im 18. Jahrhundert geltenden Auswanderungsverboten im Heiligen Römischen Reich (vgl. S. 72). Die Emigration war von daher widerrechtlich und fand meistens heimlich statt (S. 105). Insbesondere stand das Bestreben der Herkunftsländer, die qualifizierten Bauern und Handwerker zu halten, im Widerspruch zu dem Ziel gerade diesen Personenkreis für das prestigeträchtige Kolonisierungsprojekt zu gewinnen. In der Praxis bedeutete das, dass viele der in Spanien aufgenommenen Auswanderer die erwarteten Qualifikationen nicht mitbrachten.
Widersprüchlich war auch die Mischung aufklärerischer und despotischer Tendenzen, die die wirtschaftliche Praxis in den Kolonien kennzeichnete (vgl. S. 214-253). Auf der Seite des Fortschritts in der Landwirtschaft standen die Kombination von Ackerbau-, Viehzucht und Handwerk als Wirtschaftsgrundlage, eine Schulpflicht und für die Frauen eine aktivere Rolle im Wirtschaftsleben. Kritisch ist ein «Übermaß an staatlicher Regulierung» (S. 30) zu sehen, das etwa an der anfänglichen Verteilung gleichgroßer Grundstücke, ohne die Bodenqualität in Rechnung zu stellen, abzulesen ist, oder am Beharren auf dem Anbau von Getreide trotz dafür ungünstiger landwirtschaftlicher Gegebenheiten und der damit einhergehenden verzögerten Umstellung auf ertragreichere Pflanzungen (S. 403). Auf der Negativseite steht weiter, dass die Kolonisten in den ersten Jahren keine Möglichkeit der Mitbestimmung hatten (S. 192). Nicola Veith spricht von einer annähernd militärischen Verwaltung der Kolonien (S. 398). «Untätigkeit zählte als Straftat» (S. 404), die mit Fußfesseln bei der Arbeit oder sogar Gefängnis geahndet werden konnte. Außerdem wurde wenig Geselligkeit zugelassen, was mit der Streulage der Höfe und dem Verbot, während der Woche die zentralen Orte zu besuchen, zusammenhing. Dennoch: vor der Kontrastfolie des Latifundismus, dem in Andalusien vorherrschenden Typus ausbeuterischen und wenig effektiven Großgrundbesitzes, wird der staatlich hoch subventionierte Versuch, eine «bäuerliche Mittelschicht» (S. 406) zu etablieren, als fortschrittlich erkennbar.
Zu den gravierenden Fehlern der Projektverantwortlichen, die die Autorin der Studie im Einzelnen nachgewiesen hat, gehörte die mangelhafte Vorbereitung auf die Herausforderungen der Ansiedlung in der Anfangszeit. So kamen die ersten Siedler erst im Spätsommer und Herbst 1767 an, das Neuland war zu dem Zeitpunkt noch nicht urbar gemacht und Unterkünfte standen kaum zur Verfügung (S. 172). Selbst dort wo Unterkünfte auf den Grundstücken entstanden waren, verfügten die Projektverantwortlichen, dass die Kolonisten (wieder) in große Baracken in den Hauptkolonien ziehen sollten – anstatt auf ihren Grundstücken zu bleiben. Dadurch begünstigt brachen Epidemien aus und es „ist anzunehmen, dass bis 1770 etwa die Hälfte der Kolonisten verstarb“ (S. 405). In diese Schätzung fließen freilich auch Angestellte der Kolonien, Handwerker, die beim Hausbau halfen, Soldaten sowie spanische Kolonisten ein. Außerdem dürfte die Situation je nach Ort stark variiert haben.
Mit dem Nachzug von Spaniern aus Katalonien und Valencia, und später auch aus anderen, ärmeren Gegenden Spaniens, wurde dieser Aderlass kompensiert. Die Zahl der Spanier in den Kolonien glich sich wahrscheinlich bereits im Jahr 1771 derjenigen der Ausländer an (S. 369-372). Damit veränderte sich freilich der Charakter des Vorzeigeprojekts grundlegend.
Religionszugehörigkeit und Religionsausübung bildeten eine weiteres Konfliktfeld. Das begann damit, dass nur Katholiken angeworben werden sollten, diese Bedingung aber von dem Werber Thürriegel nach Möglichkeit verschwiegen wurde. Das führte bei der Kontrolle der Einwanderer in Spanien häufig zu Scheinkonvertierungen und in einigen Fällen auch später noch zur Ausweisung von Protestanten. Problematisch war auch die seelsorgerische Betreuung, die laut Bestimmung im Fuero de Población für die ersten Jahre in der Muttersprache erfolgen sollte (S. 258). Die Kolonialleitung hatte indes die Akquise von Priestern nicht recht bedacht und kam erst 1769 darauf, den Bedarf durch deutschsprachige Kapuzinermönche, 18 an der Zahl, wie Nicola Veith aufzeigt, zu decken. Diese Mönche kümmerten sich offenbar nicht nur um seelsorgerische Belange, sondern legten sich auch mit der Kolonialverwaltung im Interesse der deutschsprachigen Siedler an (S. 262). In dem Maße, in dem ab 1770 zunehmend auch spanische Siedler aufgenommen wurden und das deutsche Brauchtum zurückgedrängt wurde, verschärfte sich der Konflikt. Das führte sogar dazu, dass der Kapuziner Romualdo Baumann im Jahr 1774 den Leiter des Kolonisierungsprojekts, Pablo de Olavide, bei der Inquisition als Ketzer denunzierte, weil der «protestantisches Gedankengut in sich trüge und sich gegen die kirchlichen Dogmen ausspreche» (S. 270). Es kam zum Prozess und zur Verurteilung Olavides (sicherlich nicht nur wegen Pater Romualdos Anzeige). Aber auch die Kapuziner mussten danach die Kolonien und Spanien verlassen.
4. Ist das Kolonisationsprojekt gescheitert, oder war es ein Erfolg?
Fragen wir abschließend auf Basis der Dissertation nach Erfolg und Scheitern des Projekts. Die Anwerbung jedenfalls war erfolgreich und Thürriegel übererfüllte (nach eigenen Angaben) sogar sein Soll mit 7.775 Siedlern, die er abrechnen konnte (mit 326 Reales je angenommener Person, S. 151).
Unter dem Gesichtspunkt der ursprünglichen Projektidee einer allein von kompetenten Ausländern aufgebauten fortschrittlichen und mustergültigen Landwirtschaft kommt man nicht umhin, von einem Scheitern zu sprechen.
Betrachtet man jedoch die Kolonien ab 1770, an deren Entwicklung ausländische und spanische Kolonisten mitwirkten, ergibt sich ein positiveres Bild. Einer zitierten Quelle nach wächst die Bevölkerung von 6.585 Personen im Jahr 1770 auf 11.857 Personen im Jahr 1833 (S. 386, S. 389). Diese Entwicklung geht mit einem wirtschaftlich positiven Wachstum zusammen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Integration ließe sich von einer Erfolgsgeschichte sprechen, da sich die Ausländer im Lauf weniger Jahrzehnte fast vollständig in die spanische Gesellschaft integrierten. Dem entspricht auch der Befund von Nicola Veith, dass viele «Auswandererbiografien beweisen, dass der Bogen von der heimatlichen Misere zum spanischen Eigentum in zahlreichen Fällen geglückt war» (S. 406).
5. Fazit
Die Dissertation liefert einen wichtigen Beitrag zu einem vernachlässigten und fast vergessenem Kapitel deutsch-spanischer Geschichte, und zu einer ganzheitlichen und prozessorientierten historischen Migrationsforschung. Diese Studie kann auch für die Gegenwart von Nutzen sein, insofern aus ihr wertvolle Anhaltspunkte und Einsichten zu gewinnen sind für die Untersuchung heutiger Projekte zur Anwerbung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte und die Analyse aktueller Migrationsprozesse.
Nicola Veith: Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration. Auswandererkolonien des 18. Jahrhunderts in Andalusien. Kaiserslautern: Bezirksverband Pfalz, Inst. f. pfälz. Geschichte und Volkskunde 2020, ISBN: 978-3-927754-97-3
Die Büchergilde Gutenberg hat im September 2020 den bekannten Radierzyklus Picassos Traum und Lüge Francos in ihrer Reihe Büchergilde Bilderbogen herausgegeben. Sie spricht von einer kleinen Sensation und erläutert, dass die Radierungen erstmals in Deutschland in Originalgröße mit Genehmigung der Erben Picassos abgedruckt werden (Büchergilde Magazin 4 | 20, S. 17). Genauer gesagt enthält ein Schuber zwei Bilderbogen im Format 67 x 48 cm mit dem Radierzyklus sowie einen dritten Bogen 48 x 33,5 cm mit dem zugehörigen Gedicht Picassos auf spanisch und in der deutschen Übersetzung von Max Hölzer. Auf der Rückseite befindet sich ein erläuternder Text von Theresa Nisters mit dem Titel: Der Radierzyklus Traum und Lüge Francos. Picassos erstes politisches Werk. Picasso selbst äußerte sich so zu diesen Radierungen: «¡En ellos está claramente expresada mi opinión sobre la casta militar que ha hundido a España en el dolor y la muerte!» [In ihnen ist meine Meinung über die militärische Kaste klar zum Ausdruck gebracht, die Spanien in Schmerz und Tod gestürzt hat] (nachzulesen in: Facetas de actualidad española Juli 1937, S. 80).
Auf den Internetseiten der Büchergilde gibt es eine Vorschau zu allen Teilen der Publikation (Radierzyklus, Picassos Gedicht, Übersetzung und erläuternder Text). Somit kann jeder einsehen, wovon im Folgenden die Rede ist. Die Herausgeber der Reihe Büchergilde Bilderbogen haben darauf verzichtet, (1) ihre Edition in Bezug zur Editionsgeschichte des Werkes in Deutschland zu setzen, (2) auf den Zusammenhang mit einer Picasso-Ausstellung im Städel Museum hinzuweisen und (3) auf den Forschungsstand einzugehen. Das ist auch nicht unbedingt ihre Aufgabe. Dennoch: in diesem Fall ist der Kontext nicht ganz uninteressant, wie die folgenden Anmerkungen zeigen.
1. Traum und Lüge Francos in Deutschland
In das Jahr 1968 fällt die (vermutlich erste) deutsche Publikation der Radierungen (als Faksimile im Postkartenformat) und des Gedichts. Es gibt davon zwei Versionen. Die eine erschien im Insel Verlag Frankfurt am Main als Nr. 880 der Insel-Bücherei und enthält ein Nachwort des renommierten Kunsthistorikers Werner Spies. Die andere erschien im Insel-Verlag Leipzig, ebenfalls als Nr. 880 der Insel-Bücherei, mit einem Nachwort des ebenfalls bekannten Kunsthistorikers Diether Schmidt. Die beiden immer noch lesenswerten Interpretationen des Werks fallen (auch systembedingt: BRD vs DDR) recht unterschiedlich aus. Die abgedruckte Übertragung des Spottgedichts stammt in beiden Ausgaben von Max Hölzer. Es ist davon auszugehen, dass die Übersetzung erst im Zusammenhang mit dieser Publikation entstanden ist (so auch eine Auskunft der Österreichischen Nationalbibliothek, die den Nachlass Hölzers betreut). Die Büchergilde bedient sich dieser Übersetzung (mit freundlicher Genehmigung von Roland Weber, dem Rechtsnachfolger Max Hölzers). Hölzer verfertigte, nebenbei bemerkt, im selben Jahr auch einen poetischen Text mit Spanienbezug Meditation in Kastilien, der zusammen mit sieben Lithographien Eduardo Chillidas verlegt wurde (St. Gallen: Erker-Presse 1968).
Der Text des zweiten Blogbeitrags wanderte ohne weitere Überarbeitung, aber in leicht gekürzter Fassung, in die Publikation der Büchergilde. Verloren ging dabei der Hinweis auf die im Museum Ludwig in Köln aufbewahrten Originalkupferplatten, die Picasso verwendet hatte; verloren ging auch der Hinweis auf eine Schenkung.
Foto der Druckplatten und Drucke. Quelle: Beitrag im STÄDELBLOG
Herbert Meyer-Ellinger und Christoph Vowinckel hatten im Jahr 2019 dem Städel Museum eine der von Picasso für die Weltausstellung 1937 in Paris produzierten Mappen mit dem Titel Sueños y Mentira de Franco vermacht. Von diesen blau-grauen Mappen, die den Radierzyklus, das Prosagedicht in der Handschrift Picassos (als Faksimile) und eine Reproduktion in Druckschrift (spanisch) sowie eine Übertragung ins Französische enthielten (auch von einer Übertragung ins Englische ist manchmal die Rede), hatte Picasso 850 Exemplare produziert. Für die Publikation der Büchergilde ist das insofern relevant, als genau das als Geschenk erhaltene Exemplar (Nummer 656/850, wenn ich richtig entziffere) für die Faksimileausgabe der Büchergilde verwendet wurde. Auf die Edition der Büchergilde bezogen ist auch festzuhalten, dass der Schuber und sein Inhalt nicht ganz das Äquivalent der Mappe bilden, wenngleich die zwei zentralen Arbeiten, der Radierzyklus und das Gedicht enthalten sind. Der Titel der Mappe entspricht nicht dem Titel des Schubers, das Gedicht hatte ursprünglich keinen Titel, und die handschriftliche Variante des Gedichts fehlt hier. Mehr Nähe zum Original der Mappe wäre eine attraktive Gestaltungsalternative gewesen.
3. Der Forschungsstand
Der erläuternde Text (ohne Quellenangaben) von Theresa Nisters ist trotz einiger Ungenauigkeiten durchaus nützlich, um die Arbeit Picassos an den Radierungen und dem Gedicht grob einzuordnen. Wer weiter in das Thema einsteigen möchte, dem sei aus der Unmenge an einschlägigen Publikationen der Ausstellungskatalog empfohlen, den die Picasso Museen in Malaga und Barcelona 2011 erstellten, und darin besonders der einleitende Beitrag der Kuratoren Salvador Haro und Inocente Soto, der in Spanisch und Englisch vorliegt und online verfügbar ist: El sueño del compromiso bzw. The dream of commitment(In: Viñetas en el Frente / Cartoons on the front line (Ausstellungskatalog), Museum Picasso Málaga 2011, S. 14-29 / S. 157-166, ISBN der spanisch/englischen Ausgabe 978-84-9850-302-9, katalanisch/englische Ausgabe des Picasso-Museums in Barcelona: ISBN 978-84-9850-301-2).
4. Traum und Lüge Francos, Guernica und das Geld
Der Zusammenhang des Radierzyklus mit Guernica ist bekannt: 14 der 18 Bilder des Zyklus entstanden an zwei Tagen im Januar 1937, also Monate vor dem Beginn der Arbeit Picassos an dem später Guernica genannten Werk. Die vier letzten Bilder des Radierzyklus entstanden nach Fertigstellung von Guernica und ihre stilistische wie motivische Nähe zu Guernica ist offensichtlich. Beide Arbeiten wurden auf der Weltausstellung 1937 in Paris im spanischen Pavillon präsentiert. Der Text von Theresa Nisters endet mit dem Satz «Diese Mappen wurden auf der Weltausstellung im spanischen Pavillon verkauft – dort, wo das Publikum auch zum ersten Mal das Gemälde Guernica zu sehen bekam. Den Erlös spendete Picasso der spanischen Republik.»
Abschließend möchte ich auf eine Polemik hinweisen, die sich um die Frage dreht, ob Picasso aus Idealismus und Patriotismus für die spanische Republik malte oder des Geldes wegen. Diese Polemik ist im Kontext eines in Spanien zu beobachtenden Geschichtsrevisionismus zu sehen, dem daran liegt, republikanische und mit der Linken verbundene Erfolge und Narrative abzuwerten, und die Geschichte neu zu deuten. Die Frage, was Picasso von der spanischen Regierung 1937 für Guernica bekam, der in der Online-Zeitschrift Revista de Historia im April 2018 nachgegangen wurde, kommt zu dem Ergebnis: umgerechnet 11.430.288,54 Euro. Dieses Resultat basiert zwar auf einem eklatanten Rechenfehler, wurde aber bis auf den heutigen Tag (11.10.2020) in der genannten Online-Zeitschrift nicht korrigiert und kann sich weiter verbreiten.
Arturo Pérez-Reverte, ein auch in Deutschland bekannter Schriftsteller, goss im Oktober 2018 anlässlich der Vorstellung seines neuen Buches Sabotaje Öl ins Feuer. In dem fiktionalen Krimi geht es um einen Geheimagenten, der 1937 im Auftrag Francos nach Paris kommt, um zu verhindern, dass Picassos Guernica auf der Weltausstellung gezeigt wird. Im Zusammenhang der Buchvorstellung soll Pérez-Reverte mit Bezug auf Picasso gesagt haben: «no pintó el Guernica por patriotismo ni por democracia; lo pintó por muchísimo dinero» [er malte Guernica nicht aus Patriotismus und nicht der Demokratie wegen; er malte es für sehr viel Geld]. (siehe: El Pais vom 3. Oktober 2018). Dieses Zitat machte dann die Runde.
In der Tageszeitung El Pais vom 6.10.2018 wird die Bezahlung Picassos erneut rekonstruiert (und dabei auch in einem Erratum eingeräumt, dass die früher angenommen 11,4 Millionen sich einer falschen Rechnung verdanken). Es steht außer Frage, dass Picasso 200.000 Franc von der republikanischen Regierung für den Ankauf des Bildes Guernica bekam. Aber dieser Summe entsprechen umgerechnet nicht 11,4 Millionen, sondern nur 114.000 Euro. Ein Franc war nach Angaben des französischen INSEE, des Nationalen Instituts für Statistik und Wirtschaftsplanung, 1937 etwa 0,57 Euro wert (siehe zur Entwicklung des Franc z.B. die auf Daten des INSEE beruhende Grafik).
Auch Pérez-Reverte dürfte wissen, dass Picasso der spanischen Republik verbunden war, und dass er nicht nur Geld für Guernica erhielt. Wer sich auf die Weltausstellung von 1937 bezieht, sollte fairerweise das für Guernica erhaltene Geld in Beziehung zu dem Erlös aus den Mappenverkäufen setzen, den Picasso spendete.
1.000 Mappen wurden erstellt: 850 blau-graue Mappen und 150 teurere, beige Mappen, die vom Künstler handsigniert waren. Die 850 blauen Mappen wurden für je 200 Franc angeboten und die höherwertigen 150 Mappen für je 500 Franc (siehe dazu die spanische Wikipedia). Rein rechnerisch macht das in der Summe 139.650 Euro. Aus Sicht der spanischen Republik könnte man fast von einem Nullsummenspiel sprechen: den 200.000 Franc, die für Guernica ausgegeben wurde, standen mögliche 245.000 Franc Einnahmen durch die Mappenverkäufe gegenüber. Dass vielleicht nur wenige Exemplare auf der Weltausstellung verkauft wurden, steht auf einem anderen Blatt. Auf einem anderen Blatt steht auch, dass Picasso sogar 300.000 Franc für die spanische Republik gespendet haben soll (London Bulletin no. 8-9 Januar Februar 1939, S. 59).
Fazit: Bei der Büchergilde ist jeder und jede schon mit sehr günstigen 18 Euro für das Gesamtpaket Traum und Lüge Francos dabei, und hat damit die Chance, sich mit dem Bilderzyklus in Originalgröße auseinanderzusetzen. Das ist, trotz der kritischen Anmerkungen, die Hauptsache.
Pablo Picasso:Das Licht hält sich die Augen zu: Radierzyklus und Spottgedicht „Traum und Lüge Francos“. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg (Edition Büchergilde, Büchergilde Bilderbogen No 5, hrsg. von Cosima Schneider) 2020, ISBN 978-3-86406-103-5
Vom anti-franquistischen Widerstand der kommunistischen Partei Spaniens bis zu ihrer Bedeutungslosigkeit. Eine Hommage an Manuel Moreno und eine eindrucksvolle Lektion in spanischer Zeitgeschichte
Rezension von Knud Böhle | 05.09.2020
Enric Juliana, Journalist und stellvertretender Direktor der Zeitung La Vanguardia, erzählt uns die berührende Geschichte vom Schlosser Manuel Moreno aus Badalona, den er noch persönlich kannte und von dem er viel lernte. Moreno ist das leuchtende Beispiel eines integren, unbeugsamen, selbst denkenden Kommunisten und Widerstandskämpfers gegen die Franco-Diktatur. Die Zeit von 1947 bis 1964 verbrachte er als politischer Häftling im „kältesten Gefängnis Spaniens“ in Burgos. „Aquí no hemos venido a estudiar“ (Wir sind hier nicht zum Studieren hingekommen) setzt Manuel Moreno Mauricio ein Denkmal.
Dem Autor geht es, ausgehend von dem Einzelschicksal, aber um mehr. Es geht um Geschichte: „Die Geschichte des Gefängnisses in Burgos ist die Geschichte des Franquismus“ (S. 125). Den Schlüssel zu dieser Geschichte hat Juliana im Höhlengleichnis Platons gefunden: wer in der Höhle sitzt muss Schattenbilder interpretieren, um auf die wirklichen Verhältnisse zu schließen. Aber nicht nur die Häftlinge sitzen in der Höhle. Auch die kommunistische Partei Spaniens im Exil befindet sich in einer Höhle und kann die Verhältnisse in Spanien nicht zweifelsfrei deuten. Noch schwieriger wird es, richtige Entscheidungen zu treffen, wenn die Weltmächte ins Spiel kommen und wie im Kalten Krieg geschehen, ihre Interessen rücksichtslos verfolgen.
Um 1960 saßen etwa 1.000 politische Häftlinge im „kältesten Gefängnis Spaniens“, von denen die meisten der PCE (Partido Comunista de España) bzw. der PSUC (Partit Socialista Unificat de Catalunya) angehörten. Wir lernen den Alltag in dem Gefängnis kennen: einerseits Verhöre, Folter, Isolation und Repression, andererseits Disziplin, Organisation, geheime Aktivitäten, Schulungen, Diskussionen und Widerstandsaktionen, aber auch Angst vor Verrätern und Spitzeln. Das Gefängnis bildet eine eigene soziale Realität, deren Schilderung mit einer Vielzahl oft abenteuerlicher Lebensgeschichten prominenter und weniger prominenter Parteimitglieder verbunden wird. Das Gefängnis wird zum Resonanzraum der Geschichte und zum Schauplatz des dramaturgisch geschickt in den Mittelpunkt gestellten Konflikts zwischen Manuel Moreno (PSUC) und Ramón Ormazábal von der kommunistischen Partei des Baskenlandes (Partido Comunista de Euskadi, PCE-EPK). Nachdem Ormazábal 1962 illegale Streiks im Baskenland organisiert hatte, wurde er gefasst und kam nach Burgos. Von ihm stammt der Titel gebende Satz „Aquí no hemos venido a estudiar“ (Wir sind hier nicht zum Studieren hingekommen). Er interpretiert nämlich die beträchtliche Streikbeteiligung als Hinweis auf ein mögliches, nahes Ende des Franco-Regimes und drängt auf unterstützende Aktionen vom Gefängnis aus. Manuel Moreno ist davon nicht überzeugt, sieht den Franquismus nicht am Ende und plädiert für das Lernen. Der Baske setzt sich in der Auseinandersetzung durch.
Da es Juliana auch um die Geschichte der PCE geht, ihre inneren Kämpfe, Fehleinschätzungen, Niederlagen und Kursänderungen, wird die Kontroverse Aktion vs. Reflexion auf der Ebene der Parteiführung ebenfalls zum Thema. Dolores Ibárruri und Santiago Carrillo müssen sich mit Javier Pradera, Jorge Semprún, Fernando Claudín und weiteren Dissidenten auseinandersetzen. Diese werden dann Mitte der 60er Jahre aus der Partei ausgeschlossen, unter anderem deshalb, weil sie den gesellschaftlichen Wandel in Spanien, den wirtschaftlichen Aufschwung und die wachsende Konfliktbereitschaft der Arbeiter anders interpretiert haben. Den Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzungen im Gefängnis wie in der Partei bildet die Frage, als wie hinfällig oder langlebig das Franco-Regime Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre einzuschätzen ist.
In der Literatur wird die neue Wirtschaftspolitik des Regimes häufig allein dem Einfluss der Technokraten des Opus Dei zugeschrieben. Dem widerspricht Juliana. Für ihn ist die Schlüsselfigur der wirtschaftspolitischen Wende der Ökonom Joan Sardà Dexeus, den er für den wichtigsten spanischen Wirtschaftsfachmann des 20. Jahrhunderts hält (S. 37). Sardà mag eine schillernde Persönlichkeit gewesen sein, Mitglied des Opus Dei war er jedenfalls nicht. Während des Bürgerkriegs hatte er schon die Wirtschaftspolitik der republikanischen Regionalregierung Kataloniens wesentlich mitgestaltet. Nun begegnet uns der anpassungsfähige Katalane als geistiger Vater des Stabilisierungsplans, der den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Franco-Regimes vermeiden half: Wachstum, bescheidener Wohlstand, entpolitisierte Mittelschichten… . Auf die Bedeutung Sardàs als Ökonom hinzuweisen, ist sicherlich angebracht. Ihn wie einen Deus ex Machina aus Katalonien einzuführen, erscheint mir gleichwohl etwas überzeichnet (insbesondere nach der Lektüre von Anna Catharina Hofmann: Francos Moderne. Technokratie und Diktatur in Spanien 1956-1973, siehe: https://spanienecho.net/rezensionen/).
Die neue ökonomische Politik bildet den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Franquismus. Mit Verspätung erst reagiert die Parteiführung des PCE adäquat auf die neue Situation, wendet sich vom Stalinismus ab und dem Eurokommunismus zu. Nach dem Ende der Diktatur 1975 konnte die Partei hoffen, in der Parteiendemokratie eine wichtige Rolle zu spielen. Sie hatte den erbittertsten Widerstand gegen das Franco-Regime geleistet, war über die Basisarbeit in den Comisiones Obreras in den Fabriken anerkannt, und zählte zum Zeitpunkt der ersten freien Wahlen 1977 200.000 Mitglieder (weit mehr als der Partido Socialista Obrero Español, PSOE, mit ca. 50.000 Mitgliedern). Während der Transition gelang es dem PCE durchaus noch, Einfluss auf die Politik zu nehmen, exemplarisch bei der Erarbeitung der Verfassung von 1978 und dem Moncloa-Pakt. Trotzdem hat die Partei in den folgenden Jahren dann ihre Bedeutung fast gänzlich eingebüßt und ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Spätestens nach der vorgezogenen Neuwahl 1982 mit der absoluten Mehrheit des konkurrierenden PSOE beginnt der Weg des PCE in die Bedeutungslosigkeit. Juliana leistet auch hier die nötige Erinnerungsarbeit.
Journalistisch zieht Juliana alle Register, um das Buch zu einem „page-turner“ zu machen. Einiges davon wurde schon angedeutet: das Höhlengleichnis, die immer weiter werdenden Kreise um die Höhle von der Gefängniszelle bis zur Weltpolitik (filmisch: zoom-out, zoom-in), die Gegenüberstellung von Aktion und Reflexion auf verschiedenen Ebenen (Ormazábal vs. Moreno; Parteiführung vs. Dissidenten), die abenteuerlichen Lebenswege von Ormazábal und Moreno im Gegenschnitt sowie weitere oft sehr dramatische Einzelschicksale, die eingewoben werden (z.B. von Julián Grimau oder Juan Comorera) und Rückblicke auf die Zeit der Zweiten Republik und des Bürgerkriegs ermöglichen.
Der Autor kombiniert Persönliches, Archivmaterial, Analyse, Sentenzen und Anekdoten. Dabei entsteht ein einzigartiges literarisches Konstrukt, das vielleicht am ehesten als Essay bezeichnet werden kann. Um die vielleicht schönste Anekdote hier noch abschließend anzuführen: Es war ein andalusischer Priester, der „Cura Pitillo“ aus Vélez-Rubio, dem Geburtsort Morenos, dem der Kommunist Manuel Moreno die Umwandlung der gegen ihn verhängten Todesstrafe in eine Haftstrafe verdankte. Diesem gelang es nämlich zu Eva Perón, die bei ihrem Spanienbesuch 1947 auch Granada besuchte, vorzudringen. Er überreichte ihr seinen Brief mit dem Begnadigungswunsch, und ihr gelang es offenbar, Franco zu diesem Gnadenakt zu bewegen.
Bleibt zu wünschen, dass das fesselnde Buch auch auf Deutsch verlegt wird.
Enric Juliana: Aquí no hemos venido a estudiar: Memoria de una discusión en el penal más duro de la dictadura. El debate de un mundo olvidado que explica el presente. Arpa Editores: Barcelona 2020. ISBN-10: 841762354X
Das beste und aktuellste Spanien-Vademecum, das derzeit auf Deutsch zu haben ist
Rezension von Knud Böhle | 17.08.2020
Neuauflagen werden höchst selten rezensiert. Das ist vor allem dann schade, wenn relevante Werke vollständig überarbeitet und aktualisiert wurden. Genau das ist hier der Fall, bei dem von Dieter Nohlen und Mario Kölling verfassten Studienbuch „Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik“. Die erste Auflage war 1992 (Nohlen/Hildenbrand) erschienen, die zweite 2004 (Nohlen/Hildenbrand). Die Zuspitzung des Katalonienkonflikts, die Banken- und Wirtschaftskrise und ihre Folgen etwa für die Parteienlandschaft sowie weitere Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft haben eine grundlegende Überarbeitung nahegelegt. Die vorliegende dritte Auflage des Werks berücksichtigt insbesondere die Zeit von 2004 (Regierung Zapatero) bis 2019 (Regierung Sánchez). Der Januar 2020, als die erste Koalitionsregierung auf nationaler Ebene von PSOE und Unidas Podemos gebildet wurde, dürfte recht genau auch den Redaktionsschluss der Veröffentlichung markieren.
Das Buch will, wie es im Vorwort heißt: „[…] zuallererst über Spanien informieren. Die Entwicklungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft werden quellennah und gestützt auf verlässliches statistisches Datenmaterial dargestellt. Vergleiche mit anderen europäischen Ländern – insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland – helfen, die Entwicklungen einzuschätzen“ (S. XI-XII).
Das Buch teilt sich in vier große Teile mit Kapiteln und Unterkapiteln. Teil I:Spanien im Profil weist die Kapitel Geografie, Bevölkerung, Politische Geschichte und Politische Kultur aus. Teil II:Wirtschaft ist unterteilt in Wirtschaftliche Entwicklung, Wirtschaftsstruktur, Staat und Wirtschaft, regionale Wirtschaftsstruktur sowie Weltwirtschaftliche Integration. Teil III: Gesellschaft behandelt Sozialstruktur, Bildungssystem, Arbeitsbeziehungen, Interessensgruppen, Katholische Kirche, Militär, die politische Elite und die Massenmedien. Im letzten Teil IV: Politik werden der Zentralstaat, die Autonomen Gemeinschaften, die Lokale Selbstverwaltung, Parteien und Parteiensystem, Wahlen und Volksabstimmungen, Formen politischer Partizipation und einzelne Politikfelder behandelt (Institutionenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gender- und Gleichstellungspolitik, Jugendpolitik, Umweltpolitik sowie Außen- und Europapolitik). Hinter der Überschrift Institutionenpolitik verbirgt sich übrigens ein Aufriss der Beziehungen zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften, wobei der Katalonienkonflikt breiten Raum einnimmt. Das Vorwort und das detaillierte Inhaltsverzeichnis lassen sich kostenlos im Internet einsehen.
In dieser kurzen Besprechung des ca. 550 Seiten starken Buches soll nicht auf einzelne Kapitel inhaltlich eingegangen werden. Allgemein gesprochen ist der Stil der Autoren, beide Politikwissenschaftler, wie zu erwarten, wissenschaftlich neutral. Aber das bedeutet weder „unkritisch“ noch „werturteilsfrei“. Der normative Maßstab, der der Darstellung zugrunde liegt, ist offenkundig eine Vorstellung bzw. ein Modell funktionierender Demokratie.
In dem Kapitel zur politischen Kultur in Spanien wird deutliche Kritik laut an der schon säkular zu nennenden Korruption und an der Schwierigkeit, Konsense, Kooperationen oder Koalitionen auf politischer Ebene zustande zu bringen. In diesem Zusammenhang wird auch die verbreitete Neigung zu einem dualistischen und maximalistischen politischen Denken gesehen. Durchaus kritisch (und vermutlich auch mit Bedauern) stellen die Autoren fest, dass sich der Politikstil vor allem seit der Parlamentswahl vom März 2000, die dem Partido Popular unter José María Aznar eine absolute Mehrheit bescherte, radikal geändert hat. Die Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft der Transition, die die Nach-Franco-Zeit bis dahin noch gekennzeichnet hatte, wurde aufgekündigt und seitdem bestimmen Polarisierung, Dualismen und Maximalforderungen verstärkt die Tagesordnung (vgl. S. 66). Das ist auch insofern ein interessanter Gedanke als nicht alle Schwächen des politischen Systems und die heutigen politischen Konflikte einfach dem langen Schatten Francos oder den Mängeln der Verfassung von 1978 angelastet werden können, sondern als Folge einer bewussten Preisgabe des bereits erreichten Niveaus an demokratischer Kultur zu sehen sind.
Das Meiste an dem Buch ist gut gelungen. Es gefallen nicht nur die Vergleiche mit der Bundesrepublik Deutschland, die sogar noch verstärkt werden könnten. Gerade in den Kapiteln, die sich mit dem spanischen Autonomiestaat befassen, erleichtern die Hinweise auf die Unterschiede zwischen bundesrepublikanischem föderalen System und spanischem Autonomiestaat das Verständnis des spanischen Systems erheblich. Positiv herauszustellen ist außerdem der Vergleich der unterschiedlichen materiellen Politiken von PP- und PSOE-Regierungen. Zu schätzen sind auch die Rückblicke auf die spanische Geschichte, da wo sie nötig sind, um die gegenwärtige Situation besser zu verstehen.
Wichtig und informativ ist auch die gelegentliche Demontage eingebürgerter Klischees. So werde etwa die Bedeutung des Königs für die erfolgreiche Transition oft übertrieben und die Leistung von Adolfo Suárez unterschätzt: „Späterhin wurde irrigerweise der Beitrag des Königs Juan Carlos I in den Mittelpunkt von Erklärungen des erfolgreichen Übergangs zur Demokratie gerückt.“ In Wirklichkeit gab der König „zu Beginn der Transition eher eine in der Öffentlichkeit belächelte Figur ab“ (S. 44f). Ein anderes Beispiel ist die Unterschätzung der Bedeutung der Regionalparteien für die Politik auf Ebene des Zentralstaats. Es „werde viel zu wenig wahrgenommen, welch starken Einfluss die peripheren nacionalidades auf die nationale Politik genommen haben“ (S. 464), weil ihre Mitwirkung für die Abstützung von Regierungen der PSOE oder der PP in Ermanglung sogenannter Scharnierparteien häufig benötigt wurde.
Freilich gibt es immer etwas zu kritisieren: nicht alle Kapitel sind gleich gelungen; nicht jede Aussage muss man teilen (etwa die Einschätzung von Podemos als „linksextrem“, S. 399); manche Themen wie die Judikative oder den baskischen Konflikt wünschte man sich ausführlicher behandelt, aber man darf ja nicht vergessen, dass es sich hier um ein Lehr- Studien- und Nachschlagewerk handelt. In seiner Gesamtheit ist es unbestreitbar das beste und aktuellste Spanien-Vademecum, das derzeit auf Deutsch zu haben ist.
Dieter Nohlen, Mario Kölling: Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik. Wiesbaden: Springer VS 2020, 3. Auflage, 548 S., ISBN: 978-3-658-27637-9 B
Die Auswahl der Interviewpartner für den vorliegenden Interviewband, ermöglicht es Krystyna Schreiber, verschiedene Facetten der katalanistischen Bewegung auszuloten. Gekonnt bringt sie ihre Interviewpartner dazu, unumwunden und unverkrampft Auskunft zu geben. Das ist möglich, weil Sympathie für den Procès auf beiden Seiten besteht. Ziel des Buches ist es dementsprechend, dass deutsche Leser die katalanistische Seite besser verstehen. Kurze Bemerkungen zu Beginn jedes Interviews zur Gesprächssituation und zum ersten Eindruck, den ein Gesprächspartner auf die Interviewerin gemacht hat, sind unterhaltsam und fördern das Verständnis. Die Fragen, die gestellt werden, sind wohl überlegt.
Der Band enthält Interviews mit Artur Mas, dem damaligen Präsidenten der Regierung der autonomen Gemeinschaft Katalonien, mit Carme Forcadell, der damaligen Präsidentin der Bürgerinitiative „Katalanische Nationalversammlung“ (ANC) und mit Muriel Casals, damals Präsidentin der zweiten großen zivilgesellschaftlichen Organisation für die Unabhängigkeit Kataloniens „Òmnium Cultural“, des Weiteren mit Amadeu Altafaj, damals Ständiger Vertreter der Regierung Kataloniens bei der Europäischen Union sowie mit Santiago Vidal zur Zeit des Interviews 2015 noch Richter am Gerichtshof der Provinz Barcelona und Mitverfasser eines Entwurfs für eine Verfassung Kataloniens. Dazu kommt noch ein Gespräch mit Elisenda Paluzie, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität Barcelona – und seit März 2018 auch Präsidentin des ANC.
Kondensiert man den Diskurs der Katalanisten, lautet das Ergebnis etwa so: Katalonien hat eine tausendjährige Kultur. Seit 300 Jahren, dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs, ist die katalanische Nation in den spanischen Staat zwangsweise integriert. Auch nach dem Ende des Franquismus und der Verfassung von 1978 hat der „bösartige“ (p. 29) Zentralstaat nicht aufgehört, Katalonien zu diskriminieren. Mit dem Kassieren wichtiger Bestimmungen des Autonomiestatuts von 2006 durch das Verfassungsgericht wurde ein Tipping-Point erreicht, mit der Folge einer immer stärker werdenden zivilgesellschaftlichen Bewegung und einem Strategiewandel der Regierungsparteien in Katalonien. Ein Referendum über den künftigen politischen Status Kataloniens abzuhalten mit der Option, einen eigenständigen Staat zu gründen, war damals (2015) die zentrale Forderung. In dem Narrativ ist kein Platz mehr für einen ethnischen Katalanismus, der inzwischen als überholt angesehen wird. Die Frage der Sprache(n) in einem katalanischen Nationalstaat wird unterschiedlich gesehen. Ob Artur Mas, der Katalonien auf einem guten Weg zu einem komplett zweisprachiges Land sah (p. 88), das heute noch so sagen würde, sei dahingestellt. Allenfalls in Bezug auf Tugenden wie Pünktlichkeit und Sparsamkeit oder die besondere Friedfertigkeit der Katalanen, wird der Nationalcharakter noch herangezogen.
Außer den katalanischen Persönlichkeiten wurden auch deutschsprachige Wissenschaftler befragt, namentlich Kai-Olaf Lang (Berlin), Nico Krisch (Genf), Tilbert Didac Stegmann (Frankfurt a.M.), Klaus-Jürgen Nagel (Barcelona), des Weiteren Bernhard von Grünberg, bis 2017 SPD-Abgeordneter des Landtages NRW, und schließlich der lettische Schriftsteller und Journalist Otto Ozols.
Von den Nicht-Katalanen ist das Interview mit Kai-Olaf Lang, der die Beziehungen Kataloniens zum Zentralstaat und zur EU nüchtern einschätzt, sehr informativ und auch der Beitrag des Völkerrechtlers Nico Krisch der die staats- und völkerrechtlichen Möglichkeiten für mehr Unabhängigkeit Kataloniens auslotet. Seine Anregung, die UN-Deklaration zu den Rechten indigener Völker auf Volksgruppen wie die Katalanen und Basken anzuwenden, und ihnen darüber Autonomierechte zu verschaffen, erscheint mir indes für ein Katalonien, dessen Bewohner überwiegend einen Migrationshintergrund haben und eine Bewegung, die um keinen Preis mehr ethnisch definiert sein möchte und einen eigenen Staat anstrebt, etwas unpassend. In anderen Gesprächen mit nicht-katalanischen Experten kommt es vereinzelt zu Aussagen, die schwer nachzuvollziehen sind. So meint der Gesprächspartner aus Lettland, „In Lettland gibt es immer noch lettische und russische Schulen. In diesem Sinne sind die Katalanen für uns ein Vorbild. Bildung in einer einzigen Sprache ist der beste Weg, damit eine Gesellschaft gegenseitiges Verständnis lernt“ (p. 257). Auf andere Weise erscheint die Einschätzung des befragten Romanisten etwas verstiegen, der sagt, dass er „keinen ernst zu nehmenden katalanischen Künstler, Akademiker, Intellektuellen, Sprachwissenschaftler oder Wirtschaftsfachmann mehr kenne, der die Unabhängigkeit Kataloniens nicht für dringend notwendig hielte“ (p. 184). Eduardo Mendoza, um nur ein wichtiges Gegenbeispiel zu nennen, wäre demnach kein Katalane, oder er wäre nicht ernst zu nehmen. Unter dem Strich sind aber auch die Interviews mit den Nicht-Katalanen aufschlussreich.
Wünschenswert wäre ein ähnlicher Interviewband – nicht mit der Gegenseite der spanischen Nationalisten –, sondern mit denen, die den Glauben an einen dritten, integrativen Weg noch nicht aufgegeben haben.
Krystyna Schreiber: Die Übersetzung der Unabhängigkeit. Wie die Katalanen es erklären, wie wir es verstehen. Interviews mit führenden Persönlichkeiten und Experten über Kataloniens Anliegen. Dresden: Hille Druckerei und Verlag 2015; ISBN 9783939025603
Rezension von Knud Böhle | 17.07.2019 (durchgesehen 02.08.2020)
Martin Dahms, Spanienkorrespondent einer Reihe deutschsprachiger Zeitungen, legte im Dezember 2018 die aktualisierte Neuauflage von „Spanien – ein Länderporträt“ vor, dessen Erstauflage 2011 erschienen war. Ein Buch dieser Art – weder Reiseführer noch politische Landeskunde – sollte Anfängern einen gut lesbaren Einstieg bieten, aber auch denen, die die Berichterstattung über Spanien regelmäßig verfolgen, noch neue Einsichten vermitteln. Um das zu erreichen, kombiniert Dahms verschiedene Zugänge und stilistische Mittel.
Zum einen greift er gängige Spanien-Topoi auf und hinterfragt sie. Was ist dran an Flamenco, Siesta, Stierkampf, spanischer Küche und den für typisch gehaltenen Sitten und Gebräuchen? Häufig werden die persönlichen Eindrücke durch Anekdotisches unterstützt. Zum anderen gelingt es Dahms, sowohl die neuere Geschichte als auch aktuelle soziale und politische Fragen in journalistischer Tonlage abzuhandeln. Dabei bringt er seine persönliche Meinung klar zum Ausdruck und spart nicht mit kritischen Einschätzungen. Für ihn steht z.B. außer Frage, dass die Franco-Diktatur bis 1959 nicht bloß eine autoritäre Herrschaftsform darstellte, sondern ein „terroristischer Staat“ war.
Die Beobachtung, dass den Spaniern weder in kleinem Kreis noch im politisch-öffentlichen Raum viel an einer produktiven Streitkultur gelegen sei, und sie nicht gut darin seien, Konsens zu erzielen, erscheint zunächst provokant. Mit Blick auf den Umgang der Parteien miteinander, etwa bei der Regierungsbildung, oder mit Blick auf die mangelnde Dialogbereitschaft im Katalonienkonflikt, kann man dieser These jedoch eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. Es spricht übrigens auch für dieses Länderporträt Spaniens, dass dieser Konflikt nicht ausgespart wird. Für Dahms geht es dabei im Kern nicht um Fragen des Völkerrechts, sondern um einen Konflikt zwischen zwei konkurrierenden politischen Ideologien, dem spanischen und dem katalanischen Nationalismus.
Ein weiteres inhaltliches und stilistisches Element ist die Vermittlung bestimmter Problemlagen über ihre Personalisierung. So erzählt uns Dahms von Emilio Silva, der seinen Großvater, ein Opfer der Franco-Diktatur, im Jahr 2000 exhumieren ließ. Wie viele andere auch, war auch dieser nach seiner Ermordung einfach in einem Massengrab verscharrt worden. Silva sollte dann alsbald mit anderen den „Verein zur Wiedererlangung des Historischen Gedächtnisses“ (ARMH = Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica“) gründen und entscheidend dazu beitragen, den „Pakt des Schweigens“ zu unterlaufen, und den Konsens in Frage zu stellen, nachdem der Übergang von der Diktatur zur Demokratie (die „transición“) als abgeschlossene Erfolgsgeschichte zu betrachten sei.
Die zweite Persönlichkeit, die Dahms besonders herausstellt, ist der Richter Baltasar Garzón, der international vor allem wegen seines Haftbefehls gegen Augusto Pinochet bekannt geworden war, in Spanien aber an vielen juristischen Fronten kämpfte: der Bekämpfung der Korruption, der Aufklärung der GAL-Affäre (staatlich zumindest tolerierte geheime Antiterrorkommandos gegen die ETA), der effektiven Bekämpfung des ETA-Umfelds und schließlich der Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen während der Franco-Diktatur – bis die spanische Justiz ihn deshalb zu Fall brachte. Das wirkliche Opfer des Garzón-Prozesses, daran lässt Dahms keinen Zweifel, war der spanische Rechtsstaat.
Ein vierter Baustein des Länderporträts sind gewissermaßen Antworten auf implizite Fragen vom Typ „Wie ist das denn bei den Spaniern?“ „Was ist ähnlich, was ist ganz anders als in Deutschland?“. Angesprochen werden u.a. die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zuwanderung, das Erziehungswesen, die Innovations- und Unternehmenskultur, der Stand bei den erneuerbaren Energien, die durch den Klimawandel sich verschärfende Frage der Verteilung der Wasserressourcen zwischen Nord und Süd, die politische Teilhabe der Regionen, die Krise der Monarchie, die politische Rolle der Kirche. Eine gute Orientierung bieten auch die Seiten zu der sich verändernden Medienlandschaft, die neben der Zeitungskrise auch durch Boulevardisierung und Krawallisierung gekennzeichnet ist. Auf seriöse Online-Zeitungen im Internet als Alternative wird hingewiesen.
Vielleicht muss sich der Autor von manchen die Frage gefallen lassen, wo denn das Positive bleibe. Dem beugt Dahms zwar schon in der Einleitung vor mit der Erklärung, dass er nur aus seinem persönlichen Blickwinkel schreibe und keine Liebesgeschichte schreiben wolle. Dabei kommt vielleicht die in Spanien durchaus beobachtbare, beeindruckende Veränderungskraft und Kreativität kollektiver Anstrengungen etwas zu kurz. Die Comisiones Obreras, jener sich während der Franco-Diktatur herausbildende Typ der Arbeitervertretung, deren Bedeutung für die Demokratisierung Spaniens durchaus mit der der Solidarność für Polen verglichen werden kann, wird gar nicht erwähnt. Auch die nach dem Platzen der Immobilienblase entstandene spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen und für Hypotheken-Opfer sowie die Entstehung zweier neuer Parteien (Podemos und Ciudadanos) als Antwort auf die Krise und die Korruption der beiden Altparteien PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) und PP (Spanische Volkspartei), wird nur am Rande behandelt.
Abschließend sei eine Bemerkung von Dahms aufgegriffen, der in Andrés Trapiello einen wichtigen spanischen, in Deutschland noch zu entdeckenden Schriftsteller sieht. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Daran anschliessend läßt sich sagen, dass ein Länderportrait durchaus gewinnen kann, wenn auf Literatur (in Übersetzung) aufmerksam gemacht wird, die gesellschaftliche Verhältnisse und Problemlagen anschaulich macht. Für Spanien leisten das etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, der Roman „Patria“ von Fernando Aramburu, der uns den Konflikt im Baskenland anhand zweier verwobener Familiengeschichten nahebringt, oder „Am Ufer“ von Rafael Chirbes, der uns die fatalen Folgen der geplatzten Immobilienblase am Beispiel eines kleinen Handwerksunternehmens drastisch vor Augen führt.
Kurzum: Ein Länderportrait wird nie allen Wünschen genügen können, aber Dahms ist es erstaunlich gut gelungen, ein Buch über Spanien für Anfänger und bereits gut Informierte (hier in der zweiten Auflage) vorzulegen.
Martin Dahms: Spanien – ein Länderporträt. Berlin 2018: Ch. Links Verlag, 2., aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-96289-048-3