Walther L. Bernecker: Juan Carlos I., König von Spanien. Ein biographisches Porträt

Lebensweg, Leistungen und Laster eines lupenreinen Demokraten

Rezension von Knud Böhle


1. Erster Überblick

1.1 Eine wissenschaftlich fundierte biografische Studie

Der Historiker Walther L. Bernecker, der sich seit rund 50 Jahren mit der neueren Geschichte Spaniens von A wie Anarchismus (Bernecker 1977) bis V wie Vergangenheitsaufarbeitung (zuletzt Bernecker 2023) eingehend beschäftigt, hat nun Ende 2024 die erste deutschsprachige Biografie des spanischen Königs Juan Carlos I de Borbón vorgelegt.1 Die detailreiche Darstellung wendet sich an einen »größeren deutschsprachigen Leserkreis« (S. 9). Die einen mögen den König vielleicht wegen seiner Leistungen im Transformationsprozess von der franquistischen Diktatur zur Demokratie, der so genannten Transición – grob gerechnet Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre – in Erinnerung haben, andere bei seinem Namen eher an seine Korruptions- und Liebesaffären denken, die etwa ab 2008 nach und nach ans Licht kamen.2

Die vorliegende Biografie betrachtet den ganzen bisherigen Lebensweg und verknüpft ihn mit der Zeitgeschichte. In dieser wissenschaftlich fundierten, biografischen Studie (S. 8) ist es Bernecker wichtig, die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten im historischen Prozess exemplarisch auszuleuchten ‒ hier konkret bezogen auf Juan Carlos. Das schließt ein, sich in den König hineinzuversetzen und sein Verhalten aus seiner Sicht und im Licht der Zeitumstände verstehen zu wollen. Insbesondere die Passagen, »die auf das persönliche (Fehl-)Verhalten eingehen, kommen ohne einen empathischen Zugang nicht aus« (S. 9).

Verzahnt wird in der Studie also die spanische Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts mit dem Schicksal der bourbonischen Dynastie. Über die Person des Königs Juan Carlos I ist die entscheidende Phase der Demokratisierung Spaniens nach Francos Tod mit dem strategischen Ziel der bourbonischen Dynastie, in der Nach-Franco-Ära eine wichtige politische Rolle zu spielen, verschränkt.

1.2. Eine politische Biografie

Als politische Biografie (S. 8) ist die Studie in zweierlei Hinsichten besonders aufschlussreich: Erstens wird die unwahrscheinliche Geschichte der 1930 abgeschafften Bourbonen-Dynastie erhellt, der es durch die Umstände möglich gemacht wurde und gelang, sich in die demokratische Verfassung von 1978 einzuschreiben und damit im Gefüge der politischen Institutionen erneut zu etablieren. Folgt man dem Buch, ist es schwer vorstellbar, dass diese »mission impossible« ohne die Persönlichkeit und die Tatkraft des Königs Juan Carlos I, der nach dem Tode Francos alles auf die Karte der Demokratie setzte, hätte erfolgreich sein können.

Zweitens wird der Absturz des Königs, seine Skandale, seine Abdankung, sein Rückzug aus der Öffentlichkeit, schließlich sein freiwilliges Exil ausführlich beleuchtet. Der aktuelle Aufenthaltsort des mittlerweile 86-jährigen Juan Carlos ist bezeichnenderweise kein Kloster, sondern Abu Dhabi, wo er in einer Art freiwilligem Luxusexil lebt.

Neben psychologischen Aspekten, die sein (Fehl)Verhalten verständlich machen sollen, wird auch die soziologisch institutionelle Seite befragt: Hätte das Fehlverhalten des Königs womöglich verhindert werden können? Bemerkenswert in dem Zusammenhang sind das lange Beschweigen der Skandale von Seiten der Medien sowie die mangelhaften familiären und politischen Kontrollmechanismen. Bemerkenswert ist gleichzeitig aber auch das unablässige Bemühen staatlicher Stellen – von der Exekutive über die Legislative bis zu den Geheimdiensten –, das Ansehen des Königs als Person und Institution in der Öffentlichkeit nicht beschädigen zu lassen. Bis heute ist Juan Carlos, der auch nach seiner Emeritierung 2014 noch als König angesprochen werden darf, nicht rechtskräftig verurteilt.

Im Folgenden soll auf Basis des vorliegenden Buches ‒ einführend oder zur Erinnerung ‒ der Lebensweg von Juan Carlos, gerafft und zugespitzt auf politisch relevante Aspekte, kurz dargestellt werden.

An manchen Stellen, und dann auch im Schlussabsatz, wird auf der Grundlage des von Bernecker ausgebreiteten Materials aufgezeigt, dass in der Beurteilung des Königs als Person und politischer Figur durchaus kritischere Akzente, als sie der Autor selbst setzt, gerechtfertigt sind. Leserinnen und Leser der Biografie werden sehen, welches Bild des Monarchen in ihnen im Lauf der Lektüre entsteht.

2. Juan Carlos 1938 bis 1974

Juan Carlos, Sohn des Juan de Borbón y Battenberg (20. Juni 1913 – 1. April 1993) und Enkel des früheren Königs Alfonso XIII (17. Mai 1886 – 28. Februar 1941), wurde am 5. Januar 1938 in Rom geboren. Unter dem Druck der internationalen politischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Diktator Francisco Franco in einem Gesetz über die Nachfolge in der Staatsführung vom Juli 1948 verfügt, dass Spanien in Übereinstimmung mit seiner Tradition als Königreich verfasst ist (Art. 1) und der Staatschef den Cortes jederzeit die Person vorschlagen kann, von der er meint, dass sie eines Tages zu seiner Nachfolge berufen werden sollte (Art. 6).3

Im selben Jahr, Juan Carlos ist gerade mal zehn Jahre alt, vereinbaren sein Vater, meistens als Don Juan angesprochen, und der Diktator, den Jungen in Spanien ausbilden zu lassen. Für die Dynastie der Bourbonen erhöht sich damit die Chance, in der Zukunft politisch in Spanien wieder eine Rolle zu spielen. Im November 1948 kommt Juan Carlos in Spanien an und seine schulische und militärische Erziehung beginnt.

Zwei persönliche, beziehungsweise familiäre Ereignisse aus der Zeit der Ausbildung, ein tragisches und ein erfreuliches, seien kurz genannt. Juan Carlos ist 18 Jahre alt, als es zu einem tödlichen Unfall kommt, bei dem ein Schuss aus seiner Pistole dem jüngeren Bruder Alfonso das Leben kostet. Der Hergang ist letztlich ungeklärt und wurde nicht weiter untersucht: Der Vater der beiden Jungen, Don Juan, vermied selbstherrlich eine Untersuchung, veranlasste keine Obduktion und entsorgte die Schusswaffe im Meer.

Das freudige Ereignis ist die Heirat mit der Prinzessin Sofia von Griechenland im Jahr 1962. Bekanntlich entstammen dieser Ehe drei Kinder, zwei Mädchen, Elena und Cristina, und ein Junge, Felipe, der am 30. Januar 1968 geboren wurde. Manche wollen wissen, dass Juan Carlos sich danach einer Vasektomie unterzog (S. 188), was etwa im Zusammenhang mit Vaterschaftsklagen, die es später durchaus gab, relevant sein konnte.

Politisch ist von Interesse, wie Bernecker ausführt, dass Juan Carlos bereits zu Beginn der 1960er Jahre immer wieder seiner Überzeugung Ausdruck verliehen haben soll – selbstverständlich nicht öffentlich –, »dass er keiner franquistischen Monarchie vorstehen wolle, da diese in einem demokratischen West-Europa keine Zukunft habe« (S. 39). In der althergebrachten Formel der bourbonischen Monarchen, König aller Spanier sein zu wollen, die Juan Carlos später gerne verwendete, drückt sich vernehmbar die Ablehnung des Franco-Regimes aus, das auf der Unterscheidung von Siegern und Besiegten im Bürgerkrieg (1936-1939) beruhte und den Alltag der Spanier unter der Diktatur prägte.

Im Juli 1969 ernannte Franco Juan Carlos zu seinem Nachfolger und verlieh ihm den Titel Prinz von Spanien. Nach seinem Tod sollte Juan Carlos als König das Amt des Staatsoberhaupts einnehmen und die Diktatur fortsetzen. Entsprechend musste der Prinz auf die franquistischen Gesetze und die Grundsätze der Nationalen Bewegung schwören. »Für Juan Carlos«, so Bernecker, »müssen die Jahre im ‚Wartestand‘ zwischen 1969 und 1975 ganz besonders schwierig gewesen sein« (S. 64). Diese Einschätzung bezieht sich zum einen auf den innerdynastischen Konflikt, da sein Vater Don Juan bis 1977 nicht auf seine Anrechte als König verzichtete und zum anderen darauf, als Vertreter der Diktatur auftreten zu müssen, die er letztlich überwinden wollte. Dazu mögen Loyalitätskonflikte ihn belastet haben: gegenüber Franco, hohen Militärs und einzelnen Persönlichkeiten des Franquismus, die Juan Carlos während seiner Lehrjahre kennen und schätzen gelernt hatte.

3. Juan Carlos in der Transición

3.1 Der paktierte Wechsel des politischen Systems

Aus den 60er-Jahren stammt in Grundzügen die Strategie, mit der es gelingen sollte, das alte System nach Francos Tod auszuhebeln. Der rechtliche Rahmen der Diktatur bestand aus einem Ensemble an Verfassungsgesetzen, die geändert oder durch zusätzliche Gesetze erweitert werden konnten. Im Rahmen der franquistischen Legalität, so die Grundidee, sollte ein politisches Reformgesetz als Verfassungsgesetz durchgesetzt werden, welches frühere Gesetze überschrieb und außer Kraft setzte und letztlich eine neue, demokratische Legalität ermöglichen würde. Torcuato Fernández-Miranda, einer der entscheidenden Lehrer und Vertrauten von Juan Carlos, wird als der Stratege angesehen, der diesen Reformansatz ersonnen hat, den er selbst auf die Formel brachte: »de la ley a la ley, a través de la ley« (im Sinn wie oben beschrieben: vom Gesetz zum Gesetz durch das Gesetz).

Die Staatskunst würde natürlich darin bestehen, zum einen die Cortes, das franquistische Pseudoparlament, dazu zu bringen, sich selbst abzuschaffen und zum anderen große Teile der anti-franquistischen linken Opposition für dieses Vorgehen zu gewinnen. Das gelang und wurde dann als »paktierter Umbruch« (ruptura pactada) bezeichnet. Relevante Reformkräfte im franquistischen System setzten entschieden auf die Karte der Demokratie, aber sie wollten keinen radikalen Bruch und nicht Verlierer des Wandels werden. Das kommt sehr deutlich auch in einer späteren Äußerung des Königs zum Ausdruck: »Ich wollte auf keinen Fall, dass die Sieger des Bürgerkriegs die Besiegten der Demokratie würden« (S. 174). In der Konsequenz bedeutete das freilich auch das Weiterwirken franquistischer Amtsträger und Strukturen im demokratischen Rahmen.

In der politisch und historisch wichtigen Phase, den Jahren der Transformation des Franco-Regimes in eine parlamentarische Demokratie, sehen wir Juan Carlos als treibende Kraft im Reformprozess im Zusammenspiel mit der Regierung Adolfo Suárez und dem Parlamentspräsidenten Torcuato Fernandez-Miranda sowie den anti-franquistischen Oppositionsparteien. Der Druck der Straße (Demonstrationen, Protestbewegungen, Streiks) wirkte sich zudem positiv auf das Tempo der Veränderungen aus. Der politische Reformprozess insgesamt und die Verfassungsgebung insbesondere mussten aber so behutsam voranschreiten, so die Einschätzung der meisten Reformkräfte, dass die franquistischen Militärs und andere uneinsichtige Anhänger des Franco-Regimes den Reformprozess nicht zunichte machten.

3.2 Der janusköpfige König

Damit das gelingen konnte, war die Figur des, wenn man so will, janusköpfigen Königs entscheidend, der den Militärs Kontinuität und den Reformkräften demokratischen Aufbruch signalisierte. Auf die Persönlichkeit und die Position des Königs kam es entscheidend an. In der Figuration der Transformation fungierte er als Mittler zwischen alter und neuer Legalität. Beides zusammen, Persönlichkeit und Position als Königsfigur, machen ihn aus Sicht des Rezensenten zur historischen Figur. Bei Bernecker macht es den Eindruck, als betone er vor allem die Bedeutung der Persönlichkeit und weniger die der Königsfigur.

Im Reformprozess nach Francos Tod, eine Monarchie als künftige Staatsform zu fordern, entsprach den Interessen der Dynastie und den alt-franquistischen Kräften, die im Erhalt der Monarchie eine Verteidigungslinie sahen, die nicht aufgegeben werden durfte. Von Seiten der anti-franquistischen demokratischen Opposition war die Akzeptanz der Monarchie als Staatsform ein pragmatisches Zugeständnis: Der Reformprozess sollte nicht an dieser Frage scheitern. Anders gewendet: Die Drohung der Militärs im Hintergrund, den Reformprozess gegebenenfalls zu torpedieren, wirkte sich auf die Verfassung aus ‒ zugunsten der Staatsform Monarchie und der dynastischen Interessen der Bourbonen.

Es gibt zwei Ausnahme-Situationen, in denen die ambivalente Figur des Königs und seine Persönlichkeit für den Gang der Demokratisierung entscheidend waren. In beiden Situationen kam es auf den Einfluss des Königs auf die reaktionären Militärs an. Erstens, was oft vergessen wird, darauf weist Bernecker nachdrücklich hin, wurde mit der Legalisierung der kommunistischen Partei Ostern 1977 offenbar eine rote Linie für die reaktionären Militärs überschritten (S. 94). »In jenen Wochen war Juan Carlos rund um die Uhr damit beschäftigt, die Militärs zu beschwichtigen«. Und dadurch hat er sich zweifellos »in jener kritischen Phase der Transition um den Demokratisierungsprozess verdient gemacht« (S. 95).

Eine zweite Ausnahme-Situation, in der die ambivalente Figur des Königs und die Person Juan Carlos für den Gang der Demokratisierung entscheidend waren, wird in Spanien kurz als 23-F angesprochen. 1981 hatte als Krisenjahr begonnen: Wirtschaftskrise, zahlreiche Terroropfer (nicht nur der ETA) sowie eine Regierungskrise, die im Januar zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Adolfo Suárez geführt hatte. Am 23. Februar 1981 (23-F) unternahmen in der Krise dann Angehörige der paramilitärischen Polizeitruppe Guardia Civil unter Oberstleutnant Antonio Tejero sowie die Generäle Milans del Bosch und General Alfonso Armada (ein langjähriger Vertrauter des Königs) einen Staatsstreichversuch, der nicht zuletzt durch das entschiedene Auftreten des Königs vor und abseits der Fernsehkamera zu einem Ende kam.

In der Diskussion, was der König selbst mit dem Putsch zu tun hatte und was er von dem Putsch wusste, formuliert Bernecker vorsichtig: der König hat und hätte keiner Initiative zugestimmt, die einen Verfassungsbruch impliziert hätte (S. 127). Nach Auffassung des Rezensenten ließe sich sogar noch stärker akzentuieren, dass der König überhaupt kein Interesse haben konnte, die demokratische Verfassung, der er seine Position und die Institutionalisierung der Monarchie im politischen System verdankte, durch den Rückfall in eine Militärdiktatur oder eine Regierung der Konzentration mit militärischer Führung, aufs Spiel zu setzen. Eine solche Lösung wäre im damaligen Demokratisierungsprozess und internationalem Kontext wohl nur sehr kurzlebig gewesen. Auf die Karte der Demokratie und der Verfassung zu setzen, ohne wenn und aber, lag so gesehen im unmittelbaren Eigeninteresse des Königs, seiner Dynastie und der parlamentarischen Monarchie.

3.3 Zur Legitimationsfrage

In der Verfassung heißt es zur Monarchie: Die Krone Spaniens ist erblich in der Linie der Nachfolger S. M. Don Juan Carlos I von Borbón des legitimen Erben der historischen Dynastie (zit. nach Bernecker S. 81).4 In dem oben bereits angesprochenen Kontext der Drohung der Militärs, blieb den Verfassungsvätern »auch nicht viel anderes übrig als die Monarchie als Staatsform anzuerkennen« (S. 83). 1978 nahm die spanische Bevölkerung mit 88-prozentiger Mehrheit die Verfassung an. Diese Zustimmung »wurde dann jedoch zugleich als Zustimmung zur parlamentarischen Monarchie und als deren demokratische Legitimation gedeutet« (S. 83).5

Die Legitimation der Monarchie im Rahmen der neuen demokratischen Ordnung konnte sich, das analysiert Bernecker sehr genau, weder umstandslos auf die konstitutionelle Monarchie gründen, die mit und wegen Alfonso XIII gescheitert war, und mit der II. Republik (1931-1939) geendet hatte. Sie konnte sich aber auch nicht auf die von Franco ersonnene und damit kontaminierte Königsdiktatur gründen. Bernecker spricht bezogen auf den eingeschlagenen Weg von demokratisch-charismatischer Legitimation, die der Monarch durch seine aktive politische Rolle im Demokratisierungsprozess unter Beweis zu stellen hatte (S. 82). Das Charisma spielte vor allem in Zeiten des Übergangs in der Tat eine entscheidende Rolle, als die Militärs und andere autoritäre, antidemokratische Kräfte beschwichtigt werden mussten, und gleichzeitig der antifranquistischen Opposition die Ernsthaftigkeit des angestrebten Systemwandels überzeugend vermittelt werden musste, um sie für die »ruptura pactada« zu gewinnen.

War die Demokratie einmal gefestigt und die Monarchie in der Verfassung als Staatsform parlamentarische Monarchie und der König als Staatsoberhaupt verankert, reduzierte sich gleichzeitig die Macht des Königs: es blieben ihm im Wesentlichen repräsentative Aufgaben. An die Stelle des Charismas traten damit Vorbildlichkeit, Mustergültigkeit und Nützlichkeit als entscheidende Tugenden. Aus Sicht der Dynastie dürfte der Machtverlust dadurch aufgewogen worden sein, dass Spanien weiterhin eine bourbonische Erb-Monarchie war, die fortan das Staatsoberhaupt stellen würde.

Viele Beobachter betrachten die Phase der Transformation 1982 für abgeschlossen, als die PSOE (Partido Socialista Obrero Español), eine Partei eindeutig nicht-franquistischer Provenienz, in den Wahlen die absolute Mehrheit gewann. Der König konnte sich danach in seiner Rolle als Repräsentant Spaniens und als Motor guter Beziehungen zu der arabischen Welt und Lateinamerika hervortun. Die Auftritte des Königs waren »– vor allem in Iberoamerika und im arabischen Raum – bei der Anbahnung großer Geschäfte ausgesprochen hilfreich. Regionalen Usancen entsprechend flossen dabei auch nicht unerhebliche ‚Vermittlungsgelder‘« (S. 146). Seine Rolle als Wirtschaftsemissär »kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden« (S. 141).

Die Phase in der Juan Carlos I für die Demokratisierung stand und außenpolitisch und außenwirtschaftspolitisch sichtbar die Interessen Spaniens vertrat, dürfte mindestens bis zu den Krisenjahren ab 2008 reichen. Der bekannte britische Historiker Paul Preston (2003) titelte in seiner Biografie, die damals hohen Sympathiewerte des Königs reflektierend »El Rey de un pueblo«, was sich etwa als König eines Volkes, König aller Spanier, als Volkskönig oder als beim Volke beliebter König verstehen lässt.

4. Vom Sympathieverlust in Spanien zum Umzug nach Abu Dhabi

Mit den multiplen Krisen des Landes ab 2008 ändert sich auch der Blick auf den König und sein Verhalten. Die überarbeitete und ergänzte Fassung von Prestons Biografie des Königs (Preston 2023) behält zwar noch denselben Titel »El Rey de un pueblo«, endet aber mit dem trockenen Fazit angesichts der verlorenen Faszinationskraft des Königs: »es poco probable que se le vuelva a llamar ‚El Rey de un pueblo‘« Sinngemäß übersetzt heißt das: Es ist nicht gerade wahrscheinlich, dass man ihn jemals wieder
»Volkskönig« nennen wird (Preston 2023, S. 714).6

In der Biografie Berneckers wird das ganze Ausmaß an (mutmaßlicher) Korruption, Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Amtsmissbrauch und außerehelichen Beziehungen ausführlich dargestellt. In der Summe führen die Faken und Vorwürfe im Juni 2014 zur Abdankung des Königs, im Mai 2019 zum Rückzug aus allen Ämtern und Pflichten und im August 2020 zum Umzug nach Abu Dhabi, »um – wie es in einem später veröffentlichten Brief hieß – die Arbeit Felipes vor dem Hintergrund der Vorwürfe zu ‚erleichtern‘« (S. 226).

Hier sollen nur wenige, aber signifikante Beispiele aus einer Fülle von problematisch bis kriminell zu nennenden Handlungen hervorgehoben werden. Bereits in der Phase der Transición, 1981, werden dem König vom saudischen Königshaus eine Million Dollar bereitgestellt, die angeblich zur finanziellen Absicherung von Adolfo Suárez nach dessen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten bestimmt waren. Zugleich sollte die Summe ihn von weiteren politischen Aktivitäten abhalten. (S. 192). Hier kommen die Einmischung eines ausländischen Staates in die inneren Angelegenheiten Spaniens und zumindest der Versuch der Bestechung eines Politikers zusammen. Übrigens fielen andere Zuwendungen zu anderen Zwecken aus arabischen Staaten noch weit höher aus.

Anders gelagert ist der vom spanischen Staat finanzierte Umbau des Anwesens La Angorrilla, wo Juan Carlos mit Corinna Larsen »jahrelang ein familienähnliches Zusammenleben zelebrierte« (S. 188f.) – keine 20 km vom Königspalast entfernt. Es wundert da nicht, dass die Königin Sofia über ihren Mann einmal sagte »Er wird sterben ohne zu wissen, was Schamgefühl ist« (S. 166).

In der Affäre des Königs mit der Sängerin und Schauspielerin Bárbara Rey, die den Monarchen erpresst haben soll, war es erneut die Staatskasse, aus der über mehrere Jahre Schweigegeld von insgesamt mehr als drei Millionen Euro gezahlt wurde (S. 190). Das private Vermögen, das der König über die Jahre angehäuft hatte und sich laut New York Times (2012) auf ca. 1,8 Mrd. US-Dollar belief, brauchte nicht einmal für diese Ausgaben angetastet zu werden (S. 194).

Der Staat zahlte nicht nur, er schützte den König auch vor gerichtlichen Prozessen. Das ist abzulesen an einem unscheinbaren Gesetz von 2014, das einen Tag nach der Abdankung des Königs in Kraft trat und die in der Verfassung enthaltene Immunität des Königs nun in einem weiten Verständnis ausdeutet: alle Handlungen des Königs während seiner Amtszeit als Staatsoberhaupt, unabhängig von ihrer Art, wurden in die Straffreiheit einbezogen und waren damit rechtlich nicht einzuklagen (Ley Orgánica 4/2014, 11. Juli 2014).7

Wie konnte es soweit kommen? Ein Erklärungsstrang bringt etwa falsche Freunde, zu enge Kontakte mit korrupten Wirtschaftseliten und die Selbstwahrnehmung des Königs ins Spiel, der seine erste Lebenshälfte als Aufopferung für die Monarchie verstanden zu haben scheint. Sogar ein auf seine Kindheit zurückgehendes »tiefgreifendes Armutstrauma« (S. 243) wird für sein Fehlverhalten mit verantwortlich gemacht.

Der andere Erklärungsstrang setzt beim Fehlen funktionierender Kontrollmechanismen an. Es gab keine innerfamiliären Kontrollmechanismen. Die Massenmedien machten das Fehlverhalten des Königs nicht publik, selbst wenn sie davon wussten (»ungeschriebener Verschwiegenheitspakt«) (S. 245f.). Sie erlagen, wie auch die Regierungschefs, so Bernecker, »dem sprichwörtlichen Charme des Monarchen – einem Charme, der ihm schließlich zum Verhängnis wurde, da er zu gesellschaftlicher Kritiklosigkeit führte, die wiederum den König seine Vorbildfunktion in einer parlamentarischen Monarchie einbüßen ließ« (S. 246).

Anders gelesen wurde der König vielleicht nicht Opfer seines Charmes, sondern seines undemokratischen Kerns. Delikte wie Steuerhinterziehung, Steuerflucht in Steueroasen, Geldwäsche, Schmiergelder, Schweigegelder aus der Staatskasse sind anti-demokratisch und stehen in direktem Widerspruch zu Gesetzestreue und Vorbildlichkeit, die ein Bürger von seinem Staatsoberhaupt erwarten darf.

Für ein Staatsoberhaupt, dem so viel daran lag, positiv in die Geschichtsbücher einzugehen (S. 192) und das nicht müde wurde, die Tugenden der Demokratie und die Verantwortung der Amts- und Würdenträger jahrein, jahraus zu predigen, und sich dennoch über die Gesetze des demokratischen Gemeinwesens stellte, ist die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit frappierend.

Sein Fehlverhalten mag durch allerlei Entschuldigungsversuche relativiert werden, lässt aber den Schluss zu, dass der König trotz aller Verdienste in der Transición von seiner Persönlichkeit her kein »lupenreiner Demokrat« ist. Eher sehen wir mit der Lupe Muster des alten Bourbonen Alfonso XIII, der »sich immer wilderen Frauenabenteuern und korrupten Geldgeschäften« hingab (S. 17).

5 Schluss

Das Verhalten des Königs auch aus einer Innensicht zu verstehen, war Bernecker wichtig: »Direkte Zitate des Königs oder von Personen aus seiner näheren Umgebung« sollten helfen, diese Sicht zu vermitteln. Ohne Frage machen die entsprechenden Passagen den Text lebendiger und atmosphärisch dichter. Das eklatante Fehlverhalten des Monarchen wird dadurch freilich nicht entschuldigt, aber das Urteil über den König wird durch die gegebenen Erklärungen abgemildert.

Eine politische Biografie sollte vielleicht noch stärker herausarbeiten, dass menschliches Fehlverhalten eine Sache ist und politische Verantwortung eine andere. Zu kurz kommt in der vorliegenden Biografie das demokratische Defizit der Person, das die Missachtung der politischen Verantwortung begünstigt. Nach der Einrichtung der parlamentarischen Monarchie in der Verfassung von 1978 sind es die demokratischen Tugenden eines hauptsächlich repräsentativ agierenden Staatsoberhaupts, die zählen. Genau diesen Tugenden, die man auf den Nenner strikter Gesetzestreue bringen kann, handelt der König zuwider.

Während Bernecker sein Buch mit der Annahme schließt, »dass letztlich das Bild des ausgleichenden und beliebten Königs obsiegen wird, der mit Geschick und Weitsicht einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung der Demokratie in Spanien geleistet hat« (S. 248), würde der Rezensent eher annehmen, dass er auf Dauer von den Historikern als höchst ambivalente historische Figur wahrgenommen werden wird.

Position und Persönlichkeit erlaubten ihm im Übergang, als Mittler zwischen Franquisten, insbesondere den reaktionären Militärs, und den demokratischen Kräften zu fungieren. Der Druck und die Drohungen der reaktionären franquistischen Kreise bilden den Kontext, in dem die Monarchie in die Verfassung gelangen konnte. Der Einsatz des Königs für die demokratische Staatsform entsprach gleichzeitig dem Eigeninteresse der Bourbonen-Dynastie, im künftigen politischen System eine Rolle zu spielen. Nach Erreichen dieses Ziels scheint dem Staatsoberhaupt zunehmend weniger an den demokratischen Werten gelegen zu haben, die er vorbildhaft hätte leben sollen. Seine persönlichen Interessen wurden ihm wichtiger als die Demokratie und die Sorgen der Spanier. Nach seinem verdienstvollen persönlichen und politischen Engagement bei der Demontage des Franquismus, setzte mit Verzögerung in den Nullerjahren eine Entzauberung des vormals beliebten Königs ein, dem seine nicht mehr aufzuhaltende Demontage folgte.8

Anmerkungen

  1. Zahlreiche Buchpublikationen von Walther L. Bernecker lassen sich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek finden. Die genannten Titel sind: Die soziale Revolution im spanischen Bürgerkrieg. Vögel: München 1977; ISBN: 978-3-920896-43-4 sowie Geschichte und Erinnerungskultur. Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart. Verlag Graswurzelrevolution: Nettersheim 2023; ‎ ISBN: 3939045519. ↩︎
  2. Damit beschäftigt sich nebenbei bemerkt auch eine sehenswerte Dokumentation für den NDR von Anne von Petersdorff und Georg Tschurtschenthaler (Regie): Juan Carlos – Liebe, Geld, Verrat. Deutschland 2023 (180 Minuten). Englischer Titel: JUAN CARLOS – DOWNFALL OF THE KING. Autoren: Christian Beetz, Pedro Barbadillo, Anne von Petersdorff. Produktion: gebrueder beetz filmproduktion. Vertrieb: NBCUniversal Global Distribution. Die Dokumentation war bis vor Kurzem abrufbar in der ARD-Mediathek; derzeit wird sie zum Beispiel noch von Sky angeboten [zuletzt überprüft am 25.01.2025]. ↩︎
  3. Die seit 1938 erlassenen franquistischen Verfassungsgesetze gibt es in deutscher Übersetzung auch online [zuletzt überprüft am 25.01.2025]. ↩︎
  4. Die Verfassung des Königreichs Spanien vom 29. Dezember 1978 gibt es in deutscher Übersetzung auch online [zuletzt überprüft am 25.01.2025]. Zur Diskussion der Verfassung siehe statt anderer Aschmann, Birgit; Waldhoff, Christian (Hrsg.): Die Spanische Verfassung von 1978: Entstehung, Praxis, Krise? (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft Bd. 44). Aschendorff Verlag: Münster: 2020, ISBN: 978-3-402-14872-3 sowie Hermann-Josef Blanke, Siegfried Magiera, Johann-Christian Pielow, Albrecht Weber (Hrsg.): Verfassungsentwicklungen im Vergleich. Italien 1947 – Deutschland 1949 – Spanien 1978. Schriften zum Europäischen Recht (EUR), Band 200, Duncker & Humblot: Berlin 2021, ISBN 978-3-428-15929-1. ↩︎
  5. Dass kein Referendum über die Staatsformfrage stattfand, dessen Ausgang unsicher gewesen wäre und womöglich eine in dieser Frage gespaltene Gesellschaft offenbart hätte, wurde so umgangen. Der Verzicht auf ein Referendum dürfte der Stabilität der Institution Monarchie genutzt haben. Einmal in der Verfassung festgeschrieben, müsste schon Außergewöhnliches passieren, sollte sich an der Staatsform etwas ändern. Das liegt auch an den hohen Hürden für eine Verfassungsänderung der entsprechenden Artikel. Eine Änderung verlangte erstens, dass beide Kammern der Änderung mit 2/3-Mehrheit zustimmen würden, woraufhin zweitens das Parlament aufzulösen wäre und Neuwahlen stattfänden, nach denen dann drittens die beiden neu zusammen­gesetzten Kammern wiederum mit einer 2/3 Mehrheit der anhängigen Verfassungsänderung zustimmen müssten, bevor dann viertens der Änderungsvorschlag in einem Referendum eine Mehrheit finden müsste. Der Fall, dass der König abdanken würde, um Schaden von der Institution Monarchie/Staatsoberhaupt abzuwenden, war in der Verfassung nicht vorgesehen. Diese Lücke zu schließen verlangte aber keine Verfassungsänderung. Sie wurde durch ein entsprechendes Gesetz zur Abdankung (Ley Orgánica 3/2014, 18. Juni 2014) geschlossen, dem die Inthronisierung des neuen Königs folgte. Am 19. Juni 2014 dankt Juan Carlos I ab und sein Sohn wird als König Felipe VI vereidigt. Dieser ist bestrebt, sich als mustergültiges Staatsoberhaupt zu verhalten. ↩︎
  6. Die vollständigen bibliografischen Angaben lauten: Paul Preston: Juan Carlos. El rey de un pueblo. Plaza & Janes: Barcelona 2003; ISBN: 9788401378249 und Paul Preston: Juan Carlos. El rey de un pueblo. Tercera edición actualizada (abril 2023). Penguin Random House: Barcelona 2023; ISBN: 978-84-19399-55-7. ↩︎
  7. Eher kurios wirkt dem gegenüber die kolportierte Fürsorge des spanischen Geheimdienstes, der »dem König weibliche Hormone und Testosteronhemmer verabreicht haben soll, um seine Libido zu zügeln und seine Sexualität unter Kontrolle zu bekommen« (S. 191). ↩︎
  8. Sebastian Schoepp spielt in seiner Besprechung von Berneckers Buch in der Süddeutschen Zeitung vom 18. November 2024 mit dem Begriffsduo »Held der Demontage« und »Held der Selbstdemontage«. Held der Demontage, angelehnt an Überlegungen von Hans Magnus Enzensberger, war der König bezogen auf das franquistische System, das er an entscheidender Stelle zu demontieren half. »Held der Selbstdemontage«, so der bitter-ironische Titel der Rezension, wurde er dann später in eigener Verantwortung. Der eigentliche (tragische) Held der Demontage des Franquismus war für Enzensberger Adolfo Suárez. »Es ist das typische Los des historischen Abbruchunternehmers, dass er mit seiner Arbeit immer auch die eigene Position unterminiert«. Ganz anders erging es Juan Carlos I, den sein Beitrag zur Demontage des Franquismus zum beliebten König werden ließ. Seine Selbstdemontage begann damit, dass seine persönlichen Interessen grundlegende Anforderungen an ein demokratisches Staatsoberhaupt missachteten. Darauf folgte die tatsächliche Demontage, obgleich mit einiger zeitlicher Verzögerung. Die Europeana bietet den Artikel von Hans Magnus Enzensberger: Die Helden des Rückzugs (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.12.1989) dankenswerterweise als elektronisches Faksimile [zuletzt überprüft am 25.01.2025]. ↩︎

Walther L. Bernecker: Juan Carlos I., König von Spanien. Ein biographisches
Porträt. edition tranvía – Verlag Walter Frey: Berlin 2024; ISBN: 978-3-946327-42-4



Eugeni Xammar: Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit

Das mysteriöse »Hitler-Interview« des Eugeni Xammar vom 8. November 1923

Diskussionsbeitrag von Knud Böhle


1. Worum es in diesem Diskussionsbeitrag geht

1.1 Zielsetzungen

Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 8.11.1923, begann der Hitler-Ludendorff Putsch im Münchner Bürger­bräukeller. An dem Tag hielt sich auch der spanische Auslandskorrespondent Eugeni Xammar in München auf. Nach seinen Angaben gewährte Hitler ihm (und seinem Freund und Kollegen Josep Pla) tagsüber ein Interview.

Nur wenige Stunden vor dem Staatsstreich, der ihn für eine Nacht zum Diktator von Deutschland machen sollte, hat uns Adolf Hitler ein Interview gewährt, das man zweifellos als interessant bezeichnen kann (Xammar 2007, S. 145).

Abends war er dann, so lässt er seine LeserInnen wissen, Augenzeuge des Hitlerputsches im Bürgerbräu­keller.

Es gibt wenig Eindrucksvolleres als einen gut organisierten und inszenierten Putsch, wie den, den mitzuerleben ich das Glück und das Vergnügen hatte, kaum dass ich vierundzwan­zig Stunden in München war (ebd., S. 134).

So steht es in den Artikeln, die von Xammar in der Veu de Catalunya veröffentlicht wurden.1 Am 17.11.1923 erschien dort sein Artikel »Der Putsch als Spektakel« (Xammar 2007, S. 134f.), am 24.11.1923 folgte »Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit« (ebd. S. 145-148), dessen wesentlicher In­halt das Interview ist, das Xammar mit Hitler in den Räumen des Völkischen Beobachters, im Folgenden kurz VB, am 8.11.1923 geführt haben will.2

Um diese beiden Artikel geht es im Folgenden. Dabei ist der Artikel über den Putsch im Bürgerbräukeller eine Nebensache und von Interesse nur insofern als sich zeigen lässt, dass Xammar bei dem Ereignis, über das er schrieb, schlicht nicht zuge­gen war. Bei dem »Hitler-Interview« indes handelt es sich um das »umstrittenste Stück des katalanis­chen Journalismus« (Sánchez Piñol 2009, ähnlich auch Pla Barbero 2018).3 Denn wenn es an jenem geschichtsträchtigen Tag ein Treffen und ein Gespräch zwischen Hitler und Xammar gab, wäre das für die Forschungen zur Person Adolf Hitlers und des Nationalsozialis­mus höchst interessant.

Die Bedeutung eines solchen Interviews als historische Quelle würde freilich weiter stei­gen, wenn es dar­in inhaltlich etwas Neues zu erfahren gäbe. Das zu beurteilen, setzt allerdings textkritische und quellen­kritische Akribie und Rigorismus voraus. Dabei wäre etwa zu klären, ob die Interview-Situation formell oder informell war, ob der ausländische Interviewer die Worte seines Gesprächspartners richtig verstan­den hat, ob der Interviewer sich korrekt erinnert hat, ob der Interviewer wortgetreu und wahrhaftig wie­dergab, was gesagt wurde, oder er seinem Interviewpartner etwas unterschob, was dieser nicht gesagt oder so nicht gemeint hatte. Auch in diesem Fall wäre das Interview als his­torische Informationsquelle weitgehend wertlos. Dass ein gänzlich fingiertes Hitler-Interview eines Journalisten aus dem Jahr 1923 für die NS-Forschung wertlos ist, versteht sich von selbst. Die vorrangig zu klärende Streitfrage ist demnach, ob Eugeni Xammar das »Hitler-Interview« tatsächlich geführt oder bloß erfunden hat. Gab es dieses Interview, wäre es weiter text- und quellenkritisch zu prü­fen.

In diesem Beitrag wird – die spanische Diskussion um die Echtheit des Interviews aufgrei­fend – argu­mentiert, dass die Annahme, es habe dieses Interview gegeben, aufzugeben ist. Wenn im Fol­genden von diesem, wie gezeigt werden soll, fingierten Interview die Rede ist, wird das, wo nö­tig, typogra­fisch deut­lich gemacht als »Interview« oder »Hitler-Interview«.4

Es wird darüber hinaus nachgezeichnet und diskutiert, wie nach dem Erscheinen der deutschen Überset­zung, das »Interview« erstaunlicherweise in der deut­schen For­schung zum Nationalsozialismus den Status einer vertrauens­würdigen historischen Quelle erlangen konn­te.

Die Absicht der folgenden Erörterung ist es, die Diskussion um die Echtheit des »Interviews« voranzu­treiben, um Klarheit darüber zu gewinnen, ob es sich um ein für die historische Forschung wertloses, fin­giertes Interview handelt oder um eine wertvolle historische Quelle.

1.2 Der Auslandskorrespondent Eugeni Xammar

Bevor näher auf den Artikel mit dem »Interview« eingegangen wird, soll Eugeni Xammar (1888-1973) kurz vorgestellt werden. Der Katalane gehört zu den bedeuten­den spanischen Journalisten, die in den lan­gen Jahren des Franquismus weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden waren. Die Ar­tikel, die er als Auslandskorrespondent aus Deutschland zwischen 1922 und 1924 für katalanische Zeitun­gen und von 1930 bis 1936 für die Madrider Tagesz­eitung Ahora verfasste, wurden erst mehr als 25 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur in Auswahlbänden wieder öffentlich zugänglich gemacht.5

Als Auslandskorrespondent nahm Xammar die Perspektive eines unbeteiligten Beobachters ein, dem es gerade aus dieser Distanz heraus gelang, seinem spanischen Publikum die grotesken und tragikomi­schen Sei­ten der deutschen Verhältnisse vor Augen zu führen. Gleichzeitig war Xammar stets bestens und bis ins De­tail über die Personen, Konstellationen und Ereignisse in Deutschland, über die er schrieb, infor­miert.6 Die Lektüre mehrerer, sicherlich nicht nur deutscher Tageszeitun­gen, war ein wichtiges Mittel, um gut informiert zu sein.7 Beides zusammen, unverwechselbarer Stil und um­fassende Kenntnisse, charakte­risieren seine Berichte aus Deutschland, die auch für eine deutsche Leserschaft und die HistorikerInnen, die sich mit den 1920er und 1930er Jahren befassen, hoch interessant sind. Im vorlie­genden Beitrag inter­essiert Xammar nicht als politisch konservativer katalanischer Nationalist, sondern nur als katalanisch-spanischer, bürgerlich-de­mokratischer Auslandskorrespondent, der zur Zeit der Wei­marer Republik in Deutschland tätig war.

1.3 Einige Fakten zum Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923

Die Novemberrevolution von 1918 begann mit dem Kieler Matrosenaufstand und erfasste alsbald ganz Deutschland. Sie führte am 9.11.1918 in Berlin zur Ausrufung der Republik und zum Sturz der Monar­chie. Am 11. 11.1918 wurden mit dem Waffenstillstand von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beendet, der Versailler Vertrag wurde dann am 28. Juni 1919 unterzeichnet.

Von Seiten monarchistischer, völkischer, rechtsextremer und antisemitischer Gruppen und Parteien wurde die Legitimität der Weimarer Republik in Frage gestellt. Auf propagandistischer Ebene spielte die Kriegs­schuldfrage eine große Rolle. Die Oberste Heeresleitung (OHL) versuchte die Schuld an der von ihr zu verantwortenden militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg auf die Sozialde­mokratie, demokratische Politiker und das »Judentum« zu schieben (»Dolchstoßlegende«).

Der 9. November hatte gerade für die Feinde der Weimarer Republik eine hohe symbolische Bedeutung. Sarkastischer als Xammar hätte auch ein deutscher Satiriker den Katzenjammer und die Lü­gengespinste, die nach der Niederlage Deutsch­lands im Ersten Weltkrieg kursierten, nicht auf den Punkt bringen kön­nen, wobei Xammar zudem die Brücke zu schlagen weiß vom 9. November 1918 zum Hitler-Ludendorff-Putsch.

Der Tag nach meiner Ankunft [in München] war der achte November, der Vor­abend des fünften Jah­restags der deutschen Revolution. Die deutsche Revoluti­on vom neunten No­vember wurde in aller Eile von einer Handvoll von Belgien bezahlter Juden organisiert, und zwar genau in dem Augenblick, in dem Deutschland vor dem entscheidenden Sieg stand. Das wissen in Bayern selbst die Hunde und Kinder, und an jenem Tag der verbrecherischen Revolution strö­men die Bayern mit trauernder Seele in Massen in die Bierkeller. … Es gibt Re­den, Geschrei, patriotische Lieder und Bier. Vor allem Bier. … Die Luft wird immer di­cker, und man kann den Putsch förmlich riechen. Es ist erstaunlich, dass er fünf Jahre auf sich hat warten lassen (Xammar 2007, S. 134f.).

Ein zeitgenössisches Titelblatt des Simplicissimus, das an dieser Stelle nur der Illustration dient, gilt den Bayern, von denen bei Xammar die Rede ist.

Quelle: http://www.simplicissimus.info/

Wolfgang Schieder (2023) hat den Hitler-Ludendorff konzis beschrieben:

Seit dem frühen Herbst 1923 gab es in Bayern schon Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der NSDAP. Mit Massenversammlungen und mehrfachen Reden im Zirkus Krone heizte Hitler die Stim­mung an. Er versäumte es jedoch, seinen Putsch logistisch vorzubereiten ‒ wenn er ihn den ursprüng­lich überhaupt riskieren wollte. Es war nicht das erste und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Hit­ler zögerlich handelte […]. Am 26. September nämlich verhängte die bayerische Staatsregierung unter Eugen von Knilling überraschend den Ausnahmezustand und setzte den früheren Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr als Generalkommissar mit diktatorischen Vollmachten ein. Kahr verbot öffent­liche Kundgebungen der NSDAP und riss damit das Ruder an sich. Für den 8. November setzte er eine Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller an, zu der alle republikfeindlichen Kräfte Bayerns ein­geladen wurden ‒ außer der NSDAP. […] Hitlers Bewegung stand mit einem Mal in Konkurrenz zu den konservativen Gruppierungen Bayerns. Er wurde dadurch unvorbereitet zum Handeln gezwungen. Um Kahr zuvorzukommen, improvisierte er und zog den Termin für einen Putsch […] vor (S. 41).

Am 6. 11.1923 war auf Seiten Hitlers und seiner Mitstreiter die grundsätzliche Entscheidung für einen Putsch gefallen. Das zunächst ange­dachte Datum für die Aktion war der 10. oder 11. November gewesen. Am 7.11.1923 traf sich Hitler mit den Füh­rern der paramilitärischen Organisationen, die zum Kampfbund ge­hörten, zur weiteren Vorbereitung des Putsches.8 Erst bei diesem Treffen wurde ausgemacht, den Putsch vorzuverlegen. Am Abend des 7.11. um 20 Uhr fiel dann die Entscheidung, bereits selbst am 8.11. loszu­schlagen und dafür die Veranstaltung von Kahrs im Beisein der Bayrischen Regierung und vieler Hono­ratioren zu nutzen, um selbst die Regierung zu erobern und am Folgetag einen Marsch auf Berlin zu un­ternehmen. Die Putschisten wollten auf Basis »falscher Gerüchte« (Wien 2023, S. 233) verhindern, dass auf der Ver­anstaltung im Bürgerbräukeller Tatsachen geschaffen würden, die ihren eigenen Umsturzintent­ionen entgegenstan­den. Das konspira­tive Treffen endete erst in der Nacht zum 8.11.1923. Den Ab­lauf des Putschversuches am Abend des 8.11.1923 und am Folgetag fasst Wolfgang Schieder so zusam­men:

Nach Beginn der Versammlung ließ Hitler den Bürgerbräukeller durch die SA abriegeln und drang un­angemeldet mit einigen Getreuen in den überfüllten Saal ein. Er stieg auf einen Stuhl und schoss, als der Lärm sich nicht legen wollte, mit einer Pistole in die Decke. Dann brüllte er martialisch: »Die na­tionale Revolution ist ausgebrochen. Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt. Niemand darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Galerie stellen lassen. Die bayerische Regierung ist abgesetzt. Eine provisorische Regierung ist gebildet.« Nichts davon traf zu, die Ausrufung einer ’nationalen Revolution‘ war nicht mehr als eine Farce. Es gelang Hitler zwar, die drei wichtigsten Führer der bayerischen Konservativen, den Generalkommissar von Kahr, den Befehlshaber der Reichswehr in Bayern, Otto von Lossow, und den Chef der bayrischen Landespolizei, Hans Ritter von Seißer, zur Zustimmung zu seinen nationalrevolutionären Absichten zu zwingen. Selbst das aber scheint ihm erst gelungen zu sein, nachdem auch General Ludendorff im Bürgerbräukeller auf den Plan getreten war und Hitlers nationale Revolution gebilligt hatte. Kaum war das bayerische Politikertrio dem Bürgerkeller jedoch entkommen, widerrief es alle Zusagen und be­schloss, sich gegen Hitlers und Ludendorffs Putschpläne zu stellen. […]

In der Nacht vom 8. auf den 9. November wurde den Putschisten klar, dass ihre Pläne gescheitert wa­ren. Für Hitler war das eine Katastrophe, zu deren Überwindung er keine Idee hatte. Es war Luden­dorff, der mit seiner apodiktischen Formel »Wir marschieren« einen Ausweg wusste. Auf seinen ‒ nicht Hitlers ‒ Vorschlag hin beschlossen die Putschisten am Morgen des 9. November einen Marsch durch die Innenstadt, möglicherweise, um das bayerische Kriegsministerium zu besetzen. … Der De­monstrationszug von etwa 2000 Mann formierte sich gegen Mittag. Mit Ludendorff, Hitler, seinem In­timus Scheubner-Richter, seinem Leibwächter Graf, Hermann Göring sowie Friedrich Weber, dem na­tionalsozialistischen Führer des rechtsradikalen »Bundes Oberland«, an der Spitze. An der Feldherrn­halle, dem bayerischen Gedenkort früherer monarchischer Siege, stießen die Putschisten auf eine be­waffnete Einheit der Landespolizei, welche allem Anschein nach ohne Vorwarnung sofort das Feuer gegen sie eröffnete. Einige Putschisten schossen zurück. In wenigen Minuten lagen vierzehn Putschis­ten sowie vier Polizisten tot am Boden. Hitler wurde nicht getroffen… (S. 42f.)

Nach einem misslungenen Fluchtversuch wurde Hitler am 11. November verhaftet und in Untersuchungs­haft genommen.

1.4 Zum Aufbau der vorliegenden Erörterung

Nach dieser Einführung (Abschnitt 1) wird im Folgenden der Artikel mit dem »Hitler-In­terview« vom 8.11.1923 inhaltlich beschrieben, um die nötige Grundlage für die weiteren Ausführun­gen zu legen (Ab­schnitt 2). In Abschnitt 3 kommen die spanischen Kritiker zu Wort, die begründete Zweifel an der Echt­heit des Inter­views angemeldet haben. Im Anschluss daran (Abschnitt 4) werden zusätzliche quellenkriti­sche Ein­wände vorgebracht. Es folgen Erläuterungen zum modernen Vernichtungsantisemitismus in Deutschland, der den Kontext bildet, in dem die Sätze zur Judenvernichtung im »Interviewtext« stehen und zu interpre­tieren sind. (Abschnitt 5). Im Anschluss daran wird versucht, den Tagesablauf Adolf Hit­lers am 8. November 1923 zu rekonstruieren, um besser ein­schätzen zu können, ob ein Interview mit Xammar an dem Tag hätte stattfinden können (Abschnitt 6). Danach wird auf die Rezeption des »Inter­views« in Deutschland eingegangen, wo das »Hitler-Inter­view« zur veritablen Quelle der Geschichtswis­senschaft avancieren konnte (Ab­schnitt 7). In Abschnitt 8 wird auf die fantastische Report­age Xammars über den gescheiterten Hitlerputsch, der am Abend des 8. November begann, ein­gegangen. In der Schlussbetrachtung (Abschnitt 9) wird versucht, das fingierte Interview und den »Augenzeugenbe­richt« ohne Augenzeugenschaft unter dem Aspekt des Schadens, den die Artikel verursachen konn­ten, zu bewer­ten und ansatzweise in den Kontext der damaligen Medienkultur in Spanien einzuord­nen.

2. Beschreibung des Artikels mit dem »Hitler-Interview« vom 8.11.1923

Am 24. November 1923 erschien der Artikel »Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit« in der Veu de Catalunya.9 Der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8. November lag mehr als zwei Wochen zu­rück. Hitler saß seit dem 11.11.1923 in der Strafanstalt Landsberg am Lech ein.

Zur Interview-Situation gibt es folgende Hinweise in dem Artikel: Ort ist ein Büro Hitlers in den Redakti­onsräumen des VB. Hitler trägt seinen bekannten Regenmantel mit aufgesticktem Haken­kreuz am Ärmel, behält seine Mütze auf, grüßt mit militärischem Hacken­schlag, bietet Xammar (und seinem Begleiter Jo­sep Pla) Stühle an und legt los, dass Spanier in Bay­ern willkommen seien, während man den Italienern, Engländern, Rumänen und Holländern nicht trauen dürfe. Das seien alles Juden. Damit ist die Juden­frage als Thema gesetzt.

[Hitler:] Die Judenfrage ist ein Krebsgeschwür, das unseren deutschen nationalen Organismus zer­frisst. Ein politi­sches und soziales Krebsgeschwür. Glücklicherweise sind die sozialen und politischen Geschwüre nicht unheilbar. Man kann sie herausschneiden. Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Ju­den vernichten…

[Xammar:] Mit Prügeln?

[Hitler] Das wäre das beste, aber sie sind zu viele. Ein Po­grom ist eine großartige Sache, aber heutzu­tage hat es einen Gutteil seiner mittelalterlichen Wirkungskraft verloren. […] Was hätten wir davon, die jüdische Be­völkerung von München auszurotten, wenn die Juden im übrigen Land, so wie jetzt, weiterhin über Geld und Politik herrschen? In ganz Deutschland gibt es mehr als eine Million Juden. Was wollen Sie tun? Sie alle über Nacht umbringen? Das wäre natürlich die beste Lösung, und wenn man das zuwege brächte, wäre Deutschland ge­rettet. Aber das ist nicht möglich. Ich habe das Pro­blem von allen Seiten un­tersucht: es ist nicht möglich. Die Welt würde über uns herfallen, anstatt uns zu danken, was sie eigentlich tun sollte. […] Wir haben schon gesehen, dass es mit Pogromen nicht geht. Also bleibt nur die Vertrei­bung: die Massenvertreibung. Spanien hat vor mehr als vierhun­dert Jah­ren mit der Vertreibung der Juden…

[Xammar:] Glauben Sie, dass Spanien sich damit einen Gefallen getan hat? (Xammar 2007, S. 146f., Hervorhebungen, KB)

An zwei Stellen also unterbricht Xammar den monologisierenden Hitler. Einmal fragt er etwas maliziös-pro­vozierend nach, ob die Juden mit Prügeln vernichtet werden soll­en. Der Hitler des »Interviews« ant­wortet sinngemäß, dass das zwar die beste Lösung wäre, dass ein Pogrom heute jedoch keine Lö­sung mehr sein könne, sondern die Massen­vertreibung das Mittel der Wahl sei.

Als Hitler auf die Vertreibung der Juden in Spanien zu sprechen kommen will, unterbricht ihn Xam­mar erneut mit einer Frage, die auf die bekannte Diskussion anspielt, ob die Vertreibung der Juden der spani­schen Ökonomie geschadet hat. Der Hitler des »Interviews« geht auf diese Frage nicht ein. Stattdessen entwi­ckelt er seine Argumentation, dass der Fehler der Katholischen Könige gewesen sei, den Ju­den die Konvertierung zu gestatten, um der Vertreibung zu entgehen, und er wiederholt, dass die Lösung des Pro­blems in der Vertreibung der gesamten jüdischen Rasse liege.

Das Judenproblem […] ist kein religiöses Problem. Es ist ein rassisches Problem, und seine Lösung liegt in der Vertreibung. Aber in der strikten Vertreibung der gesamten jüdischen Rasse, sowohl der praktizie­renden Juden wie auch der gleichgültigen oder der konvertierten (Xammar 2007, S. 147., Hervorhebung, KB).

In dem Artikel finden sich auch Hinweise auf den konkreten Antisemitismus in Bayern in jener Zeit. Der Hitler des »Interviews« teilt Xammar mit, dass er mit seiner Nase si­cherlich Prügel bezogen hätte. Hitler lacht, Xammar ebenfalls »allerdings nicht ganz so aus vollem Herzen« (Xammar 2007, S. 146). Angriffe auf und Verletzungen von Juden durch die Nazis aus der Zeit sind dokumentiert (Reinicke 2018).

Bekannt und historisch belegt ist auch die Ausweisung von Juden aus Bayern auf Veranlassung des Gene­ralstaatskommissars Gustav von Kahr, den das bayeri­sche Kabinett am 26. September 1923 mit diktatori­schen Vollmachten ausgestattet hatte. Der Hitler des »Interviews« geht darauf ein:

[Hitler:] In Bayern hat die Judenvertreibung schon begonnen, aber zaghaft. Von Kahr weist nach und nach alle Juden aus, die keine bayerischen Bürger sind. Das ist sehr wenig, aber man muss von Kahr zugestehen, dass er nicht mehr tun kann. Ihm sind die Hände gebunden.« (S. 147).

[Xammar:] Darf man wissen, von wem?

[Hitler:] Sie werden bass erstaunt sein. Der größte Verteidiger der Juden in Bayern ist der Erzbischof von München, Kardinal Faulhaber (Xammar 2007, S. 147f.).

Diese Aussage gab es nicht nur aus dem Munde des »Interview-Hitlers«. Sie war bereits zwei Tage zuvor schon im Völkischen Beobachter zu lesen gewesen.

Am 6. November, also zwei Tage vor dem Putsch, hatte der Völkische Beobach­ter unter dem Titel »Kardinal Faulhaber als Judenschützer« auf Faulhabers Al­lerseelenpredigt re­agiert und griff ihn als »Judenschützer« an, weil er gesagt habe, »dass auch die Juden Men­schen seien, und dass wir auch diese im Winter nicht hungern und frieren lassen dürften.« Noch auf dem Katholikentag 1922 habe er aber »ganz anders« gesprochen »indem er sehr scharfe Worte gegen die Judenpresse gebrauchte« (An­tonia Leugers 2014).

Aus Sicht der katalanischen Le­serschaft dürfte es sich bei dem »Interview« um eine höchst unter­haltsame Lektüre, die mit Entsetzlichem spielt, gehandelt haben: Infotainment. Wie das Thema Vertreibung der Ju­den in dem »In­terview« journalistisch aufge­zogen wird, ist beeindruckend. Die Vertreibung von Ostjuden aus Bayern 1923, die Judenvertreibung in Spanien unter den Katholischen Königen und in Zukunft die Massenvertrei­bung durch Hitler werden er­zählerisch in einen Zusammenhang gebracht. Die aufmerksame spani­sche Leserschaft versteht durch den Vergleich: dieser Hitler ist noch antisemitischer, noch radikaler, noch rassistischer als die Katholischen Könige.

Wollte man das »Interview« als Stück aufführen, ähnelte es je nach Ak­zentsetzung des Regisseurs einer Groteske (Esperpento) oder einem Bauernschwank.10 Das La­chen könnte dabei manchem im Halse ste­cken bleiben. Die Protagonisten des Stücks: auf der einen Seite ein kultivierter, blitzge­scheiter, provozie­render, sich einmischender spanischer Reporter, auf der anderen Seite ein Dummkopf mit einem fast deli­rierendem Antisemitismus, den man zur Be­lustigung und Belehrung (!) des Publikums vorführen kann. Das »Interview« mutet heute wie eine literarische Fantasie an. Auf inhaltliche Aspekte wird im Folgenden noch näher eingegangen.

3. Die Zweifel katalanischer Intellektueller an der Echtheit des »Interviews«

In Spanien, besonders in Katalonien, wurden immer wieder Zweifel laut, ob es sich bei dem »Hit­ler‑In­terview« nicht um einen Fake handele. Im Jahr 2000, also zwei Jahre nach der Veröffentli­chung der kata­lanischen Ausgabe der zwischen 1922 und 1924 geschriebenen Artikel Xammars (Xammar 1998), wurde erstmals öffentlich räsoniert, ob es sich bei dem »Interview« um eine Erfin­dung han­dele. Es sind im We­sentlichen zwei kleinere Artikel in katalanischen Zeitungen, in denen die Zwei­fel an der Echtheit argu­mentativ ausgeführt werden. Dazu kommt ein längerer Beitrag von Pla Bar­bero (2018) in der Literatur­zeitschrift Cuadernos Hispanoamericanos, der die Debatte zu rekonstru­ieren versucht und eigene Akzen­te setzt.11

Der Journalist Lluís Permanyer (2000) schreibt in La Vanguardia, dass es sich bei dem »Hitler-Inter­view« um eine Erfindung handeln dürfte, wenngleich er das nicht mit unbestreitbaren Daten beweisen könne (Permanyer 2000, S. 2). Erstens kommt es Permanyer unwahrscheinlich vor, dass Hitler just am hekti­schen Tage des Put­sches den beiden Journal­isten ein Interview gewährt haben sollte.

Zweitens sei der Artikel erst am 24.11.1923 veröffentlicht worden, also zu einem Zeitpunkt als Hit­ler nach dem fehlgeschlagenen Putsch bereits inhaftiert war und sich gewissermaßen nicht mehr ge­gen das wehren konnte, was ihm zugeschrieben wurde, oder andersherum, sich der Journalist un­gestraft viele in­haltliche Frei­heiten herausnehmen konnte.

Das dritte und wichtigste Argument gegen die Echtheit des Interviews ergibt sich bei Permanyer aus einer Überprüfung der gesamten Werke von Xammar und Pla, die niemals mehr – auch nicht in ihren autobio­grafischen Texten – auf dieses »Interview« zu sprechen kamen. Es sei doch schwer vorstellbar, – so Per­manyer –, dass jemand eine Begegnung mit Hitler, auch wenn sie nur kurz war, einfach vergessen haben sollte.

Permanyers Fazit: »una diablura inocente« also ein unschuldiges Schelmenstück, dass seiner Meinung nach zum Charakter von Xammar und Pla sowie zu dem Stil der Epoche passen würde.12

Einige Jahre später, 2009, geht der auch in Deutschland nicht unbekannte Schriftsteller Albert Sán­chez Piñol in einem kurzen Beitrag »Mèrit i misteri« in der katalanischen Zeitung Avui noch einmal auf den Fall ein und schließt an Permanyer an. Wie die­ser hält er es für sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem »Hitler-Interview« um eine Erfindung handelt und das »Interview« niemals stattgefun­den hat, aber ganz festlegen möchte auch er sich nicht.

Er bezweifelt, ähnlich wie schon Permanyer zuvor, dass sich Hitler am Tag des Putsches am 8.11.1923 Zeit für ein Interview genommen hätte. Er vermutet, dass das, was man da inhaltlich vor sich hat, eher vom Hören-Sagen oder von Dritten aus der Umgebung Hitlers stammen könnte und nicht von Hitler selbst. Die Journalisten könnten hinzugefügt haben, was ihnen in den Sinn kam. Er rekurriert auch wie­derum darauf, dass Hitler zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nach dem gescheiterten Putsch in Haft war. Mit anderen Worten: Xammar hatte genügend In­formationen, aus welchen Quellen auch immer, um sich ein Hitler-Interview ohne Rücksichten auf Hitler auszu­denken.

Insbesondere bezweifelt Sánchez Piñol, dass Hitler gerade zwei Fremden gegenüber etwas offenbart ha­ben sollte, was er sonst tunlichst vermied: sich öffentlich konkret zum Ziel der Judenvernichtung zu äu­ßern.13 Sánchez Piñol vermutet auch, dass die Bezüge zur spanischen Geschichte in dem »In­terview« qua­si freie Zugaben von Xammar sind, die nicht durch Kenntnisse Hitlers gedeckt schei­nen.14

Für das lebenslange Schweigen Xammars zum »Hitler-Interview« hat Sánchez Piñol eine plausible Erklä­rung. Der Um­stand, dass Hitler 1933 tatsächlich an die Macht kam, machte aus einem gescheiterten Hanswurst ei­nen Gegen­stand der historischen Forschung und ließ damit auch frühe Äußerungen hoch re­levant für die NS- und Hitler-Forschung werden. Da wäre es peinlich gewesen, mit einem erfun­denen Interview in Ver­bindung gebracht zu werden.

Wie schon bei Permanyer ist das Fazit wieder vom Typ: »typisch Pla und Xammar« und mit einer Dosis Humor endet der kurze Artikel (sinngemäß): »Was für ein Paar. Sehen Sie, wie genial sie wa­ren? Selbst wenn sie etwas Unerlaubtes anstellen, kann man nicht anders, als über sie zu reden«.15

Von Interesse ist weiter der Artikel von Pla Barbero, Philologe und Josep-Pla-Spezialist, der die Artikel Perma­nyers und Sánchez Piñols kannte, und sich eingehend mit dem Status des »Interviews« be­fasste (Pla Bar­bero 2018, online). Er hält daran fest, dass es das »Interview« irgendwie gegeben hat, sieht aber gleichzei­tig, dass der Inhalt des veröffentlichten »Interviews« ganz von den Jour­nalisten abhing. Er schreibt: »[Xammar und Pla] verfügten über alle notwen­digen literarischen Qua­lifikationen, um die Erinnerung an ihr Interview mit Adolf Hitler neu zu schreiben, wie auch immer dieses Treffen war, flüchtig, improvi­siert, vorher festgelegt, exklusiv oder mit anderen Journalisten« (Pla Barbero 2018 online, Übersetzung KB).16

Pla Barbero zeigt damit, wie schwer es ihm fällt, sich von der Vorstellung zu trennen, dass es das »Inter­view« doch irgendwie gab. Anders als Permanyer und Sánchez Piñol nimmt er das Beschweigen des »In­terviews« folglich auch nicht als deutlichen Hinweis dafür, dass es sich um ein fingiertes In­terview han­delte. Statt­dessen überlegt er, warum die Journalisten nie mehr auf das »Interview« zu sprechen kamen »[Aber] Vielleicht waren sie nie besonders stolz darauf. Oder sie hatten Angst, sich dem Vorwurf auszu­setzen, in dem Diktator nicht den gefährlichen Wahnsinnigen erkannt zu haben, der er damals bereits war« (Übersetzung KB).17

Es bleibt als Ergebnis der spanischen Diskussion festzuhalten, dass es massive Zweifel gibt, dass das »In­terview«, wie von Xammar behauptet, am 8.11.2013, dem Tag des Putsches, hätte stattfinden können. Es gibt allerdings keine Zweifel daran, dass Xammar genug Wissen aus diversen Quellen haben konn­te, um ein »Hit­ler-Interview« zu erfinden. Gegen die Authentizität des »Interviews« wird außerdem angeführt, dass es Äußerungen Hitlers enthält, die nicht zu ihm zu passen scheinen, wie die offene Thematisierung der Ju­denvernichtung gegenüber Fremden oder die Einlassungen zur spanischen Geschichte. Der Um­stand, dass Hitler in Haft war, als das »Inter­view« erschien, nährt weiter den Verdacht, dass Hitler unge­hemmt Dinge in den Mund gelegt wurden, die der Fantasie Xammars ent­stammten.

Selbst wenn es also ein Treffen Xammar-Hitler gegeben haben sollte, wäre der Inhalt, der in dem Artikel Xammars wieder­gegeben wird, manipuliert und verfälscht und damit als historische Quelle völlig un­brauchbar. Es wäre ununterscheidbar, was sich der Fantasie Xammars verdankt und was Hitler wirklich geäußert hat. Ein starkes Argument dafür, dass das »Interview« gänzlich oder gro­ßenteils erfunden wurde, ist der Umstand, dass die Jour­nalisten, nachdem Hitler an die Macht ge­kommen und zur geschichtlichen Figur geworden war, nicht auf das »Interview« zu sprechen kamen – nie mehr in ihrem ganzen Leben.

4. Einige ergänzende quellenkritische Aspekte

Quellenkritisch wäre zu fragen, welchen Status das Treffen und das Gespräch gehabt haben sollen. Es heißt bei Xammar, dass das Interview »gewährt« wurde, aber handelt es sich überhaupt um ein Interview? Bei einem Interview weiß der Interviewte, dass das, was er äußert, in einem be­stimmten Presseorgan ver­öffentlicht wird. Im Interview eines Auslandskorrespondenten mit einem Politiker ist zudem zu unterstel­len, dass der Politiker gezielt versucht, den Journalisten mitzuteilen, was er öffentlich verbreitet sehen will. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob der Hitler des Interviews davon ausging, dass er ein für die Veröffentlichung bestimmtes Interview für eine (kata­lanische) Zeitung gab oder er das Treffen für ein informelles, privates Gespräch unter Gesinnungs­genossen hielt.

Schon die Überschrift des Artikels und die Charakterisierung Hitlers als ein »gewaltiger, großartiger Dummkopf, der zu einer glanzvollen Karriere berufen ist (wovon er noch fester überzeugt ist, als wir es sind« (Xammar 2007, S. 145), macht deutlich, dass dieser Artikel weder Hitler noch einem seiner Mit­streiter zur Kenntnis gebracht wurde. Xammar, der bis 1937 als Auslandskorrespondent in Deutschland tätig war, dürfte erleichtert registriert haben, dass die Nazis seine ätzenden Einschät­zungen Hitlers offen­sichtlich nie in Erfahrung brachten. Das hätte ihn angesichts einer rachsüchti­gen und mordbe­reiten SA und Gestapo teuer zu stehen kommen können. Von daher hatte Xammar bis 1945 sicher keine Motivation, auf seine Artikel über Hitler, aufmerksam zu machen.

Eine zweite Frage wurde schon bei den skeptischen katalanischen Autoren angesprochen. In wie­weit kann das Veröffentlichte vom wirklich Gesagten abweichen und wie geht der Historiker mit dieser Differenz um? Die spanischen Autoren fragten sich in erster Linie, was Xammar an Erfunde­nem hinzugefügt hat. Ergänzend wäre zu fragen, ob Xammar alles korrekt erinnerte, als er seinen Artikel schrieb. Es wäre in Er­fahrung zu bringen, ob das Interview in ir­gendeiner Form aufgezeich­net wurde oder ob allein das Ge­dächtnis und die Erinnerungsfähigkeit des Journalisten der Wieder­gabe zugrunde lagen. Außerdem wäre zu fragen, wie gut Xam­mar damals, 1923, (Hitlers) Deutsch verstehen konnte. Dass er nach dem zweiten Weltkrieg den Dr. Faustus von Thomas Mann übersetz­te, muss nicht heißen, dass er bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor, im Herbst 1923 schon perfekt Deutsch konnte.

Es gibt weitere Einzelheiten in dem Artikel, die nicht stimmen wollen. Es wird von einer Mütze (gorra in der kata­lanischen und spanischen Fassung des Artikels) gesprochen, die Hitler nicht ab­setzte. Die Fotos aus der Zeit, die etwa im Netz und in gedruckten Publikationen kursieren, zeigen Hitler entweder ohne Kopfbedeckung oder mit einem weichen Hut. Auch die Vorstellung, dass Hit­ler vor Xammar und Pla die Hacken zusammenschlug, wirkt nicht glaubwürdig. Übertrieben klingt auch die, die Zunge Hitlers lösen­de Freude über die Spani­er, weil in Spanien, so wird nahegelegt, seit wenigen Wo­chen der Diktator Primo de Rivera an der Macht war.18 Die Italiener kommen dagegen (»alles Juden«) uner­wartet schlecht weg, obwohl Hitler für den italie­nischen Faschismus schwärmte, sich daran orient­ierte und gerne Kontakt mit Mussolini aufgenommen hätte.19

Inhaltlich will die Art, wie der Hitler des »Interviews« sich über die »beste Lösung« auslässt, nicht zu Hitlers damals üblicher Argumentation passen. In einer Zeit, in der Hitler sich öffentlich gegen Pogrome und für einen »Antisemitismus der Vernunft« aussprach, klingt das Schwadronieren über Pogrome nicht stimmig.20 In dem Zusammenhang ist auch ein Vergleich mit dem Artikel Josep Plas über die angebliche Begegnung mit Hitler aufschlussreich.

Bei­de erfanden (oder verfälschten) das »Interview«, jeder auf seine Weise. Der Artikel Plas erschien am 28. No­vember 1923, ein paar Tage später als der Artikel Xammars (abgedruckt in: Xammar 2007, S. 149-152). Interessant ist, dass der gan­ze verbale Exzess zur Judenvernichtung, den Xammar seinem Hitler in den Mund gelegt hat, bei Pla nicht vorkommt. Anders gesagt, der delirierende antisemitische Fanatis­mus Hitlers, der bei Xammar im Zen­trum steht, spielt bei Pla keine Rolle.

Ein weiteres interessantes Detail ist, dass (der nicht deutsch verstehende) Josep Pla in seiner Ver­sion von einem Monolog spricht und erst gar nicht den Anschein eines Gesprächs mit Hitler erwe­cken will. An­dersherum, während Pla in seinem Artikel als wichtige Informati­on herausstellt, dass Hitler einen neuen Krieg will, taucht dieser Aspekt in dem Artikel Xammars nicht auf. In der Wiedergabe des Interviews durch Pla und Xammar fallen Form und Inhalt so unterschiedlich aus, dass die Glaubwürdigkeit der Dar­stellung beider Journalisten leidet.

Inhaltlich will auch die einseitige Festlegung, die der »Hitler des Interviews« vornimmt, wenn er die Massenvertreibung als Mittel der Wahl herausstellt, nicht recht stimmig erscheinen. Zum einen legte die NSDAP bis 1933 nicht fest, welche Methoden sie bei der Verfolgung der Juden anwenden würde. Zum anderen taucht schon im 25-Punkte-Pro­gramm der NSD­AP von 1920 eine Kombination an vorgesehenen Maßnahmen auf: »Entzug der vollen Bürgerrechte, ein Berufsverbot für öf­fentliche Ämter und Presselei­tung für die deutschen Juden, bei Erwerbslosigkeit ihre Ausweisung sowie die Vertreibung eines Großteils zugewanderter Juden« (Wikipedia: Endlösung 2024). Die Herausgeber der kritischen Ausgabe von »Mein Kampf« sehen Hitlers damals vertretenen Antisemitismus ge­prägt durch die Ablehnung von Pogromen, die gesetzliche Bekämpfung und Besei­tigung der Rechte der Juden und in letzter Konsequenz die Entfer­nung der Juden überhaupt (Institut für Zeitge­schichte 2022: Mein Kampf, Band 1, Kapitel 2, Kommentar 172). Die Mittel, die für das Erreichen des Ziel anzuwenden sind, werden auch hier nicht explizit genannt, weil es keine entsprechende Festlegung gab.

Aufs Gesamt gesehen ist die Fülle der Indizien, die für ein fingiertes Interview sprechen, erdrückend. Das stärkste Argument gegen die Echtheit des Interviews liefert allerdings die Tatsache, dass es bis heute kei­nerlei Dokument oder Zeugnis von dritter Seite gibt, mit dem sich belegen ließe, dass es das »Interview« gegeben hat. Oder an­ders for­muliert: Die Frage kann nicht sein, ob jemand beweisen kann, dass das »In­terview« nicht stattge­funden hat, sondern dass es stattgefunden hat. Zu fordern ist also in diesem Sinne eine Beweislastum­kehr. In Memoiren von Mitarbeitern des VB, in Tagebüchern und Notizen von Kolle­gen, Freunden und Ver­wandten, in Notizen von anderen Auslandsjournalisten, die mit Xam­mar zu tun hatten, wäre zu fahnden. Solange es keinen positiven Nachweis für ein entsprechendes Treffen Xammars mit Hitler gibt, ist von ei­nem fingierten Interview auszugehen.

5. Zum Vernichtungsantisemitismus in Deutschland und in Xammars »Interview«

Es wird gelegentlich behauptet, dass Hitler in dem »Interview« sei­nen radikalen Antisemitismus unge­wöhnlich offen, wie sonst nie, kommunizierte. In der spanischen Verlagsankündigung wird noch heute von dem verstörenden Interview gespro­chen, das Xammar (und Pla) bereits 1923 mit dem späteren Dikta­tor führten und in dem dieser be­reits den Holocaust vorgezeichnet habe.21 Auch im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches wird von dem Interview gesprochen, »in dem Hitler seine Pläne zur Judenver­nichtung […] in aller Offenheit darlegte« (Berenberg, S. 9).

Andere Autoren gehen noch weiter und finden in dem »Interview« sogar Hinweise auf Pläne zur Juden­vernichtung, den Holocaust und die Endlösung. In einer Einlassung von Arcadi Espada (2005) in El País zum Beispiel wird eine Stelle aus dem »Interview« her­ausgegriffen und in Richtung Holocaust-Vorweg­nahme interpretiert. Espada liest das »Interview« so, als wäre der Massenmord an den Juden das, was Hit­ler vorschlüge und das wäre ja dann eigent­lich die erstmalige Ankündigung der Endlösung (la solución fi­nal).22

Hitlers Denkwelt in den Kontext des »Vernichtungsantisemitismus« zu stellen, wie Peter Schä­fer das Phä­nomen nennt (2000. S. 229 ff), kann helfen, die entsprechenden Passagen im »Interview« besser ein­zuordnen. Tatsache ist, dass seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein Vernichtungsantisemitismus in Deutsch­land anzutreffen ist, der sich in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch rassentheore­tisch radikalisier­te. Die Juden sollten nicht integriert, sondern entfernt werden. Moderner ließe sich vom Ziel rassistisch begründeter ethnischer Säu­berung sprechen. Die Mittel dazu heissen: Abschiebung, Umsied­lung, Depor­tation (etwa nach Mada­gaskar wie 1885 von de Lagar­de vorgeschlagen), Vernichtung.

Diesem althergebrachten radikalen Antisemitismus wohnte latent immer schon die Frage und dumpfe Dro­hung inne, mit welchen drastischen Mitteln man die Juden loswerden, wie man sie ent­fernen kann. Von daher lässt sich in den Dokumenten des Vernich­tungsantisemitismus auch der »Vor­schein« einer Endlösung ausmachen. An zwei Beispielen lässt sich das zeigen.

Christian Jansen hat den »Judenspiegel« des Hartwig von Hundt-Radowskys von 1818 ana­lysiert. Er kann zeigen, wie früh bereits zentrale Elemente des rassistischen und eliminatorischen Antisemi­tismus formuliert wurden, wie das folgende Zitat verdeutlicht.

[Hundt schlägt] die Sterilisation aller männlichen Juden vor – ein weiterer Be­leg für seine rassische Überzeugung von der Unverbesserlichkeit der Juden und für die Modernität seines genetischen Verfol­gungsprogramms. Unumstößlich stand für ihn fest, dass nur eine vollständige Elimination des Juden­tums die Mehrheitsgesell­schaft retten könne: ‚Am Beßten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer, und hierzu giebt es gleichfalls zwei Mittel. Entweder, sie durchaus zu vertilgen, oder sie […] zum Lande hinauszujagen. […] Am Gerathensten wäre es daher, man brächte die Juden, welche in Deutschland […] sämmtlich auf den Schub, und nach dem gelobten Land hin’« (Jansen 2011, S. 32)

Alexander Bein, der zum modernen Antisemitismus geforscht hat, sieht »den ersten und bedeutends­ten Versuch, die nun entstehende antisemitische Bewegung […] durch Philosophie, Biologie und Geschichte wissenschaftlich zu unterbauen« in der Schrift »Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage« (1881) des Berliner Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring (1833-1921). Die Argumentation der Antisemiten, dass die Judenfrage eine Frage der Rasse und keine der Religi­on sei, und dass der Über­tritt zum Christentums deshalb keine Lösung darstellen kann, ist folglich im Jahre 1923 keineswegs neu.

Sie [die Judenfrage] als Frage der Religion darzustellen, ist nach Dührings Mei­nung eine bewusste Ir­reführung und Verdunkelung. »Selbst wenn alle Juden zu den herrschenden Kirchen überträten, wie es die Liberalen wünschten, würde die Ju­denfrage nicht zu existieren aufhören. Im Gegenteil, Gefahr und Bedro­hung für die Völker würden dadurch nur wachsen«. Dühring ist sicher, dass sich die Erkenntnis durchsetzen wird, »wie unverträglich mit unseren besten Trieben die Einimpfung der Eigenschaften der Judenrace in unsere Zustände sei. Hier­nach liegt die Juden­frage weniger hinter uns als vor uns«. … »Wo diese Race ein­mal gründlich erkannt ist«, meint Dühring mit klaren Andeutungen für die Zu­kunft, »da steckt man sich von vornherein ein weiteres Ziel, zu welchem der Weg nicht ohne die kraft­vollsten Mittel zu bahnen ist. Die Juden sind […] ein in­neres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden« und an anderer Stelle schreibt Dühring: »Die Judenhaftigkeit lässt sich … nicht anders als mit den Juden selbst be­seitigen« (Bein 1958, S. 347).

Bein kommt zu dem Schluss »Die Hitlerzeit hatte tatsächlich gedanklich nichts den Theoretikern des An­tisemitismus hinzuzufügen« (Bein 1958, S. 360).23 Das Neue liegt hier nicht im Denken, son­dern darin, dass mit der NSDAP eine politische Partei entsteht, zu deren Markenzeichen ein extrem­er, je nach Um­ständen mehr oder weniger deutlich vorgetragener und gewaltsam praktizierter Anti­semitismus gehört.24

Eine Rede vom 6. April 1920 zeigt Hitler deutlich in dieser Tradition stehend, einer­seits die größtmögli­che Drohung auszusprechen, andererseits aber die Mittel nicht konkret zu machen:

[…] es beseelt uns die unerbittliche Entschlossenheit, das Übel an der Wurzel zu packen und mit Stumpf und Stiel auszur­otten. Um unser Ziel zu erreichen, muss uns jedes Mittel recht sein, selbst wenn wir uns mit dem Teufel verbinden müssten (abgedruckt in Jäckel/Kuhn 1986, Doku­ment 61, S. 184-204).

Aber selbst das Vokabular »Ausmerzen«, »Ausschalten«, »Beseitigen«, »Ent­fernen«, »Unschädlichma­chen«, »Vertilgen«, »Vernichten« oder sogar wie hier zitiert »Ausrotten« bezogen auf Krankheiten, Unge­ziefer oder Parasiten, gehört noch zum traditionellen Vernichtungs­antisemitismus.

Wenn Hitler in dem »Interview« vom »Krebsgeschwür, das man herausschneiden kann« spricht, dann ist das noch die Sprache des alten Vernichtungsantisemitismus. Dem Hitler des »Interviews« wird an Antise­mitismus nichts in den Mund gelegt oder zuges­chrieben, was nicht schon denen, wie Xammar, bekannt sein konnte, die sich mit Hitler, seinen Aussagen und Auftritten in Bier­kellern oder im Circus Krone, dem Programm der NSDAP, dem Denkhorizont des überkommenen und rassistisch modernisierten Antisemi­tismus und den Münchener Verhältnissen im Jahr 1923 auskannt­en.

Das bestätigt ein Interview Hitlers vom Oktober 1923, das er dem Journalisten George Sylvester Viereck, laut Domeier ein »Nazi-Sympathisant« (2021, S. 426) vom The American Monthly gewähr­te.25 In dem In­terview26 sagt Hitler:

Die Juden sind keine Deutschen. Sie sind ein fremdes Volk in un­serer Mitte und treten als solches auf. […] Wir sind wie ein Schwindsüchtiger, der nicht begreift, dass er dem Unter­gang geweiht ist, wenn er nicht die Mikroben aus seiner Lun­ge austreibt. Natio­nen, wie auch Individuen, neigen dazu, am wil­desten zu tan­zen, wenn sie dem Abgrund am nächs­ten sind. Deshalb, sage ich, brauchen wir gewaltsa­me Korrektive, starke Medizin, vielleicht eine Amputation. […] Wir wollen uns von den Juden säu­bern, nicht weil sie Juden sind, sondern weil sie einen schädlichen Einfluss haben (Jäckel/Kuhn 1986, Dokument 578, S. 1023-1026; Übersetzung, KB).

In der Sprache des alten Vernichtungsantisemitismus schwingt latent stets der (Alp)Traum einer Endlö­sung mit. Aber daraus lässt sich weder bei Hundt, Düring oder Hitler eine gedankliche Vorwegnahme oder Ankündigung dessen ableiten, was Endlösung historisch im Zuge des Zweiten Weltkriegs bedeuten sollte. Was unter Historikern und in der Öffentlichkeit als Endlösung verstanden wird, ist die systemati­sche Er­mordung aller europäi­schen Juden in allen Gebieten mit Zugriff des NS-Regimes noch wäh­rend des Zweiten Weltkrieges. In dem Zusammenhang war Endlösung damals als Euphemismus zu verstehen, um nicht vom syste­matisch geplanten Massenmord sprechen zu müssen. Die politische Entscheidung zur sys­tematischen Ermordung aller europäischen Juden wird von Historikern auf Herbst/Winter 1941 datiert. Es ist deshalb eine geschichtswissenschaftlich abzulehnende Rückpro­jektion, die Endlösung, also den Holo­caust, in die Gedankenwelt von 1923 zu ver­setzen.

6. Hitlers Tagesablauf am 8. November 1923, ein Tag ohne Interview

Die Skeptiker (darunter auch Jordi Amat 2019) bezweifeln, dass das »Hitler-Interview«, wie von Xammar behauptet, am Tage des Putsches am 8.11. in den Redaktionsräumen des VB stattgefunden haben könnte. Die Rekonstruktion von Hitlers Tagesablauf am 8.11.1923 legt jedenfalls nahe, dass es das »Interview« nicht gegeben hat, nicht an jenem Ort und nicht an jenem Tag.27 Für die Alternati­ve, dass das Hitler-Inter­view an anderem Ort, zu anderer Zeit stattgefunden haben könnte, gibt es bis heute keinen konkreten Hin­weis.

Erst am Abend des 7.11.1923 um 20 Uhr war die Entscheidung gefallen, am 8.11.1923 zu putschen. Die kurze Vorbereitungszeit erhöhte zwangsläufig den Zeitdruck und senkte die Erfolgschancen des Vorha­bens. Die Zahl der Aktionen, die in kürzester Zeit geplant, orga­nisiert und auf den Weg gebracht werden mussten, war folglich beachtlich. Dazu gehörten die ge­naue Festlegung des Ablaufs, das Einweihen und die Verpflichtung von Mitverschwörern, die Organisati­on der Truppen des Kampf­bundes sowie die propa­gandistische Begleitung durch Agitatoren und Redner, die Herausgabe ei­ner Sondernummer des VB, der Druck von Flugblättern und Plakaten.

Nach Mitternacht, gegen ein Uhr am 8.11.1923, soll Hitler sich noch in seiner Wohnung in der Thierschstr. 41 mit Hermann Esser (1920 Schriftleiter des VB, 1923-1925 Reichspropagandaleiter der NSDAP) besprochen haben. Am Morgen bestellte Hitler Rudolf Heß auf 10 Uhr zu sich in seine Woh­nung, um ihm sei­ne Aufgaben bei der Durchführung des Putsches zu erklären (Wien 2023, S. 268). Ob Hitler danach, wie etwa ein Heß-Biograph schreibt, zu Hermann Esser fuhr, »der mit einer Gelbsucht das Bett hütete« (Gör­temaker 2023, S. 144) ist zweifelhaft.28 Unstrittig ist, dass sich Hitler an jenem Morgen zur Privatwoh­nung von Ernst Pöhner chauffieren lässt und mit ihm ein etwa einstündi­ges Gespräch führ­te. Dem ehema­ligen Polizeichef von München wurde angetragen, nach dem Putsch Ministerpräsident zu werden. Er war einverstanden.

In den Redaktionsräumen des VB tauchte Hitler erst gegen Mittag auf, wie Volker Ullrich anschaulich be­schreibt: »Um die Mittagszeit stürmte Hitler, bleich vor Erregung, die Reitpeitsche in der Hand, in die Redaktion des ‚Völkischen Beobachters‘ und erklärte dem überraschten Chefredakteur Alfred Rosenberg und dem ebenfalls anwesenden Ernst Hanfstaengl, dass er sich zum Putsch entschlossen habe« (Ullrich 2022, S. 199). In der Redaktion des VB werden daraufhin publizistische und propagandistische Vorbereitun­gen zur Flankierung des Putsches und der erwarteten Regierungsübernahme Hitlers in Gang gesetzt. Da der ge­plante Putsch noch Geheimsache ist, wird man in der Redaktion des VB ab diesem Zeitpunkt darauf ge­achtet haben, Unbekannten keinen Zutritt in die Redaktionsräu­me zu gewähren.29

Ernst Hanfstaengl, deutsch-amerikanischer Hitlerbewunderer, der zu der Zeit eine Art Auslands-Presse­sprecher der NSDAP war, kontaktiert die amerikanischen Journalisten Larry Rue (Chicago Tribune) und H. R. Knickerbocker (Conradi 2007, S. 86) und versorgt offenbar auch weitere Aus­landskorrespondenten mit Hinweisen, dass es sich lohne, abends in den Bürgerbräukeller zu gehen.

Was Hitler am Nachmittag des 8.11. tat und wo er sich jeweils befand, ist nicht ohne Weite­res mi­nutiös zu rekonstruieren. Ein Hinweis von Hanfstaengl, der Hitler nachmittags dringend sprechen wollte, lautet: »Hitler war nir­gends zu erreichen. Es hieß, er sei zu wichtigen Beratungen im Divisionskommando bei Haupt­mann Dietl« (Hanfstaengl 1970, S. 131).30 Wäre Hitler nachmittags in den Räumen des VB gewe­sen, wäre das Hanfstaengl nicht verborgen geblieben. Welche Personen Hitler an jenem Nachmittag an welchen Orten sonst noch getroffen hat, kann an dieser Stelle offenbleiben. Gesichert scheint jedenfalls, dass es keine Begegnungen in den Räumen des VB gab, wo Xammar Hitler interviewt haben will.31

Ab ca. 18 Uhr war Hitler beim Oberkom­mandos der SA in der Schellingstrasse und erwartete dort Max Erwin Scheubner-Richter. Um 19 Uhr besuchte Hitler »noch ein­mal die Redaktion des Völkischen Beob­achters und das Oberkommando der SA in der Schellingstraße. Hitler lud Rosenberg ein, mit ihm zum Bürgerbräu zu fahren. Vorn saß Hitler neben dem Fahrer, hinten Leibwächter Graf neben Rosenberg« (Wien, S. 283). Kurz nach 20 Uhr kamen Hitler und Rosenberg am Bürgerbräu an (Wien 2023, S. 283).

Aus der Lektüre der herangezogenen Sekundärliteratur ist zu folgern, dass Hitler einmal mittags aufgeregt im VB erscheint, um ausgewählte Personen in die Putschpläne einzuweihen, vorher an diesem Tag aber nicht in der Redaktion gewesen war. Nachmittags war er vermutlich auch nicht im VB, da Hanfstaengl, der ihn suchte, das mitbekommen hätte. Ein Interview mit unbekannten, ausländischen Besuchern in den Räumen des VB am Nachmittag des 8.11.1923 erscheint auch wegen der hohen Organisations- und Kom­munikationserfordernisse der Putschvorbereitung, der damit verbundenen Hektik und Anspannung sowie der Geheimhaltungs- bzw. Si­cherheitserfordernisse wegen unwahrscheinlich. Abends ist Hitler dann nur noch kurz vor der Abfahrt zum Bürger­bräu mit Chauffeur, Leibwächter und Rosenberg im VB.

Dass Hitler sich unter diesen Umständen beachtliche Zeit für zwei ihm unbekannte Spanier genommen hätte, um seine Ansichten zur Judenfrage darzulegen, aber auch seine wirtschaftspolitischen Vorstellun­gen zu erläutern,32 ist höchst unwahrscheinlich, wie es auch unwahrscheinlich ist, dass solch ein Interview unbeobachtet ge­blieben wäre und von niemandem für aufzeichnungs- oder erinnerungswert befun­den worden wäre. Weder bei Ernst Hanf­staengl, dem »Verbindungsmann zur ausländischen Pres­se« (Hanf­staengl 1970, S. 135), der in seinen Memoiren mehrere Seiten dem Geschehen am Tage des Putschver­suchs widmete, noch im Tagebuch von Paula Schlier, die als Sekretärin in der Redaktion des VB tätig war, finden sich Hinweise auf das Interview und die spanischen Journalisten. Beide hätten ein solches von Hitler am Tag des Putsches gewährtes Interview sicher für bemerkenswert gehalten.

7. Das »Hitler-Interview« als Quelle der NS-Forschung in Deutschland

In deutscher Übersetzung erschien der Artikel Xammars, in dem die Schilderung eines Interviews mit Hitler im Zentrum steht, erstmals 2007 im Berenberg Verlag als Teil der Aufsatzsammlung mit dem Titel »Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924« (S. 145-148).

Zweifel an der Authentizität des beschriebenen Interviews gab es zunächst nicht. Dazu gab es auch keinen Grund. Denn die redaktionelle Einleitung zur katalanischen und spanischen Ausgabe (González Prada 2005, S. 10) hat selbst an keiner Stelle in Zweifel gezogen, dass dieses Interview tatsächlich stattgefunden hat. Wie bereits bemerkt, wird im Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches davon gesprochen, dass Xammar und Pla »ein Exklusi­vinterview gewährt« worden sei, »in dem Hitler seine Pläne zur Judenver­nichtung […] in aller Of­fenheit darlegte« (Berenberg 2007, S. 9).

Das Buch insgesamt erfuhr zu Recht bei deutschen Journalisten und Historikern eine außerordent­lich po­sitive Aufnahme. Und damit begann auch die Karriere des »Interviews« als relevanter Quelle der For­schungen zu Hitler.33 Anknüpfend an die einlei­tenden Bemerkun­gen des Verlegers, die niemand weiter hinterfragte, wurde eine bestimmte Lesart bei den Rezensenten do­minant. Nirgends wird bezweifelt, dass es das »Interview« wirklich am 8.11.1923 gegeben hat.

Christian Welzbacher (Süddeutsche Zeitung 9.10.2007) greift die Rede vom Exklusivinterview auf und spricht von ei­ner »journalistischen Sternstunde« und Volker Ullrich von einem »der seltenen Interviews, die ein ausländi­scher Korrespondent damals mit Hitler, nur wenige Stunden vor dem Staatsstreichversuch, führen durfte« (DIE ZEIT 4.10.2007). Der Historiker Ernst Piper (Tagesspiegel 07.01.2008) liest in dem Text, dass Hit­ler »ganz offen über seine Pläne zur Vernichtung der Juden schwadronierte«. Wera Reusch (Deutschland­funk 4.10.2007) liest heraus, dass Hitler in dem Interview völlig un­verblümt sein politisches Pro­gramm erklärt und unter anderem die Vernichtung der Juden angekün­digt habe. Die genaue Lektüre des »Hitler-Interviews«, wie bereits oben argumentiert, zeigt jedoch, dass nicht davon die Rede sein kann, dass dort Hitlers Pläne zur Vernichtung der Juden offengelegt würden.

Ausführlich, und nicht nur für das Feuilleton, geht die Historikerin Edith Raim 2014 auf das »Hitler-In­terview« ein. Das Interview soll ihr helfen, »die Rolle von Hitlers Antisemitismus hinsichtlich des ekla­tanten Gegensatzes von gesprochenem und geschriebenem Wort neu zu bestimmen« (S. 53). Es könnte als Beleg dafür dienen, dass Hitler in der mündlichen Rede seinen Antisemitismus unverblümter zum Aus­druck brachte als in schriftlicher Form. Die höheren Weihen der Historiker erhält das »Interview« schließ­lich dadurch, dass es als Quelle in der kri­tischen Ausgabe von »Mein Kampf« verwendet wird (Institut für Zeitgeschichte 2022, Anmerkung 172, online). Die Historiker Domeier (2021) und Dipper (2022), um zwei Beispiele zu nennen, nutzen das »Interview« in ihren Arbeiten bereits wie selbstverständlich als nicht weiter zu hinterfragende Quelle.

An den Besprechungen lässt sich die erstaunliche Macht von »Paratexten«, hier insbesondere die Rah­mung durch Vorwor­te und Einführungen, zeigen. Das »Framing« durch kompetente HerausgeberInnen er­zeugt Ver­trauen und reduziert mögliche Skepsis und Zweifel an der Echtheit des Interviews. Es wundert folglich nicht, dass die Re­zensionen in den Tageszeitungen auf den Vorgaben der Vorworte aufbauen.

Von HistorikerInnen, die sich fragen müssen, was das Interview als historische Quelle wert ist, wäre frei­lich eine quellenkritischere Herangehensweise zu erwarten gewesen. Unabhängig davon, ob es das Tref­fen und das Interview wirklich gab oder nicht, hätte eingehende Quel­lenkritik zu der Einsicht führen kön­nen, dass der Wert des Interviews als historische Quelle äußerst fragwürdig ist. Die wichtigsten quellen­kritischen Argu­mente, die gegen die Echtheit des Interviews sprechen, wurden weiter oben bereits ge­nannt.

Eine spezifische quellenkritische Frage ergibt sich mit Blick auf die Übersetzung, von der die deut­schen Rezensenten und Historiker ausgingen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Übersetzung von »eliminar« als »vernichten« interessant. Im Katalanischen und Spanischen kann »eliminar« sowohl »entfernen« als auch »ver­nichten« heißen. Da Hitler die Formel von der Entfernung der Juden mehrfach benutzte, wäre auch »ent­fernen« eine mögliche und im Kontext des Interviews plausible Übersetzung gewesen. Entfer­nung der Juden wäre semantisch mit Massenvertreibung kompatibel, Vernich­tung impliziert dagegen Tö­tung und Ermordung.

Zweifel an der Echtheit des Interviews wurden in Deutschland erst spät, und nicht vonseiten der Histo­rikerzunft, laut. Im Jahr 2022 kommt Frank Hense­leit, Herausgeber, Übersetzer und Verleger der Werke von Manuel Chavez No­gales, in seiner Einleitung zu dem Band »Deutschland im Zeichen des Hakenkreu­zes«, einer Sammlung von Re­portagen aus Deutschland im April und Mai 1933 für die Zeitung Ahora34, auch auf das »Hitler-In­terview« von 1923 zu sprechen (Henseleit 2022, S. 30). Dazu dient ihm eine Art Exkurs mit dem Titel »Eu­geni Xammar und Josep Pla erfinden ein ‚Interview‘ mit Adolf Hitler – eine Far­ce«. In diesem Ex­kurs wirft er Xammar (und Pla) bezogen auf das »Hitler-Interview« »Betrug« vor und dem deutschen Verlag eine »zweifelhafte Editionspraxis«, weil dieser dem »journalistischen Betrug trotz mehrfachen Hinweises nicht nachging« (ebd., S. 35).

Den Kern des fingierten Interviews sieht Henseleit in »Hitlers Ankündigung, die Juden auslöschen zu wol­len, und zwar als vorrangige politische Agenda« (ebd., S. 31). Da diese Aussagen dem Hitler des »In­terviews« von Xammar in den Mund ge­legt wur­den, entsteht für Henseleit die Frage, wie Xammar dazu kam. Seiner Ansicht nach zeugt das »Hitler-In­terview« »von einem tiefen Antisemitismus in Teilen der spanischen und kata­lanischen Elite« (ebd., S. 32). »Die Fantasterei Xammars, wie man das ‚Problem‘ lö­sen könne, […] ent­sprang ganz offensichtlich einem tiefen Antisemitismus…« (ebd., S. 33). Begründun­gen und Belege, in welcher Weise Xammars Arti­kel vom 24.11.1923 nicht Hitlers, sondern Xammars An­tisemitismus und den gewisser spanischer Eliten zum Ausdruck bringt, bleiben aus.

Festzuhalten bleibt, dass Henseleit die Debatte um die Echtheit des Interviews in den deut­schen Sprach­raum getragen hat und beizupflichten ist ihm auch, dass es in der katalanisch-spanis­chen Diskussi­on schwerfällt, sich von dem Gedanken zu trennen, dass es das »Hitler-Interview« doch irgendwie gab (Henseleit 2022, S. 30f.).

8. Ein perfekter Artikel über den Hitler-Putsch von einem, der nicht dabei war

Xammars Schilderung des Putsches im Bürgerbräukeller wurde vielfach in höchsten Tönen in der deut­schen Presse gelobt. Es fol­gen einige wenige Beispiele: Der Verleger und Verfasser der Einleitung, Hein­rich von Beren­berg (2007) gibt den Ton vor: »Dem Münchener Hitler-Putsch im November 1923 hat er einige der besten und sarkas­tischten Seiten gewidmet, die je darüber geschrieben wurden. Fast könnte man meinen, Lion Feuchtwan­ger habe sie studiert, ehe er seinen politischen Schlüsselroman ‚Erfolg‘ schrieb« (2007, S. 9).

Paul Stänner (2008) sagt im Deutschlandfunk: »Xammar betrachtet die Geschehnisse in Deutsch­land, das er ausgiebig bereiste, wie ein Theaterzuschauer ein Drama oder ein Kinogänger einen Film. Hitler als Cowboy-Darsteller. Die Reportage dieses Putsches im Bier- und Tabaksdunst des Bürgerbräukellers ist eine hinreißend komische Schilderung einer makabren Posse. Xammar wuss­te, mit wem er es zu tun hat­te, er hatte Hitler kurz zuvor interviewt.«

Volker Ullrich (Die ZEIT) liest »eine der aufschlussreichsten Schilderungen dieses zwischen bluti­gem Ernst und Groteske schwankenden Ereignisses« (Ullrich 2007). Andreas Mix (Berliner Zei­tung) fasst zu­sammen: »In einer grandiosen Reportage charakterisierte Xammar den Hitler-Putsch als dilettantischen Streich bramabasierender Kleinbürger: ein Spektakel aus dumpfer Bierseligkeit und großen Gesten« (Mix 2007). Ernst Piper (Tagesspiegel) erkennt »eine klare Analyse des Ge­schehens, die den Putschversuch in seiner ganzen Lächerlichkeit entlarvt« (Piper 2008).

Der Punkt, um den es in der vorliegenden Erörterung geht, ist die allseits unterstellte Augenzeugenschaft Xammars, die hier bestritten wird. Liest man in dem Standardwerk zum Hitlerputsch 1923 von Harold J. Gor­don jr die Passa­ge zum Ablauf des Putsches nach (1971, S. 256 -261), sind deutliche Unterschiede zur Version Xammars in Details, aber auch im Gesamtablauf der Ereignisse im Bürgerbräukeller festzu­stellen. Da Xammar für eine spanische Leserschaft schrieb, mag ihm Exaktheit weni­ger wichtig gewesen sein als effektvolle Zuspitzung und Vereinfachung ‒ unabhängig davon, ob er dabei war oder nicht.

Das Besondere an der Schilderung des Putsches durch Xammar liegt weder im Neuigkeitswert seines Be­richts noch in der Ge­nauigkeit des Dargestellten, sondern in seinen außergewöhnlichen stilistischen Fä­higkeiten, wozu unter anderem Selbst­ironie und Sarkasmus (siehe das Zitat in Abschnitt 1.4) gehören. Den Artikel über den Putsch einleitend schreibt Xammar selbstironisch (wissend, dass er nicht dabei war):

Ich gebe zu, es übersteigt meine Fähigkeiten, den Putsch in Bayern so zu schil­dern, dass der Leser ihn sich vorstellen kann, ohne dabei gewesen zu sein. Wenn ich es dennoch versuche, so deshalb, weil ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene und mir nichts anderes übrig­bleibt (Xammar 2007, S. 134).

Den Beweis dafür, dass er selbst nicht dabei war, liefert eine Passage aus seinen Memoiren35, aufgezeichnet 1974/75, die nicht eindeutiger sein kann:

An diesem Abend löschten Josep Pla und ich unseren Durst im Franziskaner Bräu. […] Ich habe es schon gesagt, nicht wahr, dass wir an diesem Abend, als Josep Pla und ich unseren Durst im Franzis­kaner Bräu löschten, in einem ande­ren Münchner Keller – dem Hofbräu, wenn ich mich nicht irre – große Dinge passierten. Kurzlebig, aber groß. Genau gesagt, ein Staatsstreich, organisiert von einem bunt zusammengewürfelten Haufen rechter Gruppen und Grüppchen, öffentlich zugelassenen und klandestinen, an deren Spitze sich drei große Per­sönlichkeiten positioniert hatten: der General Luden­dorff, während des Krieges erster Stellvertreter des Marschalls von Hindenburg, der Kopf der bayeri­schen Regierung von Kahr und der junge Stern des delirierenden germanischen Patrio­tismus, Adolf Hitler. Als Josep Pla und ich in der ziemlich kalten Nacht des 9. November zu Bett gingen, ahnten we­der er noch ich, dass in dieser Nacht Ge­schichte geschrieben wurde. Und zwar, wie wir in den Zeitun­gen des nächsten Tages lasen, auf spektakuläre Weise (Xammar 1991, S. 265f., Übersetzung KB).

In der Tat wurde der Hergang des Putschversuches durch verschiedene Erklärungen von Kahrs, die die Grundlage viele Zeitungsberichte bildete, recht detailliert bekannt (Bischl 2023). Alsbald hatten auch Tei­le der deutschen Presse nach der Niederschlagung das Dilettantische und Komische des Vorgangs erkannt und schlachteten es aus. Am 10.11.1923 titelte Ernst Feder im Berliner Tageblatt »Das Ende der Hans­wurstiade«, und auch in Amerika weiß man Bescheid. Larry Rue, der wirklich dabei war, schreibt am 11. November in der Chicago Tribune über die Ereignisse unter dem Titel »Tribune Man Gives First Eyewit­ness Story of Ludendorff’s Ill-fated Bavarian Coup«. In dem Ar­tikel wird nebenbei auch die Bezeich­nung »opera bouffe revolt« für den Putschversuch erfunden.36

Xammar hatte also noch etwas Zeit, um sich umzuhören, Kollegen zu treffen, deutsche und interna­tionale Zeitungen zu lesen und an seinem Artikel zu arbeiten, der dann am 17. November 1923 in der katalani­schen Zeitung La Veu de Catalunya mit dem Titel »Der Putsch als Spektakel« (2007, S. 134f.) veröffent­licht wurde.

9 Schlussbetrachtung

In dem vorliegenden Diskussionsbeitrag wurde argumentiert, dass davon auszugehen ist, dass ein »Inter­view«, das von nie­mandem bestätigt wird – nicht von Xammar selbst und auch von keinem anderen –, nicht stattgefunden hat. Plädiert wird für eine Beweislastumkehr. Es muss nicht bewiesen werden, dass das Interview nicht stattfand, sondern es müssen positive Belege gefunden werden, die anzeigen, dass es das frag­liche Interview gab. Solange es einen solchen Nachweis nicht gibt, ist davon auszugehen, dass das Inter­view eine literarische Erfindung ist.

HistorikerInnen sollten das Interview nicht mehr als verlässliche Quelle verwenden. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Eugeni Xammar vermutlich deshalb niemals auf sein erfundenes Hitler-Interview zu sprechen kam, um vor der Historikerzunft und der Öffentlichkeit nicht als Fälscher dazustehen. Dieses Beschweigen aber ermöglichte erst, das »Interview« bei seiner Wiederentdeckung und erneuten Veröffent­lichung für authentisch zu halten und als historische Quelle zu verwenden.

Ein wichtiges Ergebnis der vorgelegten Erörterung liegt auch darin, dass selbst für den Fall, dass doch noch Belege für ein Gespräch Xammar-Hitler auftauchen sollten, aus dem »Hitler-Interview« keine histo­risch belastbare Quelle würde. Denn zu offenkundig ist, dass die Ausführungen Hitlers in diesem »Inter­view« entscheidend von Xammars literarischer Imagination abhängen.

Erstaunt hat die außerordentliche Prägekraft der Vorworte und Einleitungen renommierter Verlage und HerausgeberInnen für die Wahrnehmung und Interpretation der Texte in relevanten Rezensio­nen. Vertrau­enswürdigkeit und Renommee dieser Instanzen haben skeptische Nachfragen und erfor­derliche Quellen­kritik erst gar nicht aufkommen lassen.

Ein Beispiel, das diese Problematik besonders deutlich macht, ist die Interpretation der Passagen zur Ju­denfrage in dem »Interview«. Die Verleger und Herausgeber haben den Ton vorgegeben. Es wurden die Plä­ne Hitlers zur Judenvernichtung herausgelesen und sogar Vorzeichen des Holocaust und der Endlö­sung darin erkannt. Manche halten den Text in dieser Hinsicht sogar für prophetisch.

Der Text aber gibt solche Deutungen, genau gelesen, nicht her. Wissenschaftlich unzulässige Rückprojek­tionen nach der Katastrophe führen zu falschen Interpretationen. Diese Interpretationen verdrehen zudem die offenkundige Intention Xammars. Dieser wollte nichts prophezeien, sondern Hitler und seinen fanati­schen Antisemitismus als entsetzlich und gleichzeitig als geradezu lächerlich und gro­tesk vorführen.

Ein Fake ist ein Fake. Insofern ist Xammar nicht von dem Vorwurf zu entlasten, gegen das journa­listische Berufsethos verstoßen zu haben. Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, welchen Scha­den Xammar mit seinem fingierten Interview angerichtet hat. Der Schaden, den er bei seinen Lese­rInnen anrichtete, dürfte zu vernachlässigen sein. Auf der Habenseite wäre zu verbuchen, dass Xam­mar seinen Lesern den radika­len, eliminatorischen Antisemitismus Hitlers drastisch vor Augen führ­te, aber zusätzlich auch Detail­kenntnisse über das antisemitische Bayern vermittelte, wenn er über die Ausweisung der Ostjuden in Bay­ern oder über den Konflikt der NSDAP mit der ka­tholischen Kirche in Gestalt des Kardinals Michael von Faulhaber informierte.

Die Berichte Xam­mars aus Deutschland waren, so die Annahme, nicht wegen ihrer Aktualität (die oft nicht gegeben war) attraktiv, sondern wegen seiner außergewöhnlich guten Kenntnisse der deutschen Ver­hältnisse und wegen seines unverwechselbaren, unter­haltsamen Stils, die zu einer spezifi­schen Form des Infotainment zusammenkamen.

Für eine angemessene Bewertung, die nicht nur Maßstäbe von heute auf die Vergangenheit anwen­det, wä­ren im Sinne einer erweiterten Quellenkritik auch die zeittypischen Rahmenbedingungen des »spanischen Zeitungswesens und seiner Schreibweisen« quellenkritisch einzubeziehen, »um die Zu­sammenhänge zu verstehen, unter denen die Beiträge entstanden« (Welzbacher 2007).

Zu erinnern ist an die Einschätzung Permanyers, dass ein fingiertes Interview damals durchaus zum Cha­rakter von Xammar und Pla sowie dem Stil der Epoche passte. Der Hinweis auf den Stil der Epoche ist interessant, weil damit gemeint sein könnte, dass es (bereits) damals in den 1920er Jahren unter Umstän­den wichtiger war, eine gute Geschichte abzuliefern als eine, die sich strikt an die Tatsachen hielt und bei der man unbe­dingt selbst dabei gewesen sein musste.

Eine gute story bedeutete, der Leserschaft etwas Spannendes als selbst Erlebtes aus der Ich-Per­spektive zu er­zählen. Eine ausdrückliche Versicherung der Augenzeugenschaft des Reporters war dafür hilfreich. Das lässt sich zum Beispiel auch für den Journalisten und Star-Reporter Manuel Chavez Nogales zeigen, der wie kein anderer den Nimbus des »Mannes, der dabei war« be­saß. In seiner Re­portage über die Ver­teidigung Madrids im Bürgerkrieg ist er als Autor in Madrid dabei, als Person hielt er sich jedoch in den Tagen nachweislich in Valencia auf (Morató 2023, S. 20).

Die Erwartung der damaligen LeserInnen, dass der Autor dabei zu sein und über Erlebtes zu berich­ten habe, konnte auch Xammar nicht enttäuschen. Seine Artikel, die am Tag des Hitlerputsches vom 8.11.1923 an­gesiedelt sind, bloß als Kompilation von Gelesenem und über Gespräche Erfahrenem zu er­kennen, wäre frustrierend und langweilig gewesen. Auch das »Interview« hätte als Darstellung des radi­kalen, fa­natischen Antisemitis­mus des Adolf Hitler aus Reden, Dokumenten und Gesprächen mit Nazis re­konstruiert und präsentiert werden können. Das war indes keine attraktive Option. Angesichts eines wehrlosen Adolf Hitler in Haft, riskier­te Xammar den Versuch, ein fin­giertes Interview als Groteske durchzubringen, um aus einem zu dem Zeitpunkt nur noch mäßig interes­santen Thema (NSDAP verboten, Hitler in Haft) noch einmal Funken zu schlagen.

Wie immer man die Artikel Xammars vom 8.11.1923 versteht, sie regen heute noch an, über Fake, litera­rische Wahrheit und rigorose Quellenkritik nachzudenken.

Anmerkungen

  1. La Veu de Catalunya (Die Stimme Kataloniens) war das katalanische Sprachrohr der von Francesc Cambó an­geführten bürgerlich-konservativen, katalanisch-nationalistischen Partei Lliga Regionalista. Außer den beiden genannten Zeitungsartikeln veröffentlichte Xammar noch am 23.11.1923 im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch quasi als Ergänzung »von Kahr erklärt den Münchener Putsch« (ebd., S. 142-144). Mehr als einen Monat vorher, am 9.10.1923, hatte er schon in derselben Zeitung, auf Basis eines Fotos, eine kurze, ätzende Charakterisierung Hitlers veröf­fentlicht (ebd., S. 116). ↩︎
  2. Politisch ist von Interesse, dass die mit der Diktatur Primo de Riveras (13.9.1923-28.1.1930) eingeführte Zen­sur in Xammars Beitrag vom 24. November eingriff, indem sie drei Zeilen einer Spalte schwärzen lies. Immer wie­der wurde spekuliert, dass es bei der Streichung um eine Passage zur Vertreibung der Juden aus Spanien ging. Ein weiterer Anlass für Spekulationen ist der Umstand, dass Xammar nach dem 24. November eine Zeit lang nicht mehr für die Veu de Catalunya schrieb, was ohne Belege und ohne Zögern mit dem zensierten Artikel in Verbindung gebracht wird, der ihn seine Stelle gekostet haben soll (González Prada 1998, von Berenberg 2007, Henseleit 2022). Übrigens erschien der Artikel vier Tage später (ohne die Schwärzungen und selbstver­ständlich ohne den unbekannten in La Veu de Catalunya zuvor geschwärzten Text) auf Spanisch in La Correspondencia de Valencia (Xammar 1923, online), einer Zeitung, die zu dem Zeitpunkt die Position der valencianischen Regio­nalisten vertrat, die Francesc Cambó nahestanden. Bei der politischen Beurteilung der Vorgänge innerhalb der Lli­ga Regionalista und ihrer Presseorgane ist zu bedenken, dass viele konservative Katalanisten der Lliga, aber eben nicht alle, die Diktatur Primo de Riveras zumindest anfangs begrüßten (Smith 2010). Innerhalb der Correspondencia de Valencia kam es deswegen sogar zu einer Abspaltung, bei der die Gegner der Diktatur die Redaktion verließen (Eintrag La Correspondencia de Valencia in der Enciclopèdia.cat 2024, online). ↩︎
  3. Im Original: »la peça més controvertida del periodisme català«. ↩︎
  4. Ergänzt sei an dieser Stelle, dass der später sehr berühmte Journalist und Schriftsteller Josep Pla einige Tage später als Xammar, nämlich am 28. November, in der katalanischen Zeitung La Publicitat einen Artikel »Ge­schichten aus Bayern: Hitlers Monolog« veröffentlichte, dessen In­halt ebenfalls das Treffen mit Hitler wiederge­ben soll (Xammar 2007, S. 149-152). »Hitlers Monolog« ist als genau so fiktiv anzusehen wie das »Hitler-In­terview«. Als sicher gilt übrigens, dass Pla kein Deutsch verstand. ↩︎
  5. 1998 wurden zunächst die frühen Artikel Xammars auf Katalanisch unter dem Titel L’ou de la serp veröffent­licht (Xammar 1998). Es folgte im Jahr 2005 die spanische Übersetzung El huevo de la serpiente (Xammar 2005). In deutscher Übersetzung erschien die Aufsatzsammlung unter dem Titel Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924 im Berenberg Verlag (Xammar 2007). Bislang nur auf Spanisch erschien eine Sammlung der für Ahora geschriebenen Beiträge (Xammar 2005) unter dem Titel Crónicas desde Berlín (1930-1936). ↩︎
  6. Über Xammar als Persönlichkeit informieren kurz die online verfügbaren Artikel von Charo González Prada (1998) und Jordi Amat (2019), und etwas ausführlicher die vorzügliche Einleitung von Charo González Prada (2005) zu den Crónicas desde Berlín. ↩︎
  7. Josep Pla charakterisierte Xammar als »un terrible devorador de diarios« (zit. nach González Prada 2005, S. 18.). ↩︎
  8. Zum »Deutschen Kampfbund«, eine Vereinigung paramilitärischer Organisationen, gehörten die SA (Hermann Göring), die Reichsflagge (Adolf Heiß) und der Bund Oberland (Friedrich Weber). Militärischer Führer des Kampfbundes war Oberstleutnant a.D. Hermann Kriebel (1878-1941), das Amt des Geschäftsführers hatte Max Erwin von Scheubner-Richter (1884-1923) inne. Am 25. September 1923 hatte Adolf Hitler die politische Lei­tung des Kampfbunds übernommen (Zelnhefer 2024). ↩︎
  9. Beide, die katalanische und die spanischsprachige Veröffentlichung des Artikels sind online verfügbar (siehe im Literaturverzeichnis Xammar 1923). ↩︎
  10. Die Historikerin Edith Raim, die von der Echtheit des »Interviews« ausgeht, bestätigt indirekt den Eindruck, es mit der Inszenierung eines Schwanks zu tun zu haben. Sie liest aus dem »Interview« heraus, dass Hitler sich am 8.11.1923 den katala­nischen Jour­nalisten gegenüber »aufgeräumt und redselig« äußerte, und sie spekuliert, dass ihn womög­lich »die Aussicht auf die geplante ‚Machtübernahme‘ durch den Putsch zu einem offene­ren Wort animier­te« und die außergewöhnlich deutliche Sprache womöglich damit zusammenhing, dass er in den Spani­ern, die sich als Anhänger des Diktators Primo de Riveras ausgaben, »verwand­te Seelen« erkannte (Raim 2014, S. 58-60). ↩︎
  11. Diese drei Autoren haben explizit die Frage nach der Echtheit des Interviews untersucht. Zweifel an der Echtheit des Interviews finden sich als Nebenbemerkungen auch bei einer Reihe anderer Autoren, etwa bei dem bereits zitierten Jordi Amat (2019). Der Historiker und Medienforscher Guillamet Lloveras schreibt: »Es ist eine plausi­ble Hypothese, dass es sich um ein fiktives Interview handelt« (im Original: »Una hipòtesi versemblant és que es tracti d’una entrevista fictícia« (2022, S. 16f.). Der Historiker Josep Maria Fradera (zitiert in Nopca 2023, online) meint: »Es ist legitim, sich zu fragen, ob das berühmte Interview tatsächlich stattgefunden hat oder nicht« (im Original: »Es lícito pregutarse sí la famosa entrevista se produjo o no«). ↩︎
  12. Im Original: »En fin, una diablura inocente que cuadra con el perfil de Xammar, de Pla y también con el estilo de la época« (Permanyer 2000, S. 2). ↩︎
  13. In der Tat ist es als unwahrscheinlich anzusehen, dass Hitler gerade zwei Fremden gegenüber etwas mit Neuig­keitswert offenbaren sollte. Anders als Sánchez Piñol nahelegt, wird nach der hier vertretenen Meinung (aus­führlich dazu Abschnitt 5) in dem »Interview« aber nichts Neues zur Judenvernichtung kundgetan, sondern aus der bekannten antisemitischen Ideenwelt geschöpft. ↩︎
  14. Es ist schwer zu beurteilen, wie gut Hitler die spanische Geschichte kannte. Erwähnens­wert mag immerhin sein, dass er in »Mein Kampf« die Judenvertreibung der katholischen Könige nicht auf­greift, und sich den spanischen Diktator Primo de Rivera als eine Art Mussolini zurechtlegt: »Ein katalanischer General zog aus gegen Madrid, erst mit einer Brigade, aber es wird eine Division daraus, und endlich liegt ihm das ganze Land zu Füßen. Als er marschiert, ist noch immer nicht ganz Spanien gewonnen, Madrid ist nicht Spanien, aber es wird gewonnen« (Jäckl/Kuhn 1986, S. 1116 (28.2.1924 = Dritter Verhandlungstag im Hitler-Luden­dorff-Prozess). ↩︎
  15. Im Original: »Quin parell. Veuen com eren uns genis? Fins i tot quan l’espifien no pots no parlar d’ells«. ↩︎
  16. Im Original: »[Xammar y Pla] tenían todas las credenciales literarias necesarias para haber reescrito el recuerdo de su entrevis­ta con Adolf Hitler, fuera como fuera este encuentro, fugaz, improvisado, predeterminado, exclusi­vo o con otros periodistas«. ↩︎
  17. Im Original: »[Pero] quizás no se sintieron nunca muy orgullosos de ello. O temían que se les reprochara no ha­ber detectado en el dictador al loco peligroso que ya era«. ↩︎
  18. Nachweisbar hatte die neu errichtete spanische Diktatur bei Alfred Rosenberg, damals Chefredakteur des VB, großes Interesse gefunden, wie ein Tagebucheintrag von Paula Schlier belegt. Diese, eine sozialdemokratisch den­kende Journalistin, hatte sich als Sekretärin im VB einstellen lassen, um undercover Erkenntnisse über die NSD­AP zu gewinnen. Sie notiert in ihrem Tagebuch, dass am 28. Oktober 1923 ein spanischer Anhänger Primo de Riveras in die Redaktion kam und ein intensives Gespräch mit Rosenberg führte: »Heute war ein Spanier da, ein fanatischer Revolutionär, der von dem Umsturz in seiner Heimat Kunde brachte. Er wurde wie ein Fürst emp­fangen und saß im Zimmer des Chefredakteurs. R. hatte mich rufen lassen, damit ich Wichtiges aus der Er­zählung des Spaniers mitstenographiere. […] Während der Erzählung des Spaniers schien es mir, als werde es dem Chefredakteur immer leichter und freier zu Mute. Er stand auf, schüttelte dem Spanier die Hand. Seine Iro­nie war geschwunden. Er sagte nicht: Spaniens Revolution wird uns ein Ansporn sein, aber es sprach aus dem Blick, mit dem er dem fremden Herrn, ihn zur Tür geleitend, bedeutsam in die Augen sah.« (Schlier 2018, Kind­le-Version, S. 85). ↩︎
  19. In diesem Zusammenhang sind die Aufzeichnungen Leo Lanias von Interesse. Ebenfalls im Oktober 1923 hatte sich dieser politisch links stehende, ausgezeichnet Italienisch sprechende Journalist ebenfalls undercover mit ei­nem selbst gefälschten Empfehlungsschreiben von Mussolinis Bruder als »Verbindungsmann zwischen faschis­tischer Partei und der ‚deutschen Bruderbewegung’« in der Redaktion des VB vorgestellt (Lania 1954, S. 227). Er wurde vorzüglich behandelt, bekam einen Dolmetscher, führte Gespräche mit Hitler und weiteren Nazi-Grö­ßen, bevor er nach acht Tagen enttarnt wurde und nur knapp mit dem Leben davon kam. Seine Erfahrung belegt das überaus große Interesse der Nationalsozialisten an Kontakten mit den italienischen Faschisten. Zu Hitler schreibt er auf Basis seiner Begegnungen: »seine [Hitlers] Überzeugung von seiner Mission und seiner Größe, die war unbedingt echt. In diesem Punkt war er ehrlich. Und in seinem Antisemitismus.« (1954, S. 227). Lania verstand auch, dass Hitler eine künftige Machteroberung mit dem Ziel der Militarisierung Deutschlands und ei­nem neuen Krieg verband. Lania schrieb über sein Abenteuer und seine Erkenntnisse wenig später in der »Vos­sischen Zeitung«. ↩︎
  20. Die Ablehnung von Pogromen findet sich explizit in folgenden Dokumenten: (1) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 61: München, 16. September 1919: Brief an Adolf Gemlich = Gutachten über den Antisemitismus erstellt im Auftrag seiner militärischen Vorgesetzten, S. 88-90f. (2) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 91: München, 6. April 1920: Diskussionsbeitrag auf einer NSDAP-Versammlung, S. 119f. (3) Jäckel/Kuhn 1986, Dokument Nr. 136: München, 13. August 1920: Rede auf einer NSDAP-Versammlung »Warum sind wir Antisemiten«, S. 184-204. ↩︎
  21. Aus der aktuellen Verlagsbeschreibung (Acantilado 2024): »Viajaron [Xammar und Pla] juntos a Renania y a Baviera, desde donde describieron entre otras cosas los consejos de guerra franceses a ciudadanos alemanes poco dispuestos a colaborar o el frustrado golpe de Estado de Hitler en una cervecería de Múnich, así como una turbadora entrevista que mantuvieron con el futuro dictador en una época tan temprana como 1923, en la que és­te ya prefigura el holocausto«. ↩︎
  22. Und wenn Xammar, so eine weitere Überlegung Espadas, das »Interview« erfunden hätte, dann hätte ja der Journalist die Endlösung prophetisch vor­ausgesagt. Diese Sichtweise ist vom Text her, aber auch von der Inten­tion Xammars nicht gedeckt. Xammar wollte nicht von einer düsteren Zukunft raunen, sondern, so die hier vor­geschlagene Sichtweise, seiner Leserschaft vor Augen führen, dass die Ansichten Hitlers zum Judenproblem zwar entsetzlich, aber auch »äußerst erheiternd« wären (Xammar 2007, S. 148) und Hitler nicht ernst zu nehmen sei. ↩︎
  23. Roman Töppel, der untersucht hat, welche zeitgenössischen Antisemiten Hitlers Rassedenken in besonderer Weise beeinflusst haben, nennt Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Julius Langbehn, Heinrich Claß, Theodor Fritsch, Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz sowie Paul Bang, Dietrich Eckart, Otto Hauser, Hans F. K. Günther und Alfred Rosenberg (Töppel 2016, S. 31). ↩︎
  24. Töppel weist (2016, S. 21) auch darauf hin, dass »Jude« und »jüdisch« letztendlich zu Chiffren werden für alles, was die Nationalsozialisten bekämpften. Und in der Tat sind die Kombinationen von Judentum mit Marxismus, Pazi­fismus, Demokratie vielfach anzutreffen. Dazu ein Beispiel: »Deutschland wird nur leben können, wenn der Saustall jüdischer Korruption, demokratischer Heuchelei und sozialistischen Betrugs mit eisernem Besen ausge­fegt wird« (Völkischer Beobachter vom 15. Mai 1921, abgedruckt in Jäckel/Kuhn 1986, S. 393f.). ↩︎
  25. Das erste Auslandsinterview überhaupt gab Hitler dem Auslandskorrespondenten Karl von Wiegand, das am 13. November 1922 in The Bridgeport Telegram erschien (Domeier 2021, S. 350). Der Korrespondent der Tageszei­tung ABC in Berlin, Javier Bueno García, der seine Artikel mit Azpeitua zeichnete, veröffentlichte am 6. April 1923 das vermutlich erste Interview mit Hitler in einer spanischen Zeitung (Pla Barbero 2018, online). ↩︎
  26. Im Original: »The Jews are not German. They are an alien people in our midst, and manifest themselves as such […] We are like a consumptive, who does not realize that he is doomed unless he expels the microbes from his lungs. Nations, like individuals, are apt to dance most wildly when they are nearest the abyss. Hence, I say, we need violent correctives, strong medicine, maybe amputation. […] We wish to purge ourselves from the Jews not because they are Jews, but because they are a disturbing influence.« ↩︎
  27. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse am 8.11.1923 wurde in erster Linie auf die akri­bische Arbeit von Bern­hard Wien zu den Putschversuchen des Jahres 1923 zurückgegriffen (Wien 2023). Anzumerken ist gleich­wohl, dass bislang keine konsolidierte, von der Forschergemeinschaft anerkannte minutiöse Chronologie von Hitlers Tagesablauf vorzuliegen scheint. ↩︎
  28. Hitler hatte Esser zwar erst vor ein paar Stunden gesprochen, aber das schließt nicht aus, dass er dem »gesund­heitlich Angeschlagenen« (Wien 2023, S. 311) einen Besuch abstattete. Jedenfalls steht fest, dass Esser am 8.11.1923 auf unterschiedliche Weise mittat, etwa bei der den Putsch flankierenden Propagandaarbeit (ebd., S. 307f.) oder als Redner abends im Löwenbräukeller (ebd., S. 311f.). ↩︎
  29. Das Geschehen in der Redaktion am Abend des 8.11. und am Folgetag hat Paula Schlier in ihrem Tagebuch an­schaulich beschrieben und später auch veröffentlicht (Schlier 2018). ↩︎
  30. Im Wikipedia-Eintrag zu Eduard Dietl (Wikipedia: Eduard_Dietl 2024) heißt es, dass dieser seit dem Frühjahr 1923 die Münchner SA militärisch ausbildete, und dass am Abend des 8. November 1923 eine Nachtausbildung von Einheiten der SA, des Bundes Oberland und des Hermannbundes stattfinden sollte. Ein Treffen Hitlers mit Dietl am Nachmittag vor dem geplanten Putsch, bei dem Truppen des Kampfbundes zum Einsatz kommen soll­ten, anzunehmen, ist plausibel. ↩︎
  31. Übrigens setzte Xammar selbst eine Falschmeldung über den Aufenthalt Hitlers am Nachmittag des 8.11.1923 in die Welt, indem er in seinem Artikel vom 23. November »von Kahr erklärt den Münchener Putsch« schrieb, Hit­ler habe zu der Zeit an einer Sitzung mit von Kahr teilgenommen. Dem war nachweislich nicht so. Der Sach­verhalt ist kompliziert und nur am Rande interessant. Der Artikel Xammars beruht auf einer gut dokumentierten Erklä­rung des Generalstaatskommissari­ats vom 9.11.1923 und einer weiteren Erklärung auf einer Pressekonfe­renz vom 10.11.1923, an der Xammar teil­nahm. Xammar gibt von Kahr wie folgt wieder: »Noch am Nachmit­tag des achten November habe ich mich mit Vertretern der vaterländischen Vereine und Gesellschaften zu einem letzten Ge­spräch getroffen.« Dort argumen­tierte von Kahr, dass es für eine direkte Aktion zu früh sei, und fuhr fort: »Das ist meine Ansicht, und nachdem ich sie kundgetan hatte, zeigten sich alle Anwesenden, darunter Hit­ler und Lu­dendorff, einverstanden«. Von Kahr bezieht sich in seiner Verlautbarung aber auf eine Versammlung vom 6. No­vember. Dort heißt es wörtlich: »Ich hatte zwei Tage vor der Versammlung, die durch Hitlers Überfall gestört wurde, eine eingehende vertrau­ensvolle Aussprache mit allen Vertretern und Führern der bayrischen va­terländischen Verbände; auch Hitler und der militärische Führer des Kampfbundes waren anwesend« (Bischel 2023, S. 68 – Erklärungen auf der Presse­konferenz des Generalstaatskommissariats am 10. November 1923). Es ging also um den Nachmittag des 6. No­vember. Dazu kommt, was Xammar nicht wissen konnte, dass das Gene­ralstaatskommissariat später, am 10. De­zember, sogar eingestehen musste, »dass Hitler bei der Aussprache nicht anwesend war« (Bischel 2023, S. 105). Pla Barbero (2018 online) nimmt auf Basis des irreführenden Artikels von Xammar an, Hitler habe am 8.11. nach­mittags an jener Sitzung teilgenommen und habe deshalb bloß am Morgen des 8.11. Zeit gehabt, um sich mit Xammar und Pla zu treffen. ↩︎
  32. »Morgen werden wir seine wirtschaftlichen und politischen Ideen darstellen« (Xammar 2007, S. 148), lautet eine Ankündigung am Ende des »Interviews«. Zu dem Artikel kommt es aber nicht, so die Herausgeber des Bandes, weil Xammar nach dem ersten Teil des »Interviews« nicht weiter bei der Veu de Catalunya beschäftigt wurde (ebd., S. 148). ↩︎
  33. Weitere Rezensionen, die ebenfalls die Echtheit des Interviews annehmen, stammen von Sabine Fröhlich (NZZ v. 8.10.2007), Marie Luise Knott (taz v. 13.10.2007), Rainer Hank (FAZ v. 3.6.2008), Wolfgang Benz (Zeit­schrift für Geschichtswissenschaft 2007), o.A. (Cicero 2007) und dem Nachzügler Armin Fuhrer (Focus 3.6.2022). ↩︎
  34. Eine ausführliche Besprechung dieses Buches erfolgte im Spanienecho (Böhle 2024). ↩︎
  35. Im Original: »Aquell vespre Josep Pla i jo ens fèiem passar la set al celler de la Franziskaner Bräu […]. Deia, doncs, que aquell vespre, mentre Josep Pla i jo ens fèiem passar la set a la Franziskaner Bräu, en un altre celler de Munic ―el de la Hofbräu, si no vaig errat― passaven coses grosses. Efímeres, però grosses. Exactament, un cop d’Estat organitzat per una munió bigarrada de grups i grupets de dreta, públics i clandestins, al davant de la qual s’havien posat tres grans personatges: el general Ludendorff, primer lloctinent del mariscal Von Hindenburg du­rant la guerra, el cap del govern bavarès Von Kahr, i la jove estrella del patriotisme germànic delirant, Adolf Hit­ler. En ficar-nos al llit Josep Pla i jo, aquella nit del 9 de novembre era més aviat freda, ni ell ni jo no sospitàvem que fos històrica. Ho fou, segons llegírem als diaris de l’endemà d’una manera espectacular« (Xammar 1991, S. 265f.). ↩︎
  36. In der Arbeit von Gary Klein (1997) wird ein Kapitel dem Echo und der journalistischen Verarbeitung des Put­sches in drei Zeitungen nachgegangen: New York Times, Chicago Daily Tribune, Chicago Daily News. Nach Klein war Ludendorff weit mehr als Hitler dem schonungslosen Spott und Hohn der amerikanischen Presse aus­gesetzt (S. 18). In einer Karikatur wird dieser, nicht Hitler (wie bei Xammar) als »Diktator für einen Tag« aus­gemalt. Katherine Blunt (2015) untersuchte die Einschätzung Hitlers vonseiten der New York Times, The Chris­tian Science Monitor und The Washington Post vor und nach dem Hitlerputsch (1923-1924). Sie fand heraus, dass Hitler nach dem gescheiterten Putsch nicht mehr recht ernst genommen wurde und sein späterer Aufstieg umso überraschender für viele US-Amerikaner kam. ↩︎

Verwendete Literatur

Acantilado: Verlagstext zu E. Xammar: El huevo de la serpiente: online: https://www.acantilado.es/catalogo/el-huevo-de-la-serpiente/ [zuletzt überprüft am 14.4.2024].
Amat, Jordi: El hombre tras el mito. La Vanguardia vom 14.06.2019; online: https://www.lavanguardia.com/edicion-impresa/20190614/462866908349/el-hombre-tras-el-mito.html [zuletzt über­prüft am 15.04.2024].
ders.: Munich: de la revolución al nazismo. La Vanguardia vom 29.09.2019; online: https://www.lavanguardia.com/cultura/culturas/20190929/47652660580/hitler-primera-guerra-mundial.html [zuletzt überprüft am 14.6.2024]
Bein, Alexander: Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 6(1958)4, S. 340-360.
Benz, Wolfgang: Eugeni Xammar: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922-1924. Berlin 2007. (Rezension von Xammar 2007). Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 55 (2007), 12, S. 1054-1055.
Berenberg, Heinrich von: Einleitung. In: Xammar, Eugeni: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Berlin 2007, S. 7- 13.
Bischel, Matthias (Hg.): Generalstaatskommissar Gustav von Kahr und der Hitler-Ludendorff-Putsch. Dokumente zu den Ereignissen am 8./9. November 1923. Verlag C.H. Beck: München 2023.
Blunt, Katherine: Yesterday’s News: Media Framing of Hitler’s early years, 1923-1924. In: The Elon Journal of Undergraduate Research in Communications, Vol 6, No. 1, Spring 2015, S. 92-104.
Böhle, Knud: Eine Momentaufnahme mit Tiefenschärfe. Wie ein spanischer Sonderkorrespondent die NS-Diktatur bereits im Mai 1933 durchschaute (Rezension von Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hankreu­zes. Kupido Literaturverlag: Köln 2022). In: Spanienecho 15.2.2024, online: https://spanienecho.net/2024/02/15/manuel-chaves-nogales-deutschland-im-zeichen-des-hakenkreuzes/ [zuletzt überprüft am 03.05.2024].
Conradi, Peter: Hitlers Klavierspieler. Ernst Hanfstaengl: Vertrauter Hitlers, Verbündeter Roosevelts. Scherz: Frankfurt am Main 2007.
Dipper, Christof: Der Hitler-Putsch und die Rolle des italienischen Faschismus. In: Nicolai Hannig und Detlev Ma­res (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. wbg Academic: Darmstadt 2022, S. 30-43 (hier: S. 31).
Domeier, Norman: Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im »Dritten Reich«. Wallstein: Göttingen 2021.
Enciclopèdia.cat: La Correspondencia de Valencia, online: https://www.enciclopedia.cat/gran-enciclopedia-catalana/la-correspondencia-de-valencia [zuletzt überprüft am 6.5.2024].
Espada, Arcadi: Una exclusiva (e)vidente. El País vom 28.11.2005; online: https://elpais.com/diario/2005/11/28/catalunya/1133143641_850215.html [zuletzt überprüft am 17.04.2024].
Feder, Ernst: Das Ende der Hanswurstiade, in: Berliner Tageblatt, 10.11.1923, S. 1f.
Fröhlich, Sabine: Eine Welt voller Affen. Reportagen des Katalanen Eugeni Xammar aus der Weimarer Republik. (Rezension von Xammar 2007). NZZ vom 8.10.2007, Nr. 233, S. 53.
Fuhrer, Armin: Wenige Stunden vor seinem Putsch gab Hitler ausländischen Journalisten ein Interview. Focus vom 3.6.2022; online: https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/ein-dummkopf-voller-tatendrang_id_87292976.html [zuletzt überprüft am 14.04.2024].
Guillamet Lloveras, Jaume: El periodisme català contemporani. Diaris, partits polítics i llengües, 1875-1939. Insti­tut d’Estudis Catalans: Barcelona 2022.
Görtemaker, Manfred: Rudolf Hess. Der Stellvertreter. C. H. Beck Verlag: München 2023.
González Prada, Charo: El soplo frio de las palabras. El País vom 22.12.1998; online https://elpais.com/diario/1998/12/22/catalunya/914292463_850215.html [zuletzt überprüft am 20.5.2024].
dies.: Introducción. In: Xammar, Eugenio: Crónicas desde Berlín (1930-1936). El Acantilado: Barcelona 2005, S. 13-39.
Gordon, Harold J.: Hitlerputsch 1923. Machtkampf in Bayern 1923 – 1924. Bernard & Graefe Verlag für Wehrwe­sen: Frankfurt am Main 1971.
Hanfstaengl, Ernst: Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außenseiters. Piper Ver­lag: München 1970.
Hank, Rainer: Finanzministers Wollust. (Rezension von Xammar 2007). FAZ vom 3.6.2008, Nr. 127, S. 34; online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/finanzministers-wollust-1549887.html [zuletzt überprüft am 17.04.2024].
Henseleit, Frank: Eugeni Xammar und Josep Pla erfinden ein ‚Interview‘ mit Adolf Hitler – eine Farce. In ders.: Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe von Chavez Nogales, Manuel: Deutschland im Zeichen des Ha­kenkreuzes. Kupido: Köln 2022, S. 29-35.
Institut für Zeitgeschichte: Hitler, Mein Kampf, eine kritische Edition; herausgegeben von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser. Band I und II. Institut für Zeitgeschichte: München 2016. Die Onlineausgabe ent­spricht der dreizehnten Auflage der Printausgabe von 2022: https://www.mein-kampf-edition.de/.
Jäckel, Eberhard, und Kuhn, Axel (Hrsg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924. Deutsche Verlags-An­stalt, Stuttgart 1986
‒ Dokument Nr. 61: München, 16. September 1919: Brief an Adolf Gemlich = Gutachten über den Antisemi­tismus erstellt im Auftrag seiner militärischen Vorgesetzten, S. 88-90f.
‒ Dokument Nr. 91: München, 6. April 1920: Diskussionsbeitrag auf einer NSDAP-Versammlung, S. 119f.
‒ Dokument Nr. 136: München, 13. August 1920: Rede auf einer NSDAP-Versammlung »Warum sind wir Antisemiten«, S. 184-204.
‒ Dokument Nr. 578: Interview mit George Sylvester Viereck veröffentlicht in The American Monthly vom Oktober 1923, S. 1023-1026.
‒ Dokument Nr. 239: München 15. Mai 1921. »Pollakenbüttelgemeinheiten«. Aufsatz im Völkischen Beob­achter, S. 393-394.
‒ Dokument Nr. 607: München, 28.2.1924. Vor dem Volksgericht. Dritte Verhandlungstag, S. 1109-1120.
Jansen, Christian: Rassistischer und eliminatorischer Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert. Hartwig von Hundt-Radowskys »Judenspiegel« (1819). In: Uffa Jensen u.a. (Hg.): Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011, S. 25-34.
Klein, Gary A.: The American press and the rise of Hitler, 1923-1933. London School of Economics and Political Science: London 1997; online: http://etheses.lse.ac.uk/1459/1/U105259.pdf [zuletzt überprüft am 17.04.2024].
Knott, Marie Luise: Bayern braucht einen Diktator. (Rezension von Xammar 2007). taz, Ausgabe 8402 vom 13.10.2007; online: https://taz.de/Bayern-braucht-einen-Diktator/!227110/ [zuletzt überprüft am 17.04.2024].
Lania, Leo: Welt im Umbruch. Forum Verlag: Frankfurt, Wien 1954.
Leugers, Antonia: »Kardinal Faulhaber zeigt ein zwiespältiges Wesen.« Beobachtungen zu den Jahren 1923/24 und 1933/34. In: theologie.geschichte, Band 9, 2014. online: https://theologie-geschichte.de/ojs2/index.php/tg/article/view/717/762 [zuletzt überprüft am 15.04.2024].
Lützenkirchen, H.-Georg: Reportagen über eine Republik im Überlebenskampf (Rezension von Xammar 2007) in Literaturkritik.de v. 22.10.2007; online https://literaturkritik.de/id/11249 [zuletzt überprüft am 30.04.2024].
Mix, Andreas: Ein Katalane im Bürgerbräukeller. Eugeni Xammar blickt auf das Deutschland der Inflationszeit und spricht mit Hitler. (Rezension von Xammar 2007). Berliner Zeitung, Ausgabe 236 vom 10.10.2007, S. L05 (Sonder­beilage Frankfurter Buchmesse).
Morató, Yolanda: Manuel Chaves Nogales. Los años perdidos (Londres, 1940-1944). Renacimiento: Valencia 2023.
Nopca, Jordi: El día que Josep Pla conoció a Adolf Hitler. In: Ara vom 27.10.2023; online https://es.ara.cat/misc/dia-josep-pla-conocio-adolf-hitler_130_4839845.html [zuletzt überprüft 03.05.2024].
NSDAP: Das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (vom 24. Februar 1920; online http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html.
o.A.: Eugeni Xammar: Das Schlangenei (Rezension von Xammar 2007). Cicero (o.J.); online: https://www.cicero.de/kultur/eugeni-xammar-das-schlangenei/43698 [zuletzt überprüft am 17.04.2024].
Permanyer, Lluís: Xammar, Pla y Hitler. La Vanguardia (Beilage: Vivir en verano) vom 25.08.2000, S. 2; online: http://hemeroteca.lavanguardia.com/preview/2000/08/25/pagina-2/34098376/pdf.html [zuletzt überprüft am 17. April 2024].
Piper, Ernst: »Ein gewaltiger, großartiger Dummkopf« (Rezension von Xammar 2007). Tagesspiegel vom 7.1.2008; online: https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/ein-gewaltiger-grossartiger-dummkopf-1595479.html [zuletzt überprüft am 17.04.2024].
Pla Barbero, Xavier: Un golpe de Estado en una cervecería: la entrevista de Eugeni Xammar y Josep Pla a Hitler (Múnich, noviembre 1923). In: Cuadernos Hispanoamericanos (2018), S. 195-214. Online: https://cuadernoshispanoamericanos.com/un-golpe-de-estado-en-una-cerveceria/ [zuletzt überprüft am 14.04.2024].
Raim, Edith: Textkritische Überlegungen zu einer wissenschaftlich-kritischen Edition von Hitlers »Mein Kampf«“. In: Militärgeschichtliche Editionen heute: neue Anforderungen, alte Probleme? hsg. von Dorothee Hochstetter. Potsdam: ZMSBw, 2014 (Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte; Band 25), S. 49 – 62.
Reinicke, Wolfgang: »Denn wenn es einmal zu spät ist …«. Der Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8./9. November 1923 aus jüdischbayerischer Perspektive, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 12 (2018), 23, S. 1–18, online: http://www.medaon.de/pdf/medaon_23_reinicke.pdf [zuletzt überprüft am 14.04.2024].
Reusch, Wera: Deutsche Innenansichten eines Spaniers. (Rezension von Xammar 2007). Deutschlandfunk vom 4.10.2007; online: https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-innenansichten-eines-spaniers-100.html [zuletzt über­prüft am 17.04.2024].
Rue, Larry: Tribune Man Gives First Eyewitness Story of Ludendorff’s Ill-fated Bavarian Coup. Chicago Tribune 11. November 1923.
Sánchez Piñol, Albert: Mèrit i misteri. In: Avui Cultura, 21. März 2009, S. 5; online: https://traces.uab.cat/record/64461 [zuletzt überprüft am 14.04.2024].
Schäfer, Peter: Kurze Geschichte des Antisemitismus. C.H. Beck: München 2000.
Schieder, Wolfgang: Ein faschistischer Diktator. Adolf Hitler ‒ Biografie. Wbg Edition: Darmstadt 2023.
Schlier, Paula: Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Otto Müller: Salzburg 2018.
Smith, Angel: The Lliga Regionalista, the Catalan Right and the Making of the Primo de Rivera Dictatorship, 1916–23. In: Salvadó, F.J.R., Smith, A. (Hg.): The Agony of Spanish Liberalism. Palgrave Macmillan: London 2010, S. 145-174.
Stänner, Paul: Mit den Augen eines Fremden. (Rezension von Xammar 2007). Deutschlandfunk Kultur vom 7.2.2008; online: https://www.deutschlandfunkkultur.de/mit-den-augen-eines-fremden-100.html [zuletzt überprüft am 30.04.2024].
Töppel, Roman: »Volk und Rasse«: Hitlers Quellen auf der Spur. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 64. Jahrg., H. 1 (Januar 2016), S. 1-35.
Ullrich, Volker: Als sich das Geld in Luft auflöste. Eine Entdeckung: Die Reportagen des spanischen Journalisten Eugeni Xammar aus der deutschen Inflation. (Rezension von Xammar 2007). DIE ZEIT, Nr. 41 / Literaturbeilage v. 4.10.2007.
ders. : Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund. Verlag C.H. Beck: München 2022.
Welzbacher, Christian: Trenchcoat mit Schnurrbart. Er hat Hitler vor dem Putsch interviewt: Eugeni Xammars sachliche Berichte aus dem Deutschland der Inflationszeit. (Rezension von Xammar 2007). Süddeutsche Zeitung v. 9.10.2007.
Wien, Bernhard: Geschichte der Putschversuche des Jahres 1923. Die Dilettanten Hitler, Ludendorff und Buchru­cker. Deutscher Wissenschafts-Verlag: Baden-Baden 2023.
Wikipedia: Endlösung der Judenfrage. Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Endlösung_der_Judenfrage [Stand 14.04.2024; zuletzt überprüft 14.04.2024].
Xammar, Eugeni: Adolf Hitler o la ximpleria desencadenada. La Veu de Catalunya vom 24. November 1923; on­line erhältlich über: https://www.bnc.cat/digital/veu_catalunya/index.html (oder direkt im Blog »Repescant el pas­sat« von Eugènia de Pagès i Bergés vom 27.10.2014 https://repescantelpassat.cat/325/) [zuletzt überprüft am 25.04.2024].
ders.: Hitler o la simpleza desencadenada. La Correspondencia de Valencia vom 27. November 1923, S. 1; online erhältlich über die Biblioteca Virtual de la Prensa historica:
https://prensahistorica.mcu.es/es/publicaciones/numeros_por_mes.do?idPublicacion=2958&anyo=1923 [zuletzt überprüft am 20.06.2024].
ders.: Seixanta anys d’anar pel món. Editorial Pòrtic: Barcelona 1974-1975.
ders. Seixanta anys d’anar pel món: converses amb Josep Badia i Moret. Quaderns Crema: Barcelona 1991 (Wie­derauflage).
ders.: L’ou de la serp; presentació de Charo González Prada. Quaderns Crema: Barcelona 1998.
ders.: El huevo de la serpiente; traducció d’Ana Prieto Nadal; presentación de Charo González Prada. El Acantila­do: Barcelona 2005.
ders.: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Aus dem Katalanischen von Kirs­ten Brandt. Berenberg Verlag: Berlin 2007.
ders.: Crónicas desde Berlín (1930-1936); selección y presentación de Charo González Prada. El Acantilado: Barce­lona 2005.
Zelnhefer, Siegfried: Deutscher Kampfbund, 1923. In: Historisches Lexikon Bayerns; online: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutscher_Kampfbund,_1923 [zuletzt überprüft am 25.04.2024]


Eugeni Xammar: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924.
Berenberg Verlag: Berlin 2007; ISBN: 9783937834238.

  • Der Putsch als Spektakel, S. 134f.
  • Adolf Hitler oder die entfesselte Dummheit, S. 145-148


Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes

Eine Momentaufnahme mit Tiefenschärfe. Wie ein spanischer Sonderkorrespondent die NS-Diktatur bereits im Mai 1933 durchschaute

Rezension von Knud Böhle


1. Die Reportage im Kontext

1.1 Erste Einordnung als frühe kritische Analyse der NS-Diktatur

Manuel Chaves, stellvertretender Direktor und Chefredakteur der Zeitung AHORA, war im Frühjahr 1933 als Sonderkorrespondent in Nazideutschland unterwegs.1 Seine Reportage aus Nazideutschland wenige Wochen nach der Machtergreifung ist ohne Frage dasjenige seiner Werke, welches ein deutsches Publikum heute noch direkt angeht.

Die Reportage bietet ein beeindruckend komplexes Bild der sich etablierenden Naziherrschaft und ihrer ideologischen und machtpolitischen Instrumente. Spezifisch kommt hinzu, dass der Autor seine Beobachtungen und Erkenntnisse mit journalistischen Mitteln so aufbereiten musste, dass seine spanischen LeserInnen seine Berichte als spannend, verständlich und überzeugend empfinden konnten.

Die meisten Einsichten haben noch heute Bestand. Es kommt aber gar nicht darauf an, ob Manuel Chaves bei allen Einschätzungen richtig lag. Der besondere Wert der Reportage liegt heute darin, dass sie eine authentische Momentaufnahme dessen bietet, was ein wacher Geist damals beobachten und schlussfolgern konnte. Sie ist als eine der frühen kritischen Analysen des gerade an die Macht gekommenen Nationalsozialismus zu bewerten.2

Die Reportage wirkt derart gut durchkomponiert, dass man bei der Lektüre des Buches leicht vergessen könnte, dass die Artikel zunächst Einzelstücke waren, die nach und nach während der mehrwöchigen Deutschlandreise entstanden. Technisch gesehen wurden die einzelnen Beiträge per Telefon an die Redaktion in Madrid übermittelt und dabei in Echtzeit von hoch professionellen Schreibkräften verschriftlicht. Anschließend erfolgte die satztechnische Bearbeitung und die Text-Bild-Integration (Gonzáles 2005, S. 21).

Was nun als Buch in deutscher Übersetzung vorliegt, war ursprünglich eine Folge von 13 Artikeln, die zwischen dem 14.5. und dem 28.5.1933 in der Madrider Tageszeitung AHORA. Diario gráfico abgedruckt wurden. AHORA, 1930 gegründet, war während der Zweiten Spanischen Republik (1931-1939) eine wichtige, bürgerlich-liberale Madrider Tageszeitung, die eine Leserschaft von etwa 100.000 erreichte. Sie stand den Ideen und der Politik des damaligen Regierungschefs, Manuel Azaña, nahe.3

Der Zusatz diario gráfico weist auf die zahlreichen Abbildungen im Tiefdruckverfahren hin, die zu den Besonderheiten der Zeitung gehörten. Text und Bild gehören zusammen. Das gilt auch für die Reportage von Manuel Chaves. Die Fotos, die der Autor zum Teil selbst schoss, die zum größeren Teil aber aus anderen Quellen stammen, beglaubigen und veranschaulichen, was im Text ausgeführt wird. Es ist ein Verdienst der vorliegenden deutschen Ausgabe, dass in ihr die meisten Fotos der Reportage enthalten sind. Etwas verallgemeinernd lässt sich sagen, dass eine typische Lieferung eine Doppelseite der Tageszeitung füllte. In den Text waren vier bis fünf Fotos mit erläuternden Bildunterschriften montiert.

Legende: Beispiel der Text-Bildintegration anhand des Artikels zur »conquista de la juventud« (Eroberung der Jugend). Quelle: AHORA, Ausgabe Nr. 761 vom 23. Mai 1933 (digitalisiert zugänglich in der Biblioteca Digital Memoria de Madrid (siehe Anmerkung 3).

1.2 Journalistische Qualitäten der Reportage

Mit journalistischem Spürsinn, innerer Distanz zur Nazi-Ideologie und der Außenperspektive eines demokratischen Beobachters gelingt es Manuel Chaves, wesentliche Erfolgsbedingungen und Funktionsprinzipien der sich etablierenden Diktatur zu durchschauen und anschaulich erzählend zum Ausdruck zu bringen. Manuel Chaves wirkt nie belehrend, prahlt nicht mit seinem Wissen, argumentiert nicht theoretisch, sondern stets aus der beobachtbaren Praxis und seinen Erfahrungen heraus.4

Zu den zurückliegenden Erfahrungen, die seinen Blick für die Verhältnisse in Deutschland geschärft haben, gehören die Jahre der Diktatur in Spanien unter General Primo de Rivera in Spanien (1923-1930) und die auf Reisen erworbenen Kenntnisse über die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion und im Italien Mussolinis.

Anders als zahlreiche Beobachter zu der Zeit, nimmt er zwei lange vor der Machtergreifung schon artikulierte Ziele Hitlers und des Nationalsozialismus ernst: Krieg und Eliminierung der Juden. Von daher kommt bei seinen Recherchen dem Sammeln von Nachweisen für die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie für die beginnende »methodische Ausrottung der Juden« eine zentrale Bedeutung zu.

Den weiteren Bezugsrahmen seines Erkenntnisinteresses bildet der sichtbare Vormarsch und der Erfolg faschistischer Bewegungen in Europa und die damit verbundene Frage, ob darin eine Bedrohung für die 1931 ausgerufene spanische Republik liegt. Vor Augen zu führen, was ein Leben im Zeichen des Hakenkreuzes als Leben in einem totalitären System bedeutet, dürfte auf die meisten LeserInnen der AHORA abschreckend gewirkt haben. Dabei ist im Hinterkopf zu behalten, dass es in Spanien zu der Zeit schon eine rechte und rechtsextreme Presse gab, die ein durchaus anderes Bild des Nationalsozialismus zeichnete.

Bei seiner Reportage zieht Manuel Chaves alle Register des Journalismus: mal dominieren Fotos den Text, mal werden akribisch Zahlen und Daten zusammengetragen, dann wieder wird eine Anekdote oder eine anrührende Szene geschildert. Die Begehung eines Lagers von Arbeitsfreiwilligen wird minutiös dokumentiert und reflektiert. Zitate aus Gesprächen mit »durchschnittlichen Deutschen« und ranghohen Funktionsträgern sowie öffentliche Aussagen von Nazi-Größen werden eingeflochten. Ein Interview mit Joseph Goebbels steht im Mittelpunkt eines anderen Artikels. Reflexionen über den Charakter der Deutschen werden angestellt und verschiedentlich eingestreut, ein dystopisches Szenario einer nationalsozialistischen Zukunft mit in Serie gefertigten kleinen Ariern wird entworfen. Vergleiche Deutschlands mit Spanien werden in Form von Gedankenspielen durchexerziert: Was würde diese oder jene Maßnahme, auf die spanischen Verhältnisse übertragen, konkret bedeuten. Zudem werden damals aktuelle deutsch-spanische Themen, die die spanische Öffentlichkeit bewegten, aufgegriffen (z.B., ob es heimlich Waffenlieferungen an Nazideutschland gab oder wie sich die spanische Botschaft in Berlin gegenüber deutschen Juden verhielt, die emigrieren wollten).

1.3 Der Beitrag von Eugeni Xammar

AHORA hatte seit 1930, ihrem Gründungsjahr, einen ständigen Auslandskorrespondenten mit Sitz in Berlin: Eugeni Xammar. Er war seit 1922 schon als Korrespondent für unterschiedliche Zeitungen in Deutschland tätig gewesen (González Prada 2005, S. 20). Xammar, übrigens seit 1922 mit der aus Neumünster stammenden Amanda Fürstenwerth verheiratet, war nachweislich ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Geschichte und Politik. Er war zudem Presseattaché der spanischen Botschaft und Vizepräsident des Vereins der Auslandspresse in Deutschland (VAP).5

Xammars genaue Kenntnisse der Anfänge und des Aufstiegs der NSDAP und ihrer Politik seit der Machtergreifung, sein persönliches Netzwerk sowie die Kontakte über die spanische Botschaft und den VAP sind Ressourcen, die Manuel Chaves nutzen konnte. Dazu kommen Xammars perfekte Deutschkenntnisse. 1951 erschien übrigens, was als Beleg gelten mag, seine Übersetzung des Dr. Faustus von Thomas Mann ins Spanische (Buenos Aires Ed. Sudamericana), die bis heute immer wieder neu aufgelegt wurde. Manuel Chaves dagegen verfügte bestenfalls über rudimentäre Deutschkenntnisse, »… und es ist ganz und gar rätselhaft, wie er mit der Bevölkerung in Kontakt trat, konnte er doch überhaupt kein Deutsch – das wäre jedenfalls neu« (Henseleit 2022, S. 21). Xammar wird zumindest bei einigen Terminen, die Chaves wahrnahm, dabei gewesen sein. Auch das Zustandekommen des Interviews mit Goebbels, einer der auch historisch relevanten Höhepunkte der Reise, ist ohne die Mitwirkung Xammars kaum denkbar. Beide Journalisten schätzten sich, und eine gemeinsame Reise ins faschistische Italien lag gerade erst zurück (González Prada 2005, S. 21). Die Leser der AHORA profitierten von dieser Zusammenarbeit. Sie wurden durch Xammar und Manuel Chaves über Vorgänge in Nazideutschland informiert: durchgehend über die Kolumne Xammars und im Mai 1933 zusätzlich durch die mehrteilige Reportage von Manuel Chaves.

1.4 Relevanz der Reportage für die Geschichtswissenschaft

Das Buch ist aus drei Gründen für die Geschichtswissenschaft interessant. Erstens als Zeitzeugendokument und Augenzeugenbericht, etwa vom Besuch des FAD-Lagers Biesenthal (FAD = Freiwilliger Arbeitsdienst; den Reichsarbeitsdienst, RAD, gab es erst ab Juni 1935) nordöstlich von Berlin, dessen Militarisierung durch die Nazis Manuel Chaves dokumentierte. Zweitens enthält die Berichterstattung aus Deutschland in der Nr. 760 der Zeitung vom 21. Mai ein Interview mit dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels (dazu unten mehr). Drittens lässt sich in jüngerer Zeit in der Forschung zum Nationalsozialismus ein verstärktes Interesse am Umgang der NS-Diktatur mit der internationalen Öffentlichkeit, zu der die Auslandskorrespondenten an prominenter Stelle gehören, feststellen. Auch in diesem Zusammenhang verdienten die Artikel von Xammar und Chaves über Nazideutschland Interesse. Der nationalsozialistischen Diktatur war es keineswegs egal, wie über sie gedacht und berichtet wurde.6

Zur besseren Einordnung der Reportage, lohnt es sich, den historischen Moment und Kontext, dem sie zugehört ‒ bezogen auf Deutschland und Spanien ‒, kurz aufzurufen.

1.5 Der politische Kontext in Deutschland

Ausgehend von einer Zeitangabe, die Manuel Chaves macht (S. 57), erscheint es plausibel, dass er Mitte April 1933 nach Deutschland einreiste. Zu dem Zeitpunkt waren bereits wichtige Maßnahmen gegen die Gegner des Nationalsozialismus und die Anhänger der Weimarer Republik erfolgt und die Errichtung der totalitären Diktatur war in vollem Gang. Darüber waren die an Deutschland interessierten LeserInnen der AHORA über die Artikel Xammars im Bilde.7

  • 30. Januar: Machtergreifung = Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg;
  • 4. Februar: Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes (setzt verfassungsmäßige Grundrechte der Versammlungs- und Pressefreiheit weitgehend außer Kraft);
  • 28. Februar: Reichstagsbrand / Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat;
  • 5. März: Reichstagswahl;
  • 13. März 1933: Einrichtung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda;
  • 20./21. März: Konzentrationslager für politische Gefangene in Dachau und Sachsenhausen eingerichtet;
  • 23. März: Ermächtigungsgesetz (uneingeschränkte Gesetzgebungsbefugnisse für die Regierung);
  • 1. April: Aufruf zum planmäßigen Boykott jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte;
  • 7. April: Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (Ziel, Menschen jüdischer Herkunft, politische Gegner und andere missliebige Personen aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen und ihnen die Existenzgrundlage zu entziehen. Das bedeutet gleichzeitig NSDAP-Mitglieder und andere Nazis mit Stellen und Posten versorgen zu können);
  • 11. April: Einführung des »Ariernachweises«.

In der Zeit, die Manuel Chaves in Deutschland war, gab es zum einen die Umsetzung und die Folgen der genannten Maßnahmen zu beobachten. Zum anderen gab es weitere einschneidende Ereignisse, die der Journalist direkt miterlebten konnte:

  • 1. Mai: Tag der nationalen Arbeit als Massenveranstaltung mit Gewerkschaftsunterstützung;
  • 2. Mai: Zerschlagung der Gewerkschaften;
  • 10. Mai: Einsetzen der Deutschen Arbeitsfront (DAF);
  • 10. Mai/11. Mai: Bücherverbrennung in Berlin auf dem ehemaligen Berliner Opernplatz, dem Höhepunkt der »Aktion wider den undeutschen Geist«, die im März 1933 begonnen hatte; Bücherverbrennungen fanden an mindestens 18 weiteren deutschen Universitätsstandorten noch bis in den Oktober statt.

Gegen Ende seiner Reise muss Manuel Chaves konstatieren: »Die Gegner des Nationalsozialismus sind besiegt« (S. 141); entweder sind sie zu den Nationalsozialisten übergelaufen, wurden inhaftiert, hatten sich umgebracht oder waren ins Ausland geflohen »auf der Suche nach der Freiheit, die das germanische Volk für überflüssig erklärt hat« (S. 142).

1.6 Der politische Kontext in Spanien

Die politische Lage in Spanien im Mai 1933 lässt sich folgendermaßen skizzieren: Die Diktatur des Generals Miguel Primo de Rivera (1923 bis 1930), den manche Zeitgenossen den spanischen Mussolini nannten, lag noch gar nicht lange zurück. Am 14. April 1931 war dann nach einem Zwischenspiel die Zweite Spanische Republik proklamiert worden. Der Monarch, Alfonso XIII, verließ Spanien wenige Tage später am 17. April. Nach den Wahlen vom 28. Juni 1931, noch ohne aktives Wahlrecht für Frauen, formierte sich eine Koalition aus bürgerlichen Parteien und der PSOE (Partido Socialista Obrero Español). Erster Ministerpräsident war Manuel Azaña, den Manuel Chaves persönlich kannte. Im April/Mai 1933 regierte eine Koalition aus linken republikanischen Parteien und den Sozialisten (PSOE). Zum Zeitpunkt der Deutschlandreise gab es im Parlament weder einen Abgeordneten der KP Spaniens noch ein Mitglied einer faschistischen Partei. Die später wichtige faschistische Partei Falange war da noch gar nicht gegründet. Dazu kam es erst Ende Oktober 1933. Aber es gab bereits die spanischen Faschisten der JONS (Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista), die sich wesentlich vom deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus hatten inspirieren lassen. 1934 sollten sich die Falange und die JONS dann zusammenschließen. Außerdem gab es schon das am 4. März 1933 gegründete national-katholisch bis faschistische Parteienbündnis CEDA (Confederación Española de Derechas Autónomas).

Erste Zeichen einer beginnenden Radikalisierung auf Seiten der politischen Rechten und der Linken (Anarchosyndikalisten, Sozialisten, Kommunisten) waren nicht zu übersehen. Ein Putschversuch des Generals José Sanjurjo am 10. August 1932 war zwar gescheitert, aber ein Aufstand anti-republikanischer Militärs war damit als Möglichkeit markiert. Von der anarchistischen Gewerkschaft CNT beförderte Erhebungen der Anarchosyndikalisten kennzeichneten den Januar 1933. Eine folgenschwerere Krise der Regierung folgte auf einen dieser Aufstände. Im Ort Casas Viejas in der andalusischen Provinz Cádiz gelegen, hatten anarcho-syndikalistische Bauern revoltiert und den freiheitlichen Kommunismus ausgerufen. Das Einschreiten der Guardia Civil und der Guardia de Asalto (beides paramilitärische Polizeiverbände) endete in einem Gewaltexzess vonseiten der Ordnungskräfte mit 28 getöteten Bauern und drei toten Polizisten (zu dem Massaker siehe Brey und Gutiérrez 2010, für die Turbulenzen der Zweiten Republik insgesamt Bernecker 2010, S. 119ff.). Die aus den Ereignissen und ihrer Deutung resultierende Krise trug zum vorzeitigen Ende der Legislaturperiode bei. Bei den Parlamentswahlen im November 1933 wurde die CEDA stärkste Kraft. Nach diesen Wahlen war die Frage, ob der Faschismus in Spanien an die Macht gelangen könne, nicht mehr nur eine der Theorie, sondern eine Frage der praktischen politischen Auseinandersetzung.

2. Zu den Inhalten

2.1 Kurzvorstellung des Themenspektrums

Eindrucksvoll ist, wie Manuel Chaves auf doch relativ wenigen Seiten ein thematisch riesiges Spektrum abgedeckt hat. Anders als viele Beobachter des Aufstiegs und der Machtübernahme der Nationalsozialisten, ist er sich im April/Mai 1933 schon sicher – und kann das belegen –, dass die nationalsozialistische Herrschaft Krieg und die Eliminierung der Juden in Deutschland bedeutet. Er sammelt Belege für Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, er belegt die gerade beginnende »methodische Ausrottung der Juden« vom planmäßigen Boykott bis zu den antijüdischen Gesetzen, die den Juden in Deutschland gezielt ihre Lebensgrundlage entziehen, was Manuel Chaves grauen Terror nennt.

Wenn Kriegsvorbereitung und Vernichtungsantisemitismus die Eckpfeiler des Nationalsozialismus bilden, so sind damit viele spezifischere Fragen des Machtaufbaus, Machterhalts und des Machtausbaus noch offen. Manuel Chaves interessiert insbesondere, wie die Nationalsozialisten die Frauen und die Jugend für sich gewinnen konnten, wie die Indoktrination in den Bildungseinrichtungen Einzug hält. Er kommentiert die modernen Methoden der Public Relations und der Propaganda der Nazis sowie die Gleichschaltung der Presse. Er zeigt, wie die NS-Ideologie den Arbeitern einerseits die Revolution und den Großunternehmen andererseits Ordnung und gute Geschäfte verspricht. Er thematisiert die Zerschlagung der nicht ausreichend widerstandsfähigen Gewerkschaften, bemerkt die entstehende Doppelstruktur von Partei und staatlichen Institutionen, und weist auf totalitäre Eingriffe in vormals private Entscheidungsbereiche hin. Fast ganz nebenbei wird über Zitate auch der zynische Charakter eines Goebbels oder Görings deutlich. Aber auch ein leicht entsetztes Staunen des spanischen Reporters ist zu vernehmen angesichts des deutschen Wesens mit seiner obrigkeitshörigen Neigung zu gehorchen, der Überbetonung von Arbeit (»Der Deutsche braucht die tägliche Arbeit. Mensch zu sein heißt arbeiten«), dem Ersatz von Vernunft durch Weltanschauung und einer Mentalität, die geistig im Mittelalter verblieben sei. Und das sind noch nicht einmal alle Themen. Dabei muss Manuel Chaves bei der Darstellung seine spanische Leserschaft stets vor Augen haben, die verstehen soll, was in Deutschland passiert. Damit das gelingen kann, werden in die Reportage durchgängig aktuelle und historische Bezüge zu und Vergleiche mit Spanien hergestellt.8

Im Folgenden wird versucht, exemplarisch aufzuzeigen, wie Manuel Chaves Themen behandelt und wie er schreibt. Markante Formulierungen, von denen einige hier aufgerufen werden, sind dabei ein (wichtiges) Stilmittel unter anderen. Auf vier Themen wird hier näher eingegangen: erstens das Thema Militarisierung und Aufrüstung. Interessant ist, dass Chaves das Thema nicht nur in einem Artikel abhandelt, sondern immer wieder darauf mit jeweils spezifischer Akzentsetzung zurückkommt. Beim zweiten Thema Judenverfolgung und -unterdrückung wird wiederum über Zitate deutlich, wie Chaves das Irrationale, Groteske und Aberwitzige der antisemitischen Nazi-Politik einerseits sarkastisch und andererseits mitfühlend behandelt. Beim dritten Thema der Eroberung der Jugend durch die Nazis lässt sich besonders gut erkennen, dass es Manuel Chaves wichtig ist, auf die grundlegenden Unterschiede zwischen den Verhältnissen in Deutschland und denen in Spanien aufmerksam zu machen. Schließlich wird der Artikel, in dessen Zentrum das Interview mit Goebbels zu Propaganda und Gegenpropaganda steht, herangezogen. Dabei spielt wieder, allerdings weniger offensichtlich, der Bezug zu der politischen Lage in Spanien eine große Rolle. Außerdem lässt sich an diesem Artikel auch die Wichtigkeit des ständigen Korrespondenten der Zeitung AHORA in Berlin, Eugeni Xammar, erkennen.

2.2 Themenfeld: Aufrüstung, Militarisierung und Kriegsvorbereitung

Die Überzeugung des Journalisten, dass Deutschland den Krieg will, untermauert er mit Belegen. Das Thema wird in mehreren Artikeln unter je spezifischem Aspekt behandelt. In der zweiten Lieferung der Artikelserie vom 16. Mai 1933 wird den LeserInnen mitgeteilt:

Um die Situation in Deutschland begreifen zu können, muss man ein paar Gemeinplätze über Bord werfen und diskutieren, was nicht einmal die Deutschen offen zu sagen wagen: Deutschland will den Krieg; es wird ihn beginnen, sobald es dazu in der Lage ist (S. 56).

Unter der Überschrift »Wie denkt der durchschnittliche Deutsche« sammelt Manuel Chaves Aussagen von Deutschen, mit denen er zu tun hatte. Ein nicht ganz unwichtiger Topos wiederholt sich: ein Bekenntnis zum Militarismus:

[…] Der Militarismus ist unser Ideal. Die Südländer erschrecken ob des Bekenntnisses, weil sie nicht in der Lage sind, den Militarismus als freien Willen und Abbild ihres Daseins zu verstehen (S. 61).

In der nächsten Lieferung (17. Mai 1933) wird gefragt, wie viele Soldaten Deutschland denn wirklich habe:

Während sie in Genf diskutieren, ob die Reichswehr in Wirklichkeit einhunderttausend Männer oder einhunderttausend und einen haben, würde jeder, der ein paar Tage durch Deutschland gereist ist und die Umzüge in den Straßen und die Paraden der Nazis und Stahlhelme gesehen hat, unschwer hochrechnen, dass in Deutschlands Reihen circa eine Million Männer stehen (S. 67).

Auf der nächsten Seite folgt dem eine differenzierte Aufstellung der unterschiedlichen militärischen und paramilitärischen Truppen, die sich zu 1,1 Million Mann addieren.

In zwei weiteren Artikeln der Serie beschreibt Manuel Chaves seinen Besuch im Lager Biesenthal, einem Lager für Arbeitsfreiwillige unweit von Berlin. Morgens sieht er »wie die Arbeiter ein Moor austrocknen« (S. 81); nachmittags steht Gymnastik auf dem Programm und das bedeutet im Klartext für ihn nichts anderes als »militärischer Drill von Rekruten« (S. 86). Er schlussfolgert: »Alle Arbeiten, die diese ‚Freiwilligen‘ hier verrichten, sind für ein Heer im Gefecht nützlich«. Sein Fazit: »’Freiwillige Arbeit‘ = Pflicht zum Militärdienst« (S. 86).

Die Kriegsausrichtung macht sich auch in der Frauenpolitik bemerkbar. Den Frauen wird nahegelegt, »Kinder zu gebären, weil man den Moment kommen sieht, da man sie benötigt. Viele, sehr viele Söhne deutscher Mütter wird der Führer brauchen. Und alle werden noch zu wenig sein« (S. 117).

2.3 Themenfeld: Die methodische Ausrottung der Juden

Manuel Chaves überschreibt einen seiner Artikel »die methodische Ausrottung der Juden« und weist darauf hin, dass die Rede von der Ausrottung von Hitler selbst stamme und die »radikale Ausrottung der Juden« zum Fundament der Nationalsozialisten gehört. Zu dem Zeitpunkt im April/Mai 1933 hält er den, wie er sagt, grauen Terror für entscheidend: Das wirklich Erwähnenswerte und Entscheidende ist »die unerbittliche Haltung eines Regimes wie dem nationalsozialistischen gegen eine große Anzahl seiner Bürger, die gemäß öffentlich zugänglicher Zahlen bei etwa siebenhunderttausend liegt« (S. 130).

Er erläutert dann die Folgen der anti-jüdischen Gesetze und Verordnungen, die Professoren, Anwälte, kleine Läden und große Unternehmen wie Pressehäuser und Kaufhäuser betrifft, dazu Einrichtungen der jüdischen Wohlfahrt, aber auch Hausangestellte und selbst noch den Weichenstellern bei der Bahn die Erwerbsgrundlage entzieht. Sein Fazit:

Nein, weder schneidet man »den Juden« die Ohren ab, noch reißt man ihnen die Haare aus, ihnen wird lediglich jede Lebensgrundlage genommen (S. 131).

Auf einer halben Seite demontiert Chaves mit leichter Hand und einer Dosis Sarkasmus die ideologische Basisunterscheidung der Nationalsozialisten Arier/Semit.

»Die Rasse der Arier« taucht auf der Erde um 1830 auf. … Dies entnimmt man den von Hitler in Kraft gesetzten Normen, die uns wissen lassen, wer »reiner Deutscher« und wer »Jude« ist (S. 133).

Ein einziger nicht christlich getaufter Großvater in den vier letzten Generationen macht in Nazi-Deutschland aus einem Menschen einen Semiten, wohingegen eine blütenreine jüdische Abstammung über Jahrhunderte nicht daran hindert, den Status eines reinen Ariers zu erhalten ‒ wenn nur  die letzten vier Großväter zum Christentum konvertierten.

Das ist ein bisschen grotesk, nicht wahr? Dennoch, mit dieser Auffassung […] unterteilt Hitler seine Untergebenen in solche, die das Recht zu leben haben, und in Bürger, die zu sterben haben, weil sie keine andere Wahl haben werden, als zu sterben (S. 133).

Die jüdischen Bürger wissen, dass es um ihr Leben geht, und haben die Botschaft verstanden. Emigration wird für die meisten keine Lösung sein, nur für die, die das Geld haben (S. 133).

Die deutschen Juden sind derart terrorisiert, dass sie sich allem fügen und nach allen erlittenen Schikanen nur noch darum bitten, dass man ihnen das Recht zu leben lasse (S.135).

Als extremen Einzelbeleg führt er einen jüdischen Intellektuellen an, der sich mit einer schockierenden Klage an die Nazis wandte.

[…] Letzte wissenschaftliche Experimente haben bewiesen, dass man einen Hund bis auf den letzten Tropfen ausbluten lassen kann, um seine Venen mit dem Blut einer anderen Hunderasse zu füllen; macht das mit uns, wenn ihr nicht wollt, dass wir jüdisches Blut haben, aber lasst uns leben. Oder lasst uns fortziehen (S. 135).

Leider lässt uns der Autor, der als Augenzeuge dabei war, im Unklaren über die konkrete Situation und die Personen, die an ihr beteiligt waren.

Im folgenden Teil der Artikelserie wird ein anderer Auswuchs des gewalttätigen Regimes in den Mittelpunkt gestellt. Es geht um Masse und Macht, die Überschrift dazu lautet »Das Volk – der Großinquisitor«. Der graue Terror der Gesetze und Verordnungen wird ergänzt um die unerbittliche Jagd von Menschen auf Menschen. Die Gejagten sind hier nicht nur die Juden, sondern auch die Reste der politisch linken Opposition und letztlich alle missliebigen Personen. Chaves führt Beispiele an. Seine zentrale Einsicht:

Der Druck einer Menschenmasse, nachdem man sie hinsichtlich ihrer hasserfüllten Instinkte und ihrer Rachlust in eine günstige Richtung gelenkt hat, ist um vieles effektiver als jeder erdenkliche Polizeiapparat (S.141).

Gegen den Hass einer solchen Mehrheit ist kein Kampf möglich. »Die Gegner des Nationalsozialismus sind besiegt« (S. 141).

2.4 Themenfeld: Die Eroberung der Jugend

Das Kapitel über die »Eroberung der Jugend« beginnt mit dem Satz:

In Zukunft werden alle Kinder, die in Deutschland geboren werden, mit dem Hakenkreuz am Bauchnabel zur Welt kommen. Ich zweifle nicht daran, dass deutsche Wissenschaftler das genetische Muster des Nationalsozialismus entschlüsseln und eine Methode entwickeln werden, wie man es Schwangeren injizieren kann (S. 103).

und etwas weiter im Text:

Die Deutschen platzen vor Stolz und sind prahlerisch schon bei dem Gedanken, was dieses Kind einst erreichen wird, wie sie es in Serie produzieren werden (S. 104).

Der Vorteil wäre: Das Regime müsste sich nicht mehr mit Umerziehung oder Vernichtung plagen, wenn die Kinder »bereits umerzogen auf die Welt kommen«. Dennoch sind diese Kinder zu bedauern, »die überhaupt niemals zu einer wirklichen menschlichen Regung fähig sein werden« – im Unterschied zu den armen Rabauken aus den Bergen Galiciens oder den Sümpfen Andalusiens, von denen Manuel Chaves spricht, die trotz ihrer Armut »das Gefühl der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens, der Menschlichkeit in sich« bewahren.

Die sarkastisch angelegte Dystopie verstellt indes nicht den Blick auf die umfänglichen Maßnahmen der Nazis, die Jugend auf ihre Seite zu ziehen: Indoktrination in den Schulen, die Propaganda, »ein riesiges Reklame-Netz in den Straßen und über Land«, Musikumzüge, Fahnen, Uniformen, militaristisches Spielzeug, Sammelbilder, Sport und Kino.

Manuel Chaves sieht ganz klar, dass die radikalen, gewalttätigen und brutalen Züge der Bewegung viele Jugendliche ansprechen.

Sämtliche Gewaltbereitschaft der Jugend und ihr Wagemut sind für Hitlers Sturmtrupps von Nutzen. … Einen gewaltigen Schub für die Eroberung der Macht hat Hitler zweifelsohne von der Jugend erhalten. Täuschen wir uns nicht: Die rebellische Jugend Deutschlands steht zum Führer (S. 107f.).

Darin liegt ein gravierender Unterschied zu den Verhältnissen in Spanien:

Der Nationalsozialismus ist ohne jeden Zweifel eine reaktionäre Bewegung, aber keine, wie sie sich die spanischen Reaktionäre vorstellen … [Sie] würden sich zu Tode erschrecken, wenn sie das demagogische Gerüst verstünden, das diese jugendlichen Anhänger Hitlers im Kopf haben. … Die Vergangenheit? Ein Geflecht von Irrtümern. Kaiser Wilhelm? Ein alter Schisser, der Angst vor dem Krieg hatte (S. 124).

2.5 Das Interview mit dem Minister für Propaganda Joseph Goebbels

Das Interview, das am 21. Mai in AHORA publiziert wird, ist vorab vom Propagandaministerium auf drei Fragen und dazu drei Antworten beschränkt worden, die wortwörtlich abzudrucken seien »Ihre Frage – seine Antwort direkt im Anschluss« (S. 97).9

Das Interview wird den Lesern der AHORA angekündigt als wende sich Goebbels ganz speziell an sie. Das strikte, ein echtes Gespräch ausschließende, starre Frage-Antwort-Schema, lässt den Rezensenten vermuten, dass Manuel Chaves sich nicht mit Goebbels persönlich getroffen hat. Gut vorstellbar ist, dass Manuel Chaves oder Eugeni Xammar die drei Fragen schriftlich einreichten und irgendwann später die Antworten darauf ebenfalls schriftlich bekamen. Gegen eine Kommunikation unter Anwesenden spricht zudem, dass Manuel Chaves, ganz untypisch für ihn, keinen Satz über den Ort, die Art der Begrüßung oder andere Details verliert.

Was er stattdessen dem Interview beigibt, ist eine ätzende Typisierung des Dr. Goebbels, die ähnlich lang ausfällt wie das ganze Interview. Goebbels wird dabei als »Typ des gekränkten Irren: verbissen und unversöhnlich« charakterisiert oder an anderer Stelle verglichen mit einem Sektierer »dem sein Ideal befiehlt, den Vater an die Wand zu stellen und erschießen zu lassen, wenn er sich ihm in den Weg stellt«, und er schließt seine Personenbeschreibung mit einem Satz zum besseren Verständnis für sein spanisches Publikum: »Mit Ausnahme von ein paar wenigen karlistischen Geistlichen kennen wir diesen Typus in Spanien nicht« (S. 99).

Die große Überschrift über die ganze Breite einer Zeitungsseite lautet: »Wird es in Spanien Faschismus geben?«. Die beiden ersten Fragen, die Goebbels gestellt werden, haben allerdings noch einen engen Bezug zum Ressort des Propagandaministers. Die erste Frage bezieht sich auf die antideutsche Auslandspropaganda emigrierter Juden und wie dieser Einhalt geboten werden soll. Die zweite Frage lautet, welche Methoden der Propaganda das Ministerium außerhalb Deutschlands anzuwenden gedenkt. Die dritte Frage, ob der Propagandaminister glaubt, dass die nationalsozialistische Doktrin in anderen Ländern verstanden und ein Echo haben wird, lässt einen Bezug zu der übergeordneten Frage erkennen, ob es in Spanien Faschismus geben wird.

Nach Einschätzung des Rezensenten konnten sich Chaves und Xammar die Antworten, die sie erhalten würden, ungefähr schon denken. Es ging ihnen womöglich um zweierlei: zum einen um die Trophäe, es geschafft zu haben, einen der wichtigsten Minister der neuen deutschen Regierung für ein Interview für die eigene Zeitung gewonnen zu haben, und zum anderen sollten die Antworten den LeserInnen der AHORA klar machen, wes Geistes Kind dieser Goebbels ist.

Die Antwort von Goebbels auf die erste Frage, was gegen antideutsche Propaganda emigrierter Juden zu tun sei, lautet im Kern: den Druck auf die Juden in Deutschland erhöhen. Der Boykott gegen die Juden von Anfang April habe gezeigt, dass dieser Ansatz funktioniere. Mit einem Satz, aus dem die Niedertracht Goebbels spricht, endet die Beantwortung der ersten Frage: »In Zukunft werden wir darauf achten, dass die in Deutschland lebenden Juden die strikte Pflicht einhalten und das Land in dem sie leben, davor bewahren, diffamiert zu werden» (S. 99). Der Bezug zu dem Boykott erschließt sich vielleicht nicht jedem sofort, aber einem aufmerksamen Leser der AHORA schon.

Denn in einem Artikel Xammars zum Boykottaufruf, der am 1. April 1933 in der AHORA erschienen war, wurde Goebbels bereits mit den Worten zitiert: »allein die Ankündigung des Boykotts habe schon ausgereicht, um die Gewaltsamkeit der antideutschen Kampagne in der ausländischen Presse merklich zu verringern« (Xammar 2005, S. 126; Übersetzung KB). Genau diese Aussage von Goebbels wird durch die erste Frage der Interviewer erneut provoziert und in ihrer ganzen Drastik den LeserInnen der Zeitung vor Augen geführt.

Auf die zweite Frage nach der Propaganda im Ausland antwortet Goebbels im Wesentlichen: »Es wird keine Propaganda geben. Wir werden nur darauf achten, dass die Wahrheit über Deutschland in der ganzen Welt verstanden wird.« Im Klartext ist das wohl deutlich so zu verstehen, dass das Nazi-Regime unliebsame Medienberichterstattung im Ausland nicht hinnehmen wird. Was das in der Praxis bedeutete, hatte die spanische Presse im März schmerzlich erfahren. Xammar hatte darüber in AHORA berichtet. Dieser Vorfall dürfte beiden Seiten zum Zeitpunkt des Interviews noch vor Augen gestanden haben. Konkret hatte die Zeitung El Socialista am 19 März 1933 geschrieben, Ernst Thälmann sei von den Nazis ermordet worden. Der KPD-Chef Thälmann war zu dem Zeitpunkt zwar in Haft, aber er lebte. In der Tat nahmen die Nazis diese Falschmeldung zum Anlass, eine groß angelegte politisch-mediale Inszenierung zu veranstalten.10

Die Antwort auf die dritte Frage lautet, dass der Nationalsozialismus kein Exportartikel sei, dass jedoch eine »geistige Transformation Europas« stattfände in deren Rahmen jedes Volk gemäß der Natur seiner nationalen Eigenart die für es passende Form finden werde (S.100). Auch diese Antwort konnten die weitgereisten Journalisten erwarten, denen klar gewesen sein dürfte, dass in der Ideologie eines übersteigerten Nationalismus für Internationalismus kein Platz ist. Bezieht man die Antwort Goebbels auf den Obertitel »Wird es in Spanien Faschismus geben?«, dann war seine Einschätzung insofern zutreffend als die spätere Franco-Diktatur durchaus ihre nationalen Eigenarten hatte. Der Sieg Francos im spanischen Bürgerkrieg, aus dem die spanische Variante einer faschistischen Diktatur hervorging, war allerdings alles andere als eine nationale Angelegenheit, und ohne die tatkräftige militärische Unterstützung durch die faschistischen Staaten Italien und Deutschland nicht zu denken.

3. Schluss

Der immer noch beeindruckenden Reportage vom Mai 1933 gelingt es, ein lebendiges und komplexes Bild Deutschlands kurz nach der Machtergreifung zu zeichnen. Auf die Bedeutung von Eugeni Xammar, dem ständigen Auslandskorrespondenten der Zeitung AHORA in Berlin, für das Gelingen der Reportage, wurde im Text hingewiesen. Trotz des zeitlichen Abstandes wirkt nichts an der Artikelserie abgestanden. Sie hält einen Moment auf dem Weg Deutschlands in die nationalsozialistische Barbarei fest und zeigt, wie im Höllentempo zivilisatorische Standards, demokratische Werte und Menschenrechte von den Nazis ausgehebelt wurden. Noch einmal Originalton Manuel Chaves: »Was wir als barbarische Taten bezeichnen, sind für sie [die Nazis] keine … Wir nennen es dennoch barbarisch, auch wenn sie es anders nennen« (S. 137).

Manuel Chaves schreibt über Nazideutschland, aber er tut das vor dem Hintergrund der politischen Lage in Spanien. Wenn er über den Nationalsozialismus schreibt, weiß er, dass sich seine Sicht gegen andere Bilder behaupten muss, die von der reaktionären und rechten Presse einerseits und andererseits von der Presse der nicht-bürgerlichen Linken in Umlauf gebracht werden. Im Mai 1933 lässt sich der Glaube an das Gelingen des demokratischen Experiments Zweite Republik noch aufrecht halten, aber die Euphorie des Anfangs ist schon verflogen. Die politische Großwetterlage mit dem europäischen Faschismus im Aufwind hat sich geändert und spiegelt sich in der Radikalisierung von reaktionären, anti-republikanischen Kräften einerseits und von der Republik enttäuschten Linken andererseits. Vor diesem Hintergrund ist die Reportage über Nazideutschland und das Leben im Zeichen des Hakenkreuzes auch als bewusster Versuch der Abschreckung und Warnung vor dem Faschismus/Nationalsozialismus zu lesen und zu verstehen.

Zum Schluss seien wieder die professionellen HistorikerInnen angesprochen, die das Thema Nationalsozialismus und internationale Öffentlichkeit interessiert. Wie sahen die Arbeitsweise und Berichterstattung der in Berlin akkreditierten spanischen Auslandskorrespondenten aus? Welche Kontakte und Netzwerke waren für sie wichtig? Gab es Verstrickungen in die NS-Diktatur? Welche Bedeutung maß das NS-Regime der Beeinflussung und Instrumentailisierung der spanischen (weiter: spanischsprachigen) Auslandspresse bei? Norman Domeier hat mit seinem Opus Weltöffentlichkeit und Diktatur eine eindrucksvolle Vorlage geschaffen, sich aber primär auf amerikanische Journalisten bezogen und folglich spanische Auslandskorrespondenten praktisch nicht einbezogen.

Eine Untersuchung zu den spanischen Auslandskorrespondenten in Nazideutschland käme nicht umhin, sich mit Eugeni Xammar zu befassen. Das könnte ein Anfang sein. Welche interessanten Kontakte gab es in seinem privaten Umfeld, welche Kontakte zu anderen Korrespondenten pflegte er, mit welchen einflussreichen deutschen Persönlichkeiten und Politikern der Weimarer Republik und später des Nationalsozialismus hatte er zu tun? Wie gelang es ihm bis 1936 seine Stellung zu halten? Sicher scheint, dass Xammar die hohe Kunst, auf der Rasierklinge zu reiten, beherrschte. Das heißt, in einer Diktatur informativ über diese Diktatur für das Ausland zu schreiben ‒ ohne den Kopf zu verlieren. Das Ende seines Aufenthalts in Deutschland im Jahre 1936 dürfte den engen Beziehungen zwischen Nazideutschland und dem Franco-Lager seit Beginn des Bürgerkriegs im Juli 1936 geschuldet gewesen sein.

Bleibt zu wünschen, dass sich ein deutscher Verlag findet, der die Artikel, die Xammar zwischen 1930 und 1936 für die AHORA schrieb (Xammar 2005), veröffentlicht. Das wäre gut für alle, die eine erhellende Sicht von außen auf die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus interessiert und gut für die, die zu den spanischen Auslandskorrespondenten in Deutschland (vor und im Franquismus) forschen.

Anmerkungen

  1. Die Einführung von Frank Henseleit, dem Verleger und Übersetzer der Reportage, enthält nützliche Angaben zum Leben und Schaffen des Autors. Einen guten ersten Überblick bietet auch der Eintrag zu Chaves Nogales in der Wikipedia. Ausführlich ist die zweibändige Biografie von Cintas Guillén (2021). Texte unterschiedlicher Autoren über Manuel Chaves versammeln Torrente und Suberviola (2013). Für die letzten Lebensjahre im englischen Exil (1940-1944) siehe Morató (2023). Es gibt zwei spanische Werkausgaben: Cintas Guillén (Hg.) 2009 und 2013 sowie Garmendia (Hg.) 2020. Von der deutschen Werkausgabe im Kupido Literaturverlag liegen Anfang 2024 vier Bände vor. ↩︎
  2. Für frühe kritische Analysen des Nationalsozialismus deutscher Publizisten siehe ausführlich Belke (1993). Nach der Machtergreifung konnten sich in Deutschland verbliebene regimekritische AutorenInnen nur noch unter Gefahr für Leib und Leben äußern. Die damalige Lage und Entscheidungssituation zeichnet Uwe Wittstock (2022) in seinem Buch Februar 33 über einige bekannte Literaturschaffende nach. Wesentlich besser, aber trotzdem nicht ohne Risiko, war die Lage der Auslandskorrespondenten. Auf zwei bekannte Beispiele kritischer Reportagen amerikanischer Korrespondenten sei kurz hingewiesen. Im Januar 1933 hatte Edgar A. Mowrer, der für die Chicago Daily News schrieb und zugleich Vorsitzender des VAP (Verein der Ausländischen Presse in Deutschland) war, sein mit dem Pulitzer-Preis gekröntes Buch Germany Puts The Clock Back (Mowrer 1931) veröffentlicht. Erwähnt sei zweitens Leland Stowe, der ebenfalls schon im Jahr 1933, jedoch vier Monate später als Manuel Chaves, Deutschland bereiste (im September/Oktober). Seine Beobachtungen und Analysen wurden im Januar 1934 als Buch veröffentlicht: Nazi Means War (Stowe 1934). Eine geplante frühere Veröffentlichung der Reportage im New York Herald Tribune war nicht zustande gekommen, weil man dort den Inhalt für zu alarmistisch hielt. Die Feindschaft der Nationalsozialisten bekamen sowohl Edgar A. Mowrer als auch Manuel Chaves zu spüren. Mowrer wurde unter Druck gesetzt und gezwungen, Deutschland wenige Monate nach seiner kritischen Veröffentlichung zu verlassen (Domeier 2021, S. 127f.). Manuel Chaves kam wegen seiner Reportage auf eine Todesliste der Gestapo (Henseleit 2022, S. 17). Er war dadurch gezwungen 1940, nach der deutschen Besetzung Frankreichs, aus dem französischen Exil nach England zu fliehen. ↩︎
  3. Als selbständige Publikation ist die Reportage 2012 auf Spanisch erschienen (Chaves Nogales 2012). Über die Biblioteca Digital Memoria de Madrid sind alle Ausgaben der Zeitung AHORA online einzusehen [überprüft am 26.1.2024] und als pdf-Dateien abrufbar – also auch die mehrteilige Reportage von Manuel Chaves aus Deutschland. ↩︎
  4. Eine ausführliche Erörterung und Einordnung seines journalistischen Stils hat Maria Isabel Cintas Guillén vorgenommen (2013, S. IX-XXIX und 2021, S. 258-263). Lesenswert ist ebenfalls die literarische Einordnung, die Andrés Trapiello (2020) vornimmt. Eine knappe Charakterisierung des Stils findet sich im Spanienecho in der Besprechung seiner Reportage Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer (Böhle 2021). ↩︎
  5. Die Artikel, die er von 1930 bis 1936 aus Deutschland für AHORA schrieb, wurden 2005 auf Spanisch als Buch veröffentlicht (Xammar 2005). In der Einleitung zu dieser Artikelsammlung werden Xammar als Person und sein Lebensweg ausführlich beschrieben (González Prada 2005). Auf Deutsch liegt eine Auswahl früherer Artikel aus den Jahren 1922-1924 vor (Xammar 2007). In der Einleitung dieses Bandes von Heinrich von Berenberg finden sich auch einige Angaben zu Xammar (Berenburg 2007). Eine im Gespräch mit Josep Badia i Moret entstandene, in Katalanisch verfasste Autobiografie, liegt ebenfalls vor (Xammar 1991). Die Biografie von Quim Torra (2008) interessiert sich besonders für Xammar als katalanischer Nationalist; auf die Jahre, die Xammar in Berlin tätig war, wird dort kaum eingegangen. ↩︎
  6. Es leuchtet sofort ein, dass die Beziehung zwischen freier Presse und Diktatur kompliziert und konfliktträchtig ist. Auf der einen Seite stehen die JournalistInnen, die aus erster Hand Informationen von wichtigen Persönlichkeiten, meistens Politikern, erhalten wollen. Dafür nehmen sie eventuell in Kauf, sich zu verbiegen und Grenzen der journalistischen Berufsethik zu überschreiten. Auf der anderen Seite stehen die Politiker und Politikerinnen, die die Korrespondenten für eine ihren Absichten dienende Berichterstattung instrumentalisieren möchten. Um die Welt der Auslandskorrespondenten in Nazideutschland kennenzulernen, ist die Arbeit von Norman Domeier (Weltöffentlichkeit und Diktatur 2021) außerordentlich hilfreich. Für das Interesse der Historiker an diesem Thema siehe neben Domeier etwa auch Martin Herzer (2012) und den Bericht zur Tagung »Nationalsozialismus und internationale Öffentlichkeit« von Marlene Friedrich (2023). Für Ende 2024 ist ein Buch von Lutz Hachmeister angekündigt, das sich speziell mit den Interviews, die Hitler der Auslandspresse gab, befasst. ↩︎
  7. Für einen chronologischen Überblick der Ereignisse seit Januar 1933 siehe die Jahreschronik 1933 des Online-Portals zur deutschen Geschichte LeMO – Lebendiges Museum Online sowie die Liste antijüdischer Rechtsvorschriften im Deutschen Reich 1933–1945 in der Wikipedia  [Bearbeitungsstand: 9. November 2023, abgerufen: 14. Januar 2024]. ↩︎
  8. An drei Stellen geht es um damals aktuelle Deutsch-Spanische Berührungspunkte: Manuel Chaves berichtet von dem Gerücht, die Nazis bezögen ihre Pistolen aus Spanien, und er erhofft sich, dass die spanische Regierung dem Gerücht entschiedener entgegenträte (S. 72f.). Er kommt auf die zunehmende Zahl der Personen zu sprechen, die in Folge der anti-jüdischen Gesetzgebung bei der spanischen Botschaft, oft mit illusorischen Hoffnungen, vorstellig werden. Er begrüßt ausdrücklich, dass die spanische Regierung unverzüglich die Visavergabe erhöhte (S. 133-135). Drittens legt er sich mit den spanischen Sozialisten an, die mit der Erfindung der »Legende um den Tod von Thälmann« vor allem den Nazis genützt hätten (S. 140; siehe zur Legende ausführlich Abschnitt 2.5). ↩︎
  9. Das Interview ist online verfügbar. Es wurde von der Zeitung Die Welt am 23. September 2022 (Nr. 186, S. 16) abgedruckt und ist hinter einer Paywall online erhältlich. Der Zusatz der Zeitung »Hier ist das Gespräch erstmals auf Deutsch zu lesen« ist insofern falsch als die Übersetzung aus dem hier besprochenem Buch stammt. Über den kupido-Verlag ist der Interviewtext uneingeschränkt online einsehbar (dem Link folgen und dann den Button »Die Welt (20.09.2022)« drücken). Eine Frage für die Historiker wäre, ob sich der vermutlich deutsche Urtext des Interviews in irgendeiner Form noch erhalten hat. ↩︎
  10. Im Völkischen Beobachter und der Berliner Börsen-Zeitung wurden die spanische Republik und der spanische Botschafter in Berlin, Luis Araquistáin (März 1932 – Mai 1933), beschimpft. Auf diplomatischer Ebene traten der deutsche Botschafter in Madrid, Johannes von Welczeck, und der Außenminister Konstantin von Neurath (NSDAP) in Aktion. Des Weiteren wurde vom Propagandaministerium ein Besuch einiger Häftlinge durch eine Gruppe der Auslandspresse, zu der auch Xammar gehörte, organisiert. Im Polizeipräsidium Alexanderplatz konnte Xammar mit Ernst Thälmann, Ludwig Renn, Ernst Torgler, Werner Hirsch und mit Carl von Ossietzky sprechen, und feststellen, dass es nicht zu offensichtlichen Misshandlungen der Verhafteten gekommen war (Xammar 2005, S. 116-125 aus der AHORA vom 28. März 1933). ↩︎

Literaturhinweise

  • Belke, Ingrid: Publizisten warnen vor Hitler. Frühe Analysen des Nationalsozialismus. In: H. Horch & H. Denkler (Ed.), Teil 3 Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. Max Niemeyer Verlag: Berlin, New York 1993, S. 116-176.
  • Berenberg, Heinrich von: Einleitung in: Xammar, Eugeni: Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922- 1924, Berenberg Verlag: Berlin 2007, S. 7- 13.
  • Bernecker, Walther L.: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert. C.H.Beck: München 2010.
  • Böhle, Knud: Rezension von »Manuel Chaves Nogales: Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer«. In: Spanienecho vom 24. April 2022.
  • Brey, Gérard und Gutiérrez Molina, Gutiérrez Molina, José Luis (coord.): Los sucesos de Casas Viejas en la historia, la literatura y la prensa (1933-2008). Fundación Casas Viejas: Cádiz 2010.
  • Chaves Nogales, Manuel: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido: Köln 2022.
  • ders.: Bajo el signo de la esvástica. Almuzara: Córdoba 2012.
  • Cintas Guillén, María Isabel: Manuel Chaves Nogales. Andar y contar. Band I und II. Almería: Confluencias 2021.
  • dies. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Narrativa Completa (2 Bände). Diputación de Sevilla: Sevilla 2009 (Wiederauflage)
  • dies.: Epílogo. In: Cintas Guillén, María Isabel: Manuel Chaves Nogales. Andar y contar II. Confluencias: Almería 2021, S. 239-265.
  • dies.: Introducción. In: Manuel Chaves Nogales: Obra Periodística, Band 1, hrsg. v. Cintas Guillén, María Isabel. Sevilla: Diputación de Sevilla 2001, S. IX–CCXLVI.
  • dies. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Periodística (neue, erweiterte Ausgabe, 3 Bände). Diputación de Sevilla: Sevilla 2013.
  • dies.: Nota Introductoria a esta edición de la obra periodística. In: Manuel Chaves Nogales. Obra Periodística I. Centro de Estudios Andaluces, Diputación de Sevilla: Sevilla 2013, S. IX-XXIX.
  • Domeier, Norman: Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die amerikanischen Auslandskorrespondenten im »Dritten Reich«. Wallstein: Göttingen 2021.
  • Friedrich, Marlene: Tagungsbericht: Nationalsozialismus und internationale Öffentlichkeit. In: H-Soz-Kult vom 17.02.2023.
  • Garmendia, Ignacio F. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Completa (5 Bände). Libros del Asteroide: Barcelona 2020.
  • González Prada, Charo: Introducción. In: Xammar, Eugeni: Crónicas desde Berlín (1930-1936). El Acantilado: Barcelona 2005, S. 13-39.
  • Hachmeister, Lutz: Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten. Kiepenheuer&Witsch: Köln 2024 (angekündigt für November 2024).
  • Henseleit, Frank: Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe. In: Chaves Nogales, Manuel: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido: Köln 2022, S. 7-39.
  • Herzer, Martin: Auslandskorrespondenten und auswärtige Pressepolitik im Dritten Reich. Böhlau-Verlag: Köln, Weimar, Wien 2012.
  • Morató, Yolanda: Manuel Chaves Nogales. Los años perdidos (Londres, 1940-1944). Renacimiento: Valencia 2023.
  • Mowrer, Edgar A.: Germany Puts The Clock Back. Lane: London 1933 (erste Ausgabe im Januar 1933); eine elektronische Fassung ist im Internet Archive verfügbar.
  • Stowe, Leland: Nazi Means War. McGraw-Hill: New York 1934; eine elektronische Fassung ist im Internet Archive verfügbar.
  • Torra i Pla, Quim: Periodisme? Permetin! La vida i els articles d’Eugeni Xammar. Símbol Editors: Barcelona 2008.
  • Torrente, Luis Felipe und Suberviola, Daniel: El hombre que estaba allí, libro-documental, Libros.com, 2013.
  • Trapiello, Andrés: Retrato literario de Chaves Nogales. In: Garmendia, Ignacio F. (Hg.): Manuel Chaves Nogales: Obra Completa. Libros del Asteroide: Barcelona 2020, Band 1, S. XXVII–XXXIV.
  • Wittstock, Uwe: Februar 33: Der Winter der Literatur. Beck C. H.: München 2021.
  • Xammar, Eugeni: Crónicas desde Berlín (1930-1936). Acantilado: Barcelona 2005.
  • ders.: El huevo de la serpiente; traducció d’Ana Prieto Nadal; presentació de Charo González Prada. Barcelona: El Acantilado, 2005.
  • ders.: Das Schlangenei. Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre 1922 – 1924. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Berenberg Verlag: Berlin 2007.
  • ders.: Seixanta anys d’anar pel món: converses amb Josep Badia i Moret. Barcelona: Quaderns Crema 1991.

Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes. Kupido Literaturverlag: Köln 2022; ISBN 978-3-96675-150-6



Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur

Zwanzig Mosaiksteine für ein ungeschöntes Spanienbild

Rezension von Knud Böhle


1. Einleitung

Das Ibero-Amerikanische Institut (IAI) der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin gibt die Schriftenreihe Bibliotheca Ibero-Americana heraus, zu der auch die »heute«-Bände gehören, die Handbuchcharakter beanspruchen (S. 675). Die 6., vollständig neu bearbeitete Auflage von »Spani­en heute. Politik, Wirtschaft, Kultur«, ist im Herbst 2022 erschienen ‒ herausgegeben von den bei­den Fachhistorikern Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel. Redaktionsschluss war im Frühjahr 2022.

Der Sammelband wurde noch unter dem Eindruck der Covid-19 Pandemie abgeschlossen, und in vielen Beiträgen wird deshalb die Bedeutung von Covid-19 für das jeweilige Themenfeld mitreflek­tiert. Ein Beitrag beschäftigt sich sogar ausschließlich mit der Bewältigung und den Folgen der Pan­demie in Spanien. Was heute (Juli 2023) die Öffentlichkeit besonders bewegt, der Krieg in der Uk­raine, die Hitzewellen in Südeuropa als Folge des Klimawandels und das Erstarken der politischen Rechten bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai und bei den vorgezogenen Neuwahlen am 23. Juli, das liegt mithin schon außerhalb des Beobachtungszeitraums des Bandes.

Der Wert von »Spanien heute« liegt trotz des Titels selbstverständlich nicht im Tagesaktuellen. Der Band bietet eine Bestandsaufnahme, die zeigt, in welcher Lage die spanische Gesellschaft sich An­fang 2022 befand und vor welchen Aufgaben sie heute steht. Das impliziert fast immer einen Blick zurück, der verstehen lässt, wie sich die spanische Gesellschaft zwischen 1975 und 2022 verändert hat. Insbesondere die gravierenden Einschnitte durch eine Mehrfachkrise (Finanz-, Wirtschafts-, Immobilien-, Arbeitsmarkt- und Katalonienkrise) sind für die Dynamik ab 2008 bedeutsam.

Handbuchcharakter im engeren Sinn haben nur wenige Beiträge, wenn damit die systematische, um Objektivität bemühte, alle Seiten abwägende und zum Nachschlagen geeignete Darstellung eines Wissensbereichs gemeint ist. Präzise wäre von einer Auf­satzsammlung zu sprechen, bei der sich die Beiträge wie Mosaiksteine so ergänzen sollen, dass ein Ge­samtbild entsteht. Durch den Aufsatzcharakter treten die spezifischen Annahmen und Ansichten der jeweiligen Autor:innen stärker in den Vordergrund als das bei einem klassischen Handbuch der Fall wäre. Die zwanzig Beiträge samt weiterführenden Literaturhinweisen, im Durchschnitt etwa 30 Druckseiten lang, wurden zum größten Teil von Wissenschaftlern und Journalisten verfasst. Drei der zwanzig Aufsätze stammen aus spanischer Feder. Von den Autoren der vorherigen 5. Aufla­ge aus dem Jahr 2008 sind lediglich fünf noch an der aktuellen Auflage beteiligt.

Die Autor:innen waren trotz gewisser Vorgaben offenkundig relativ frei, die Abgrenzung des jewei­ligen Themas, die Art ihres Herangehens und die Darstellungsweise selbst zu bestimmen. Für die Leser:innen bedeutet das, dass manche Beiträge leichter zu lesen sind und weniger Vorwissen ver­langen als andere. Für ein Buch, das »nicht nur an Wissenschaftler:innen« (S. 675), sondern an ein breiteres Publikum gerichtet ist, erscheint diese Mischung sinnvoll. Auf dem deutschen Sachbuch­markt zu Spanien gibt es kein anderes Werk, das solch eine thematische Breite aufweist. Nicht alle Leser:innen werden sich für jeden Beitrag interessieren, und deshalb trifft auch für diesen Sammel­band zu: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

Im Folgenden werden nicht alle Beiträge einzeln vorgestellt, und auf Inhalte und Argumentationen der Aufsätze wird nur ganz punktuell eingegangen. Den ausführlichen und komplex argumentieren­den einzelnen Beiträgen wird dieses Vorgehen selbstverständlich nicht gerecht. Durch die Präsenta­tion ausgewählter Daten, Befunde und Hypothesen sollen jedoch Anreize gesetzt werden, sich das Buch oder einzelne Aufsätze einmal selbst vorzunehmen.

Die vorliegende Buchbesprechung folgt nicht der Gliederung des Bandes (vgl. dazu das Inhaltsverzeichnis). Den Ausgangspunkt der Rezension bildet die spanischen Wirtschaft, wobei ihre gravierenden Strukturschwächen und die besonderen Bedeutung der Sektoren Tourismus und Landwirtschaft zur Sprache kommen. Danach werden Defizite des politischen Systems und die Rol­le der Vierten Gewalt im Kontext der spanischen Demokratie problematisiert.

Daran anschließend werden unter der Überschrift »Das bewegte Spanien« die neuen Bewegungen angesprochen, die die politische Landschaft nach 2008 veränderten. Unter dieser Überschrift wer­den auch zwei zivilgesellschaftliche Bewegungen behandelt, die LGTBIQ-Bewegung und die para­digmatisch durch die ARMH (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica) verkör­perten Bürgerinitiativen für die Anerkennung der Opfer von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur. Un­ter dem Aspekt der gesellschaftlich relevanten Bewegungen seit 2008 wird außerdem auf die Be­deutung der Kirche eingegangen.

Im Anschluss daran wird eine ganz anders gelagerte »Bewegung«, die Spanien verändert hat, be­handelt: die Migration. Zuletzt wird noch ein Thema des »bewegten Spaniens« aufgegriffen, das Viele bewegt hat und bewegt: der Nationalismus in Spanien: der spanische, baskische und katalani­sche und die damit zusammenhängenden Konflikte der politisch-territorialen Ordnung.

Im Fazit (Abschnitt 6) wird auf Basis der Lektüre aller Beiträge ein Gesamtbild der spanische Ge­sellschaft en miniature skizziert und eine resümierende Beurteilung des besprochenen Werkes gege­ben.

2. Zur spanischen Wirtschaft

2.1 Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik

Holm Detlev Köhler unterzieht die spanische Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik einer har­schen Kritik. Er spricht von den aus Zeiten des Franquismus geerbten strukturellen Schwächen und Defiziten, die während der Demokratie nicht abgeändert wurden, und teilweise mit verantwortlich seien für die Krise von 2008-2013. Das folgende Zitat verdeutlicht seine Kritik:

Die spanische Wirtschaft hat seit der nachholenden Industrialisierung in den 1960er Jahren ein Spezialisierungsprofil mit Schwerpunkten auf niedrig qualifizierten und sai­sonabhängigen Berufen und Branchen herausgebildet. Sozialstaat, Erziehung und Be­rufsbildung blieben unterentwickelt, die Banken unzureichend kontrolliert und auf die Immobilien- und Finanzmärkte konzentriert, Tarifparteien und Verhandlungen frag­mentiert, die staatlichen Verwaltungen schwach koordiniert und von korrupt-klientilis­tischen Praktiken durchzogen, die politischen Parteien unsolide finanziert und von der Zivilgesellschaft mit wenig Vertrauen bedacht, die Betriebsgrößenstruktur extrem pola­risiert… (S. 360).

Ein effizientes Wirtschafts- und Entwicklungsmodell müsste folglich ganz anders orientiert sein: weg von dem energieintensiven, kreditfinanzierten Konsummodell mit Tourismus und Immobilien als Leitsektoren hin zu einem innovations- und wissensbasierten nachhaltigen Investitionsmodell (S. 359). Mit einer solchen Umstrukturierung rechnet Köhler jedoch nicht: »… die Entsagung von jeglicher industrieller Strukturpolitik in den letzten Jahrzehnten macht eine notwendige Neuausrich­tung des Entwicklungsmodells unmöglich« (S. 360).

Ein Skandal ist immer noch die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die auf der Höhe der Krise 2013 bei über 50% lag und auch heute noch deutlich über 25% liegt. Dieser Befund ist mehr als nur eine ökonomische Kennziffer: »Der Ausschluss vom Erwerbsleben der Generation, die eigentlich die Zukunft Spaniens gestalten müsste, untergräbt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Erziehung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Kultur« (S. 354).

2.2 Tourismus

Aktuell ist die hohe Relevanz der Sektoren Tourismus und Landwirtschaft im Wirtschaftsgefüge nicht zu leugnen. Raimund Allebrand weist in seinem Beitrag auf die enorme wirtschaftliche Be­deutung des Tourismussektors hin, der 2019 13% des BIP (Bruttoinlandsprodukt) ausmachte und eine Million Beschäftigte verzeichnete. Die tatsächliche Bedeutung des Fremdenverkehrs im BIP wäre aber gegenüber den statistischen Daten, die sich lediglich auf das primäre Tourismusgeschäft innerhalb des Dienstleistungssektors beziehen, noch mehr als zu verdoppeln. Ähnliches gelte für den Anteil der spanischen Tourismusbranche am Arbeitsmarkt. Der indirekte Anteil dürfte rund das Dreifache betragen (S. 459). Bei den indirekten Effekten wäre beispielsweise an Bahnstrecken zu denken, die erst durch den Tourismus rentabel werden oder an Dienstleister wie Wäschereien, die ohne Aufträge von Hotels schließen müssten.

Gleichwohl ist Allebrand die »fatale Abhängigkeit« der spanischen Wirtschaft vom Fremdenverkehr durchaus bewusst. Die spanische Tourismusindustrie habe zwar ihre Fixierung auf Strand und Son­ne hinter sich lassen können und sich erfolgreich diversifiziert, müsse aber noch weiter nach Per­spektiven für eine nachhaltige Entwicklung suchen. »Klima« so der Autor, »wird zukünftig der ent­scheidende Überlebensfaktor für den Fremdenverkehr sein« (S. 433).

2.3 Landwirtschaft

In dem höchst informativen Beitrag von Sabine Tzschaschel wird die sich verändernde Landnut­zung in Spanien auch mit Blick auf die Landwirtschaft und die Folgen der Landflucht faktenreich analysiert. Der Artikel befasst sich des Weiteren auch mit Fragen der Wasserwirtschaft und des Aus­baus erneuerbarer Energien. Jedes dieser Themen hätte eigentlich einen eigenen ausführlichen Bei­trag in dem Sammelband verdient. In dieser Rezension soll es indes nur um die Bedeutung der Landwirtschaft für die spanische Ökonomie gehen, die an folgenden Zahlen ablesbar ist (S. 407ff.).

50% der Fläche Spaniens sind heute noch Agrarland. Der Beitrag der Landwirtschaft zum BIP liegt bei 2,7% und ist damit doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt. 4% der Beschäftigten, 750.000 Personen, sind in 945.000 landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt. Spanien ist der siebtgrößte Exporteur von Agrarprodukten weltweit. Obst und Gemüse, Wein, Oliven, Käse, Fleisch sind die einschlägigen Exportgüter. Extensive Weidewirtschaft auf kargen Böden spielt eine gewisse Rolle und wird als ökologisch sinnvoll eingeschätzt. Die Lebensmittelverarbeitung ist der wichtigste Industriesektor Spaniens mit ca. 500.000 Beschäftigten und 30.000 Betrieben.

Seit einiger Zeit wird das ländliche Spanien als »entleertes Spanien« problematisiert. Nach der frü­heren Kritik an den industriellen Ballungszentren und den zersiedelten Küstenregionen kamen die Probleme des entleerten, ländlichen Binnenlands erst relativ spät zu Bewusstsein. Die Industrialisie­rung seit Ende der 1950er Jahre und die Mechanisierung der Landwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren hatten zur Entleerung des ländlichen Raums geführt. Heute leben in diesem ländli­chen Spanien geschätzte fünf Millionen Spanier:innen ohne ausreichende Grundversorgung und ohne gleiche Lebenschancen. In dem Zusammenhang, auch darauf weist Tzschaschel hin, kam be­merkenswerterweise einem Essay über »Das leere Spanien« (Sergio del Molino 2016; auf Deutsch 2022) eine Initialfunktion zu, da es ihm gelang, die Aufmerksamkeit für das Thema spürbar zu erhöhen und zur Mobilisierung der benachteiligten Regionen, der España vaciada, beizutragen.

3. Zum politischen System

3.1 Polarisierung und Lagerbildung als Problem

Günther Maihold legt eine rigorose Analyse der Probleme des politischen Systems Spaniens vor, die seit den Krisenjahren ab 2008 zugenommen und sich verfestigt hätten. Eine seiner Generalthe­sen ist, dass der frühere Grundkonsens der spanischen Gesellschaft zusehends erodiert und sich eine wachsende Polarisierung bemerkbar macht (S. 42). Die entscheidenden Gründe werden darin gesehen, dass die vermeintlichen Garanten der nationalen Identität und des Zusammenhalts, die Monarchie und die Verfassung von 1978, nicht das geleistet hätten, was von ihnen erhofft oder er­wartet wurde. Die Monarchie als Institution sei durch das Verhalten der Monarchen, besonders durch das Fehlverhalten von Juan Carlos I, geschwächt. Die Verfassung des Autonomiestaats kranke weiter an ihren Geburtsfehlern, die nicht korrigiert wurden. Das Konstrukt eines asymmetrischen Autonomiestaats mit Sonderrollen für die historischen Nationalitäten (Katalonien, Baskenland, Ga­lizien) habe nicht zu einem die Einzelinteressen der Regionen und Nationalitäten übergreifen­dem, integrierendem Verfassungspatriotismus geführt. Dazu komme ein Senat, der »aufgrund seiner unvollständigen Rolle als echte zweite Kammer für den Ausgleich der ver­schiedenen Interessenssphären zwischen den unterschiedlichen Gebietskörperschaften dysfunktio­nal geblieben« sei (S. 26).

Polarisierung und Lagerbildung seien zum gravierenden Problem der politischen Kultur geworden. Polarisierung taucht übrigens wie ein Leitmotiv in vielen Beiträgen des Bandes auf. Maihold weist speziell auf die Konfrontationsstrategien der Parteien hin, die auf Polarisierung statt auf Konsens setzten, und er weist auf die Politisierung der Justiz hin, wo die Besetzung hochrangiger Posten und politische Lagerzugehörigkeit häufig zusammen gehen.

Auch im Beitrag von Nicolaus Werz »Von der demokratischen Transition zu neuen Konfrontatio­nen« ist das Leitmotiv der politischen Konfrontation deutlich zu vernehmen. In gut lesbarer Form werden die Regierungen ab 2004 und die Umstände der jeweiligen Regierungswechsel bis 2020 charakterisiert. Korruptionsskandale spielen dabei keine unwesentliche Rolle. In den Zeitraum fällt auch die Diversifizierung der Parteienlandschaft ab 2013, wobei nach Werz, die »Links-Rechts-Achse im spanischen Parteiensystem« trotzdem äußerst stabil geblieben sei (S. 65). Zugenommen habe aber mit dem Auftreten der links-populistischen Podemos und der rechtspopulistischen Vox die Polarisierung und ein zugespitztes Freund-Feind-Denken (S. 66).

3.2 Medien und Demokratie

Mit der so-genannten Vierten Gewalt, den Medien, befasst sich Helene Zuber. Auch auf diesem Feld findet sich das Element der politischen Einflussnahme und der Polarisierung. Ab Mitte der 1990er Jahre hätten die Journalisten nicht mehr überparteilich berichten können, sondern sich der parteipolitischen Ausrichtung ihrer Geldgeber unterordnen müssen (S. 606f.). Folglich konnten spa­nische Zeitungsleser sich meist »nur noch ein ausgewogenes Bild über die Realität in der Gesell­schaft machen, wenn sie verschiedene Blätter kauften, die unterschiedliche politische Ausrichtun­gen vertraten« (S. 608). Was für den Zeitungsbereich gelte, sei auch bei den audiovisuellen Medien zu beobachten. Beim Privatfernsehen führten Fusionen von Sendern unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung unter dem Dach eines Unternehmens zum Verlust an Vielfalt.

Dazu käme, dass immer mehr Spanier in Medienblasen feststeckten, was eine weitere Ursache für die immer stärkere Polarisierung der Gesellschaft sei (S. 618). Komplementär dazu ist die folgende Einschätzung zu sehen: »Früher beobachteten Journalisten die Realität, in der Ära des Digitalen beobachten sie, wie die Aktualität in den sozialen Netzwerken beobachtet wird. Diese Meta-Obser­vation, die typisch ist für viele spanische Medien, gefährdet die Demokratie« (S. 619).

Erschreckend ist zu sehen, wie hart die Wirtschaftskrise gerade die Presse getroffen hat. Zum Bei­spiel wurden für die auflagenstärkste Tageszeitung Spaniens, El Pais, 2007 noch 435.083 Tagesver­käufe, 2021 dagegen bloß noch 74.370 verzeichnet (S. 612).

3.3 Vergangenheitsbewältigung

Walther L. Bernecker hat sich schon viele Jahre intensiv mit der Vergangenheitsbewältigung (me­moria histórica) in Spanien befasst und tut das auch in seinem fundierten Beitrag zu dem vorliegen­den Band. An dieser Stelle soll wieder nur auf einen Aspekt abgestellt werden, nämlich dass gerade die Vergangenheitsbewältigung zu einem zentralen Zankapfel der politischen Polarisierung gewor­den ist. Viele Jahre hatten die politischen Eliten nach Francos Tod 1975 »in der Frage der Ver­gangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung« an den Tag gelegt (S. 174). Die Amnes­tie von 1977, so das beliebte Wortspiel, ging mit politischer Amnesie einher.

Die Politisierung und Polarisierung setzte in der Regierungszeit José María Aznars ein, und ist sichtbar geworden an der Weigerung des konservativen Partido Popular, an der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuwirken und diese sogar nach Kräften zu behindern (S. 178, 181). Mit der Grün­dung der Partei Vox (2013) nahm der Geschichtsrevisionismus der rechten Kräfte weiter zu: »Jahr­zehnte intensiver historischer Forschung werden beiseitegeschoben, altfranquistische Mythen wer­den in neofranquistischem Gewand als historische Wahrheiten präsentiert.« (S. 195). Auf der ande­ren Seite haben die von dem PSOE (Partido Socialista Obrero Español) geführten Regierungen Ge­setze durchgebracht ‒ 2007 das »Gesetz zur historischen Erinnerung« (Ley de Memoria Histórica) und 2022 das »Gesetz zur Demokratischen Erinnerung« (Ley de Memoria Democrática) ‒, die zwar nicht allen weit genug gehen, die allerdings den Unrechtscharakter des Franco-Regimes eindeutig feststellen, die Präsenz des Franquismus im öffentlichen Raum zurückdrängen sollen und die An­sprüche der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur anerkennen.

An dieser Stelle ist auf den Beitrag Dieter Ingenschays zur »Literatur als Reflex gesellschaftlicher Debatten« hinzuweisen, der unter anderem den Boom der neueren Bürgerkriegsliteratur (1985-2010) behandelt. Die Bürgerkriegsliteratur ab 2000 erweist sich dabei als engagierte Literatur, die sich in die politische und geschichtswissenschaftliche Diskussion einklinkt, und dadurch selbst »Teil dieser Auseinandersetzung geworden« ist (S. 574).

4. »Das bewegte Spanien«

4.1 Protestbewegungen und neue Parteien

Auf die strukturellen Probleme und die Folgen der Krise (2008-2014) hat die Gesellschaft, wie Ju­lia Macher, Journalistin mit Wohnsitz in Spanien, aus eigener Anschauung weiß, mit einem Politi­sierungs- und Mobilisierungsschub reagiert, der in der »Bewegung gegen Zwangsräumungen« (Plattform der Hypothekengeschädigten), der »Bewegung der Empörten« (15-M) und der »Munizi­palbewegung« sichtbaren Ausdruck fand. Mit dem Abflachen der Krise, so ihre Beobachtung, wur­de, was als außerparlamentarische Bewegung begann, zunehmend in das etablierte politische Sys­tem integriert. Aus Podemos, die als »links-populistische« Bewegungspartei begann, wurde im Lau­fe der Jahre eine »klassische linke Partei« (S. 383), wodurch sie für bestimmte politisch linke Krei­se an Attraktivität verlor. Die Frage des Rezensenten, ob Podemos denn als Bewegungspartei auf Dauer hätte erfolgreich bleiben können, wird nicht erörtert.

Auf Ebene der Lokalpolitik hat sich die »Munizipalbewegung« nur in wenigen Städten halten kön­nen und konnte die politischen Verhältnisse nicht tiefgreifend verändern (S. 384f.). Zu den Folgen der Krise gehört aber auch die Gründung der rechtsextremen Partei Vox im Jahr 2013, die »vor al­lem von den Nachbeben des Katalonien-Konflikts« profitierte und »versuchte gesellschaftlichen Unmut in politisches Kapital umzumünzen« (S. 386).

4.2 Frauen- und LGTBIQ-Bewegung

Die Entwicklung der Frauenbewegung und der LGTBIQ-Bewegung seit den 1970er Jahren erläutert Werner Altmann kenntnisreich. Sie »erkämpften sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte ihre Ent­kriminalisierung und eine gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichstellung, wie es sie noch nie in der spanischen Geschichte gegeben hat« (S. 269). Die Resonanz der LGTBIQ-Bewegung in der spanischen Literatur wird übrigens in dem bereits erwähnten Beitrag von Dieter Ingenschay behan­delt (S. 583-589).

In vieler Hinsicht nimmt Spanien in Europa, nicht nur wegen der hohen Demonstrationsbereitschaft seiner Bürger:innen eine besondere Rolle ein. Allein in Madrid sollen nach offiziellen Angaben rund 120.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Weltfrauentag 2020 – trotz Pandemie – auf den Beinen gewesen sein (S. 294). Eine Vorreiterrolle ist auch auf der gesetzgeberischen Seite feststell­bar. Vor allem unter dem sozialistischen Präsidenten José Luis Rodríguez Zapatero (2004 – 2011) wurde Grundlegendes rechtlich neu geregelt. Stichworte sind hier: Schutz vor häuslicher, machisti­scher Gewalt, Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht, künstliche Befruchtung und Präimplantationsdia­gnostik sowie Gleichstellung von Mann und Frau (S. 289-291).

Altmann weist auf innere Konfliktlinien und äußere Bedrohungen hin. Die sich seit Ende der 90er Jahre ausbreitende Identitätspolitik, habe »zu einer Entsolidarisierung der Frauen und sexuellen Minderheiten innerhalb der eigenen communities und gegenüber anderen marginalisierten gesell­schaftlichen Gruppen« geführt (S. 301). Hass in den sozialen Netzwerken und die Gegnerschaft der extremen Rechten setzen diesen Bewegungen von außen zu.

4.3 Bürgerinitiativen zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung

Auf eine andere, wichtige soziale Bewegung kommt Walther L. Bernecker in seinem bereits ange­sprochenem Beitrag »Widerstreitende Erinnerungskulturen in einem gespaltenen Land« zu spre­chen. Die Regierungen nach 1975 kümmerten sich nicht um die Exhumierung, Identifizierung und würdige Bestattung der auf über 100.000 (S. 174) geschätzten Opfer von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur, die im Lande verstreut, anonym verscharrt worden waren. Sie zeigten kein Interesse an der »Aufklärung von politischen Morden und Massenhinrichtungen, die die Aufständischen während des Bürgerkrieges und danach an den Anhängern der Republik verübt« hatten (S. 174f.). Bürgerin­itiativen nahmen sich dann des Themas an. Die erste Initiative dieser Art ging im Jahr 2000 von Emilio Silva aus, führte zur Gründung der »Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erin­nerung« (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) und ähnlicher Platt­formen, die seitdem Druck auf die Regionalregierungen ausüben, endlich erinnerungspolitisch tätig zu werden (S. 181f.).

4.4 Katholizismus und andere Religionen

In den Kontext des bewegten Spaniens lässt sich auch die Frage einreihen, was und wen die Kirche in Spanien heute noch bewegt. Maihold stellt dazu fest, dass der »religiöse cleavage in der Gesell­schaft zunehmend an Bedeutung für das politische Leben« verloren hat (S. 32). Eingehend behan­delt Mariano Delgado die gegenwärtige Bedeutung von Kirche und Religion. Folgt man seinen Ausführungen, dann hat Spanien in der Tat, um es auf eine Kurzformel zu bringen, aufgehört, ka­tholisch zu sein. Religionssoziologisch ist Spanien heute »ein stark säkularisiertes, religiös pluralis­tisches Land mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit, die bei Umfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet wie die Katholiken anderer westlicher Länder« (S. 203f.).

Die meisten Spanier:innen können sicherlich noch als »Kulturkatholiken« angesprochen werden (S. 204). Für katholisch halten sich nach einer Umfrage aus dem Jahre 2021 nur noch 56,6%, wovon die wenigsten praktizierende Katholiken sind. Etwas mehr als 40% bezeichnen sich dagegen als nicht-gläubig, atheistisch, agnostisch oder gleichgültig. Gleichzeitig gibt es aber – trotz aller Auflö­sungserscheinungen des Katholizismus – ein Revival der Volksreligiosität, die etwa an der Attraktivität von Bruderschaften, Pilgerreisen, Wallfahrten, festlichen Taufen und Kommunionen sowie Tierseg­nungen abzulesen ist (S. 232).

Interessant sind die Zahlen zu den Anhängern anderer Glaubensbekenntnisse und Religionen: die Zahl der Protestanten wird auf 1,5 Millionen geschätzt, wovon mehr als die Hälfte freikirchlich oder evangelikal ausgerichtet sein dürften. Gerade bei Einwanderern aus Lateinamerika erfreuen sich diese Richtungen großer Beliebtheit (S. 219). Orthodoxe Christen, etwa 900.00, sind vor allem die rumänischen Einwanderer (S. 223). Dem Islam zugerechnet werden etwa 2,5 Millionen Personen, die hauptsächlich aus Marokko und Algerien stammen. Die Zahl der Juden wird auf etwa 65.000 geschätzt, wovon 45.000 organisiert sind.

Lagerdenken und die Polarisierung finden sich auch bei der Religionspolitik: Nach Delgado wird in keinem anderen Land Europas »um die Laizität des Staates so intensiv und ideologisch gestritten wie eben in Spanien seit der Wahl Zapateros im Frühjahr 2004« (S. 213). Dieser (in Anführungszei­chen) »ideologische Bürgerkrieg« werde erst zu Ende sein, wenn einerseits »die Kirche die von ihr 1975 selbst erwünschten Bedingungen der Moderne restlos akzeptiert« und andererseits die Laizis­ten »jede kulturkämpferische Attitüde des 19. Jahrhunderts endgültig hinter sich lassen« (S. 235).

4.5 Migration

Das Thema Migration wird von dem ausgewiesenen Spezialisten Axel Kreienbrink faktenreich und umsichtig behandelt. Zu begrüßen ist dabei, dass er das Thema nicht auf Asyl und illegale Migrati­on begrenzt, sondern Zu- und Abwanderung insgesamt adressiert. Eine gewisse Orientierung geben die folgenden Zahlen: Im Jahr 2019 erreichte die Zuwanderung nach Spanien einen Rekordwert von 750.000 Personen (S. 249). Insgesamt lag die Zahl der ausländischen Bevölkerung Spaniens Anfang 2020 bei 5,43 Millionen, was bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 47,33 Millionen einem Anteil von 11,5 % entspricht. Zählt man alle in Spanien lebenden Menschen, die nicht in Spanien geboren wurden, erhöht sich dieser Anteil sogar auf 15%.

Von den 5,43 Millionen stammten 34,6% aus der EU (40,1% Europa gesamt), 27,2% aus La­teinamerika (28,6% Amerika gesamt), 22% aus Afrika und 9,2% aus Asien. Die zehn wichtigsten Herkunftsländer waren Marokko (15,9%), Rumänien (12,3%), Kolumbien (5,0%), Vereinigtes Kö­nigreich (4,8%), Italien (4,6%), China (4,3%), Venezuela (3,5%), Ecuador (2,4%), Bulgarien (2,3%) und Honduras (2,2%) (S. 250).

Erst ab 2020 wurden Asyl und illegale Migration zum Problem (S. 245ff.). Hatte es 2015 nur 15.000 Asylanträge gegeben, waren es 2019 bereits 118.000 Anträge, von denen 81% von Lateinamerika­ner:innen (insbesondere aus Venezuela, Kolumbien und Mittelamerika) gestellt wurden. Dreiviertel dieser Anträge wurden abgelehnt, was aber in vielen Fällen nicht bedeutete, dass ein Bleiberecht verwehrt wurde. Die illegale Migration über das Mittelmeer, Ceuta, Melilla und die kanarischen In­seln wird für das Jahr 2016 auf 64.000 Personen beziffert. Davon kam ein Fünftel aus Marokko. Durch Kooperationsabkommen mit Marokko ging dieser Anteil bis 2019 auf die Hälfte zurück.

Die gute Botschaft lautet: Nationale wie internationale Umfragen der letzten drei Jahrzehnte haben für Spanien im Unterschied zu anderen EU-Staaten »eine positive, tolerante Sicht auf Einwanderin­nen und Einwanderer« ausgemacht. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Neigung zur Polarisie­rung diesen Politikbereich auf Ebene der Regierungspraxis bislang aussparte. Kreienbrink stellt für die Jahre 2008-2020 insgesamt eine weitgehende Kontinuität bei den politischen und rechtlichen Maßnahmen fest, unabhängig davon, welche Partei die Regierung bildete. Unterschiede in Einzelpunkten schließt das nicht aus. Und selbst für die sich rassistisch-fremdenfeindlich äußern­de und vor allem gegen Muslime aus arabischen Ländern polemisierende Partei Vox, gehört das Thema bislang nicht zum »Markenkern« (S. 261). Die Gefahr, dass über das Agieren von Vox auch dieses Politikfeld polarisiert wird, ist allerdings nicht zu übersehen.

5. Nationalismen in Spanien

5.1 Spanischer Nationalismus

Fragen des Nationalgefühls und nationaler Bewegungen bilden ein weiteres Kapitel des bewegten Spaniens, auf das im Folgenden eingegangen wird. Xosé Manoel Núñez Seixas befasst sich mit dem spanischen Nationalismus. Anders als sich vermuten ließe, meint er damit nicht nur den zentra­listischen, neo-franquistischen, anti-separatistischen, illiberalen Nationalismus, der zuerst in der Re­gierungszeit von Aznar verstärkt auftrat und heute paradigmatisch von der Partei Vox vertreten wird. Für Núñez Seixas kennzeichnet alle spanisch patriotisch nationalistischen Positionen, dass sie »die Verfassung von 1978 als die legitime Basis für den Erhalt der politischen und territorialen Einheit Spaniens« ansehen (S. 308) und den Artikel 2 der Verfassung zur territorialen Staatsstruktur nicht in Frage stellen. Der Artikel spricht von der »unauflöslichen Einheit der spanischen Nation als ge­meinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier« (zitiert nach Maihold in diesem Band, S. 22).

Vereinfacht darf man die Auffassung von Núñez Seixas wohl so verstehen, dass im spanischen staatsnationalistischen Diskurs für Separation und Sezession kein Platz ist. Unter dieser Prämisse sind dann durchaus verschiedene Konzepte entstanden, wie Vielfalt und Einheit zusammenzubrin­gen wären, etwa in Formeln wie »Nation aus Nationen«, »Land aus Ländern«, »vielfältiges Spani­en«, aber letztlich, so das Fazit, fehle es immer noch an einer tragfähigen Formel und an einfallsrei­chen theoretischen und politischen Lösungen (S. 326f.). Welche Lösung der Autor selbst favorisieren würde, bleibt offen. Wichtig festzuhalten ist auf jeden Fall der folgende Befund: »[…] im Alltag sind die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel« (S. 316) und in der Regel gibt es heute keinen »wirkli­chen Konflikt zwischen ‚ethnischen‘ Gruppen, auch nicht zwischen ‚einheimischen‘ Spaniern und nicht-europäischen Einwanderern« (ebd.).

5.2 Katalanischer Nationalismus und Katalonienkonflikt

Carlos Collado Seidel stellt die Frage, die Viele teilen werden, die auf den Katalonienkonflikt schauen: »Wieso strebt eine hoch industrialisierte Region, die im Rahmen einer demokratischen Verfassung über weitgehende Autonomie verfügt, mit derartiger Vehemenz in die Unabhängigkeit?« (S. 99). Detailliert und in gut nachvollziehbarer Weise zeichnet Collado Seidel den Konflikt zwi­schen Katalonien als Teil der spanischen Nation und Katalonien als eigener Nation nach ‒ von den Anfängen bis zu seiner permanenten Zuspitzung ab 2000 und insbesondere von 2010 bis 2017, dem Jahr des gescheiterten Sezessionsversuchs, dem eine gewisse Ernüchterung und Beruhigung folgte. Am Ende steht bei Collado Seidel die Annahme, dass der Konflikt nicht einfach rational zu lösen ist, da das spanische und das katalanische Nationsverständnis nicht vereinbar seien: »Aus spani­scher Perspektive ist Katalonien ein integraler Bestandteil der spanischen Nation, während aus kata­lanischer Sicht ein eigener, hiervon losgelöster nationaler Bezugsrahmen sehr wohl existiert« (127f.). Dazu kommt, dass Nationalismen sich »vor allem aus Emotionen und Projektionen« spei­sen und »damit rational nicht zu fassen sind« (ebd).

Dem möchte der Rezensent hinzufügen, dass die zitierte katalanische Sicht in ihrer separatistischen Variante ‒ nach den Zahlen, die bekannt sind ‒, nicht von der Mehrheit der in Katalonien lebenden Bevölkerung geteilt wird. 1976, im ersten Jahr nach Francos Tod, sprachen sich Umfragen zufolge nur zwei Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit aus, im Jahr 2006 erst 14% (Zahlen nach B. Aschmann: Beziehungskrisen, 2021 und M. Clua i Fainé: Identidad y política en Cataluña, 2014). Die als relativ hoch angenommene Zustimmung zur Option einer Abspaltung ab 2013 ist mithin kein natürliches Faktum, sondern das Ergebnis eines politischen und sozialen Prozesses (mit einer langen Vorgeschichte). Das Hochkochen nationalistischer Emotionen in Katalonien hat schon meh­rere Konjunkturen erlebt. Die jüngste Konjunktur und Krise sollte nicht allein auf rational nicht zu fassende Emotionen zurückgeführt werden, wenngleich diese für ihre Dynamik wesentlich waren. Denn die Zuspitzung hing nicht zuletzt vom Kalkül und Agieren bestimmter politischer Akteure auf gesamtstaatlicher und katalanischer Ebene ab, denen an politischer Polarisierung gelegen war. Von der Verschwörung der verantwortungslosen Verantwortlichen sprach der Kolumnist und Schriftstel­ler Jordi Amat in diesem Zusammenhang (vgl. seinen Essay »La conjura de los irresponsables«, 2018). Auch das gehört zur Antwort auf die von Collado Seidel eingangs gestellte Wieso-Frage dazu.

5.3 Baskischer Nationalismus und das Ende des ETA-Terrorismus

Den Fall des baskischen Nationalismus von 2005 bis 2021 behandelt Ludger Mees ausführlich und mit großer Sachkenntnis. Hier wird nur ein Punkt herausgegriffen: das definitive Ende des ETA-Terrorismus nach einem halben Jahrhundert politisch motivierter Gewalt. Es ist interessant, dass für das Ende der Gewalt nach Ansicht von Mees eine Persönlichkeit von besonderer Bedeutung war: Arnaldo Otegi, der heutige Koordinator des linksnationalistischen Parteienverbands EH Bildu. Ihm wird wesentlich das Verdienst zugeschrieben, einen Wandel im Denken der radikalen baskischen Nationalisten bewirkt zu haben mittels eines Narrativs, wonach die Basken den nationalistischen Zielen nicht näher kämen, solange ETA aktiv sei. Stattdessen wäre eine breit gefächerte demokrati­sche Mobilisierung für die baskischen Freiheitsrechte nötig. Das beinhaltete die unmissverständli­che Botschaft an die ETA sich aufzulösen: »Der induzierte Selbstmord ermöglichte den ETA-Para­militärs wenigstens, öffentlich das von Otegi angebotene Narrativ vom einseitig beschlossenen Rü­ckzug als letzten, selbstlosen Beitrag zum Kampf des baskischen Volkes zu inszenieren« (158f.). Der Philosoph Fernando Savater, der selbst Morddrohungen der ETA bekommen hatte, konnte die­ser Inszenierung wenig abgewinnen: »Ohne unter der Kapuze zu zucken, versichern sie uns, durch den bewaffneten Kampf hätten wir den glücklichen Augenblick erreicht, da wir auf den bewaffneten Kampf verzichten können« (zitiert in Ingendaay in diesem Band S. 558). Dennoch war es, nach Mees, überhaupt nur vermittels dieses Narrativs möglich, die Spirale der Gewalt zu stoppen und eine Ausfahrt aus dem Labyrinth, so die Formulierung im Titel seines Beitrags, zu finden.

Um den langen Lebenszyklus der ETA zu verstehen, ist der Hinweis darauf, dass sich ein bedeuten­der Sektor der baskischen Gesellschaft – aktiv oder passiv – an der Legitimation der ETA-Gewalt beteiligte, wichtig. »ETA waren nicht nur die Kommandos, sondern auch die willigen Mitläufer. Dieses Phänomen muss einer der zentralen Themen bei jedem Versuch der Vergangenheitsaufarbei­tung und -bewältigung sein« (S. 164). Damit einher geht die Aufgabe zu verstehen, was dieser über Jahrzehnte sozial mitgetragene Terrorismus für die baskische Gesellschaft im Alltag bedeutet hat. In dem Roman »Patria« von Fernando Aramburu (2016; auf Deutsch 2018) finden sich die Lebensver­hältnisse jener Jahre im Baskenland plastisch und exemplarisch verarbeitet. Genau diesem Roman und seiner Bedeutung für die Debatten um ETA und den Terrorismus in Spanien ist der Beitrag von Paul Ingendaay im vorliegenden Band gewidmet (S. 541-561).

6. Fazit

6.1 Das Spanienbild des Bandes

Die Beiträge des Bandes fördern einerseits ein Spanienbild zu Tage, das durch wirtschaftliche und politische Sackgassen und Fehlentwicklungen, durch Krisen, Konflikte und Polarisierung gekenn­zeichnet ist. Ein besonders dunkler Fleck ist darin die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Dem steht auf der helleren Seite ein bewegtes, vielstimmiges Spanien gegenüber, das von den nationalen, regiona­len und kommunalen Protestbewegungen, die in der Krise von 2008 aufkamen, über die Frauen-, LGTBIQ- und ARMH-Bewegung bis zur Bewegung des España vaciada reicht.Viele zivilgesell­schaftliche Anliegen fanden Eingang in eine Reihe liberaler Gesetze nach 2004. Positiv zu bewerten ist außerdem die derzeitige Abwesenheit von Gewalt im Baskenland und in Katalonien und die Be­ruhigung der jeweiligen Konflikte. Besonders hervorhebenswert und ein Glanzlicht im Spanienbild ist nach Meinung des Rezensenten, dass bei allen Konflikten und bei aller Polarisierung auf der po­litischen Ebene, »im Alltag die friedliche Koexistenz und das Zusammenleben von Personen mit unterschiedlichen regionalen und sprachlichen Hintergründen die Regel« sind (S. 316).

6.2 Der Band »Spanien heute« – ein Resümee

In dem Sammelband werden viele Fragen zur Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Spaniens nüch­tern und kompetent abgehandelt. Übergreifend gilt, dass die Autorinnen und Autoren erfreulicher­weise stets auch die politische Dimension ihres Gegenstandes im Auge haben, selbst bei Themen wie Tourismus, Religion, Sport oder Literatur. Insgesamt kann von einer wissenschaftlich abgesi­cherten, problemorientierten, kritischen Sicht auf Spanien im Jahr 2022 gesprochen werden. Wer sich tiefer gehend über die spanischen Verhältnisse themenspezifisch oder generell informieren möchte, bekommt mit dem vorliegenden Sammelband eine ausgezeichnete Grundlage.

Wünsche der Art, dass manche Themen hätten eingehender behandelt werden sollen (z.B. die West­sahara-Frage) oder weitere Themen noch in den Band gehört hätten (z.B. die sozialen Sicherungs­systeme oder das Bildungssystem) stehen jedem frei. Angesichts der Grenzen eines solchen Sammelbandes, versteht es sich allerdings von selbst, dass nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Insistieren würde der Rezensent nur in einem Punkt. Insgesamt wäre, über den hervorragenden Beitrag von Sabine Tzschaschel zur Landnutzung hinaus, noch weit mehr Aufmerksamkeit für das Themenfeld Nachhaltigkeit, Klimawandel, Umweltbewe­gung und Umweltpolitik, Energiewende und Energiepolitik (samt Atomausstieg) zu wünschen ge­wesen. In der nächsten Auflage von »Spanien heute« wird diesen Themen mehr Raum gegeben werden müssen. Ein weiterer Wunsch für die nächste Auflage wäre, die Autor:innen zu ermuntern, wo immer möglich, Vergleiche mit der jeweiligen Situation in anderen Ländern, besonders aber mit Deutschland, anzustellen. Denn das Verstehen anderer Verhältnisse wird durch den Vergleich mit Bekanntem entscheidend erleichtert und oft erst möglich.


Walther L. Bernecker und Carlos Collado Seidel (Hgg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. 6., vollständig neu bearbeitete Auflage. Verlag Klaus Dieter Vervuert: Frankfurt am Main 2022; ISBN: 978-3-96869-280-7

Das Buch ist beim Verlag auch im Epub-Format erhältlich.



Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten

Faktisches und Erdachtes in der Exil-Geschichte vom spanischen Kommunisten in der DDR und seiner Tochter

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Ein in der deutschen Öffentlichkeit wenig präsentes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte bildet den Aufhänger des erfolgreichen, preisgekrönten Romanerstlings, der 1981 in Madrid geborenen Schriftstellerin Aroa Moreno Durán: das Exil republikanischer, insbesondere kommunistischer Bürgerkriegsflücht­linge in der DDR. In Spanien erschien der Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, bereits 2017. Auf Deutsch ist er in der vorzüglichen Übersetzung von Marianne Gareis im Jahr 2022 erschienen.

Diese Buchbesprechung geht über den üblichen Rahmen einer Rezension hinaus, insofern gefragt wird, wie historische Fakten und Erdachtes im Roman ineinandergreifen und inwieweit der Roman selbst etwas beiträgt zum besseren Verständnis der Lebensbedingungen und Prägungen der spanischen Emigranten und ihrer Kinder. Da es inzwischen einen beachtlichen Stand an historischem Wissen zu den spanischen Asylsuchenden gibt, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der SBZ und dann in der DDR im Exil lebten (vgl. zur Literatur Abschnitt 7), kann eine Antwort auf diese Fragen versucht werden. Da die Autorin selbst in mehreren Interviews ihre intensive Recherchearbeit betont hat (vgl. Strode 2018; Alvite 2019; Whittemore 2021), ist bei ihr von einem reflektierten Umgang mit der Zeitgeschichte auszugehen. Bevor es um diese Fragestellung gehen kann, sind Inhalt und Struktur des Buches sowie das historische Wissen über das Exil in der DDR zu skizzieren.

2. Ein erster Überblick

Der Roman erzählt eine doppelte Exil-Geschichte: einer kleinen Zahl spanischer Republikaner, die meisten davon Kommunisten, die nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) fliehen mussten und nicht nach Franco-Spanien zurückkehren konnten, wurde in der DDR Asyl gewährt (für viele das zweite oder dritte Exil). Im Roman holt einer jener Kommunisten seine Frau aus Spanien nach und gründet kurz nach der Gründung der DDR in Ostberlin eine Familie. Zur Familie gehören zwei Töchter, Katia und Martina. Die erste wird 1950, die zweite 1953 geboren. Beide wachsen in der DDR auf. Katia, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, verlässt 1971 ihre Heimat ‒ «Republikflucht» in der Terminologie der DDR. Sie lässt ihr Land, Berlin, Fa­milie und Freunde zurück, um mit einem jungen Mann aus Backnang (bei Stuttgart) ein neues Le­ben zu beginnen. Damit beginnt die zweite Exil-Geschichte, diesmal als Ost-West-Geschichte. Westdeutschland wird Katia nicht zur neuen Heimat, sondern im Gegenteil zunehmend als Fremde und ungeliebtes Exil erlebt. Mit der Zeit führt das in eine Depres­sion. Land und Leute werden immer stärker abgelehnt und die verlorene Heimat wird im Gegenzug nostalgisch erinnert. Dazu kommt, dass ihre sich als heillos erweisende Entscheidung nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familie in der DDR verheerende Folgen hatte. Das muss sie erkennen als sie 1991, also nach der Wiedervereinigung, ihre Familie in Berlin aufsucht. Sie steht vor einem Scherbenhaufen. Was darauf folgt, bleibt offen, ein Neuanfang scheint nicht ganz ausge­schlossen.

Drei für Romane nicht untypische Fragenkomplexe spielen in dieser Erzählung eine gewisse Rolle: die ungewollten und unvorhersehbaren Folgen irreversibler Entscheidungen, die Verzahnung von großer Geschichte (spanischer Bürgerkrieg, Eiserner Vorhang, Kalter Krieg, Mauerbau, Wiederver­einigung) mit den Lebensläufen des Romanpersonals sowie der Komplex von Herkunft, Heimat, Fremde, Integration und Identität.

Das Buch besteht aus vier Teilen und einem kurzen nicht betitelten Vorspann. Die Überschriften lauten: Der Osten (Zeitraum 1956 – 1971), Niemandsland (1971), Drüben (1972 – 1990), Vaterland (1992). Die Teile sind weiter unterteilt in kurze Abschnitte jeweils versehen mit einer Überschrift, einer Ortsangabe und einer Jahreszahl.

Die Zeit von 1956 bis 1990 wird von Katia als Ich-Erzählerin dargeboten. Von der Art her wirkt es wie ein Aufschreiben der Erinnerungen zum Zweck der Selbstvergewisserung. Die Aufzeichnung richtet sich vom Gestus her folglich nicht an ein anonymes Publikum, sondern ist für sie selbst, und vielleicht noch für eine vertraute oder vertrauenswürdige Person, bestimmt. Das Ich erinnert, was die Erinnerungsübung hergibt, und das muss bekanntlich weder vollständig noch verlässlich sein. Die Ich-Er­zählerin reflektiert die Selektivität persönlicher Erinnerungen: «Zwischen Gefühl und Erinnern besteht eine elektronische Spannung […]. Je stärker das Gefühl, desto leichter bleibt ein Ereignis in Erinnerung. Das Gefühl ist der Filter…» (S. 50).

In dem erwähnten zweiseitigen Vorspann und im letzten Teil des Romans, Vaterland, ist es nicht die Ich-Erzählerin, sondern eine distanziertere Erzählstimme, die das Wort hat. Genauer: Es wird von Katias Handeln, Denken und Fühlen berichtet so als beobachte sie sich selbst von außen. Das könnte so interpretiert werden, dass die Autorin damit zeigen will, dass die Protagonistin am Ende der Geschichte zur Selbstdistanzierung in der Lage ist. Dem Romanende folgt eine Seite mit nur einem ein­zelnen Satz:

Mehr als dreißig Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer existieren auf der Welt immer noch mehr als fünfzehn Mauern, mit denen auf gewaltsame Weise versucht wird, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken. (S. 173)

Auf Seite 175 findet sich eine Dank überschriebene Passage, die an erster Stelle Mercedes Álvarez und Núria Quevedo gilt. Dieser Hinweis ist aufschlussreich, da es sich bei diesen beiden Frauen um in der DDR groß gewordene Töchter namhafter spa­nischer Kommunisten (Ángel Álvarez Fernández und José Quevedo) handelt. In einem langen Gespräch, das als Buch publiziert wurde, hatten die beiden Frauen schon im Jahr 2004 über ihr Leben und das ihrer jeweiligen Eltern Auskunft gegeben (Álva­rez und Quevedo 2004). Auch die Wissenschaft hat sich für sie als Interviewpartner interessiert (Drescher 2008, Denoyer 2011). Ohne die Begegnung mit diesen «Töchtern von Kommunisten» hätte es den vorliegenden Roman von Aroa Moreno Durán nicht gegeben.

3. Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen im Roman

Die Hauptperson und Ich-Erzählerin, Katia, wird in Ostberlin am 21. Februar 1950 geboren (S. 50 und S. 103). Die Erinnerung an die Geschehnisse von 1956 bis 1991 erfolgt weitgehend chronologisch. Nur hier und da fließen Informationen aus anderen Zeiten, von anderen Orten und über andere Personen ein.

Katias Eltern sind Spanier, die in Ostberlin in beengten Verhältnissen im Exil leben. Katia hat eine drei Jahre jüngere Schwester, Martina. Ihr Vater, Manuel, ist überzeugter, moskautreuer Kommu­nist, der der DDR dankbar für das gewährte Asyl ist. Vom Vater wird, was seine politische Haltung angeht, erinnert, dass er sich sehr aufregen konnte, wenn es um die deutsche Ostpolitik ging, die er ablehnte. Besonders echauffiert er sich als Willy Brandt 1970 den Friedensnobelpreis erhält. «Glaub mir, Isabel, das ist der Todesstoß für alles, an das wir glauben. Der Todesstoß, Isabel» (S. 60).

Isabel, der Mutter, liegt wenig an der Partei und Politik. Sie bringt ihren Kindern das Beten und das «mea cul­pa» bei (vgl. S. 56). Sie weigert sich Deutsch zu lernen, ist schlecht integriert, leidet viel und erlebt das Exil als Fremde. Auf Details zur Geschichte der Eltern, besonders des Vaters, wird später im ge­schichtlichen Kontext noch näher eingegangen.

Erfahrungen mit Kontrolle und Überwachung in der DDR und einer Atmosphäre, in der jedes Wort bedacht werden muss, weil eine latente Gefahr der Denunziation besteht, sind sehr präsent in den Erinnerungen Katias. Mit Vorbedacht werden in dem Roman auch Spuren gelegt, die sich dann später in Verbindung mit der Tätigkeit des Vaters als Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi bringen lassen. Zu einem Treffen der Familie mit DDR-kritischen Exilspaniern in Leipzig erinnert Katia: «Es war Papá der sagte, es reicht, Leute, wir müssen dieser Republik dankbar sein. Wir haben sie nie wiedergesehen» (S. 21). Ein weiteres Beispiel: Nach einer Begegnung in Begleitung ihres Vaters mit einem eigenwilligen spa­nischen Exilanten, der als Dozent an der Humboldt Universität lehrte, muss sie feststellen, dass die­ser schon wenig später nicht mehr an der Humboldt-Uni unterrichtete (S. 75).

Das Klima der Überwachung ist greifbar. Durchaus subtil wird auf die DDR als Überwachungsstaat auch in einer Szene hingewiesen, in der Katia im Unterricht unter der Bank in dem berühmten Roman von Anna Seghers «Das siebte Kreuz» liest. Als der Dozent sie darauf anspricht, was sie denn da lese, ist sie gerade an folgender Stelle des Romans:

Die Angst, die mit dem Gewissen nichts zu tun hat, die Angst der Armen, die Angst des Huhnes vor dem Geier, die Angst vor der Verfolgung des Staates. Diese uralte Angst, die besser angibt, wessen der Staat ist, als die Verfassungen und Geschichtsbücher (S. 46).

Ungeachtet dieser Wahrnehmung von Kontrolle und Überwachung, ist ihr zentraler Bezugspunkt ‒ vor dem Mauerbau und auch noch danach ‒ die kleine Familie, mit offenbar wenig Außenkontak­ten, weder zu Spaniern noch zu Deutschen. Die Familie ist ihr Heim. Ende der sechziger Jahre, An­fang der siebziger Jahre findet eine Öffnung statt. Katia hat zu studieren begonnen und hilft auch bei der Vorbereitung der Weltfestspiele der Jugend und Studenten mit. In diesem Kontext findet sie zudem eine gute Freundin, Julia, eine Kubanerin. Katia scheint auf einem guten Weg, sich in die DDR-Gesellschaft zu integrieren.

Im November 1969 taucht dann ein Student aus Westdeutschland in Ostberlin auf, Johannes aus Backnang, der sich für sie interessiert und sich auch in den nächsten zwei Jahren um sie bemüht. 1971 lässt Katia dann Familie, Studium und Freundin zurück und «macht rüber». Genauer: Bezahlte Fluchthelfer (finanziert von den Eltern Johan­nes‘) ermöglichen ihre Flucht über die Tschechoslowakei und Österreich in die Bundesrepublik.

Katia tut sich mit der neuen Umgebung schwer, die zunehmend als feindliche Fremde empfunden wird. Gewissensbisse kommen dazu. Als sie um 1980 in einem Telefonat die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält, steigert sich ihr Leid noch weiter. Sie bereut ihre irreversible Entscheidung. Trotz schwäbischer Normerfüllung (Heirat, Haus, zwei Kinder, zwei Autos), entfernt sie sich zuneh­mend innerlich von dieser Umgebung, zieht sich mehr und mehr zurück, wird depressiv und initiativlos. Sie entwickelt eine starke Abneigung nicht nur gegen die bundesrepublikanische Gesell­schaft, sondern auch gegen Johannes, ihren Partner und Vater ihrer Kinder. Die DDR wird zuneh­mend nostalgisch als verlorene Heimat empfunden. Am 4. Oktober 1990 kommt es, gut von der Autorin gewählt, einen Tag nach dem Tag der Deutschen Einheit zur Scheidung (S. 148).

Integration und Identitätsfindung sind gescheitert. Katia ist psychisch krank. Nur auf der Folie ihrer misslungenen Identitätsbildung, ihrer Schuldgefühle und Depression erscheinen die Schuldzuschrei­bungen an ihr persönliches Umfeld und die Gesellschaft der Bundesrepublik dem Rezensenten stimmig. Für ihre Hei­matlosigkeit und Depression findet die Ich-Erzählerin eindrückliche sprachliche Verdichtungen. Dazu einige Beispiele:

«Wenn der Krieg kalt war, dann war ich eisig» (S. 125).

Zur Nachricht vom Tode ihres Vaters schreibt sie « … diese Information, die mich wie ein schwerer Stein in einen dicken Morast hineinzog, in einen Kopf, der für immer wirr war, düster und schwarz» (S. 131).

Zum lustlosen Akt mit dem inzwischen ungeliebten Gatten wird erinnert: «Zwei Körper im Wider­streit. Johannes packte mich kraftvoll. Wir umarmten uns einige Minuten lang. Und dann ging alles ganz langsam. Zu langsam» (S. 133).

Zu Liebesverlust und Entfremdung von Johannes heißt es «[…] dass ich tief in meinem Inneren ei­nen Groll gegen Johannes hegte, weil er mich aus allem herausgerissen hatte, was mein Leben ge­wesen war» (S. 144).

Knapp und zugespitzt formuliert Katia ihre Desillusionierung: «Johannes, ich gebe alles für dich auf, Johannes, du hast mir alles genommen, Johannes, es gibt keine Grenzen, Johannes, Mauer» (S. 149).

Bei der Scheidung geht ihr (nostalgisch-pathetisch) durch den Kopf: «Ich war Kind eines antifa­schistischen Landes, eines Landes, das an die Befreiung glaubte, eines unter Druck gesetzten und verarmten, eines bäuerlichen und sicheren Landes, und irgendwie musste ich mich auflehnen und dieses andere Land verlassen» (S. 150). Es ist ihr bewusst, dass es sich um eine «wirre Gedankenkette» handelt, zumal es zu dem Zeitpunkt das eine Land, die DDR, schon nicht mehr gibt.

Nach dem Mauerfall 1989 dauert es noch zwei Jahre bis sie ihre Mutter und Schwester auf­sucht. 1991 kommt es zum Finale in Berlin: Wir erfahren, was seit Katias Weggang vor 20 Jahren alles passiert ist, wovon sie nichts wusste. Ihre Mutter hat ihren Weggang nie verkraftet und däm­mert jetzt im Rollstuhl dahin, betreut von Martina. Ihr Vater wurde offenbar kurz nach und wegen ihrer Flucht verhaftet und starb nach langer Haft (nicht vor 1981 jedenfalls) als verzweifelter lini­entreuer Kommunist in einem Gefängnis der DDR. Stasi-Akten über ihren Vater belegen, dass die­ser seit 1962 als Informeller Mitarbeiter der Stasi andere Exilspanier bespitzelte.

Die Geschichte endet im Jahr 1991. Das letzte Wort des Romans ist Pojechali. Dieses russische Wort war bereits einmal vorgekommen als Katia die DDR verließ: «Pojechali, sagte ich mir, los geht‘s. Wie der Kosmonaut Juri Gagarin an Bord der Wostok I ging ich fort, ohne zu wissen, dass ich, wie er, Gott auch nicht finden würde dort drüben» (S. 86). Wofür dieses Wort des Aufbruchs am Ende des Romans steht, ist nicht sicher: vielleicht für einen Neuanfang. Nimmt man den ersten Satz des Romanvorspanns dazu, «Ka­tia Ziegler nimmt die Kappe des Füllfederhalters ab, mit dem sie alle wichtigen Dokumente ihres Lebens unterschrieben hat» (S. 9), dann könnte das bedeuten, dass der erste Schritt des Neuanfangs im Aufschreiben ihrer Erinnerungen liegt.

Nachdem der Gang der Handlung soweit bekannt ist, soll als Nächstes der Stand der Geschichtswissenschaft zum Thema der spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR kurz vorgestellt werden.

4. Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR – ein Destillat

Erst kurz nach der Jahrtausendwende setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema ein (Heine 2001). Es folgte eine beachtliche Zahl an akademischen Arbeiten. Bereits 2012 ist ein Stand der Forschung erreicht, der ein Gesamtbild von den Exilspaniern in der DDR erlaubt. Die Schwerpunkte und Fragestellungen der Arbeiten sind unterschiedlich, wie es auch in Detailfragen Unterschiede gibt. Dennoch kann von einem Gesamtbild ausgegangen werden, das allgemein geteilt wird.

Es ist zunächst wichtig, zwei Gruppen von Exilspaniern im Zeitraum 1945-1956 zu unterscheiden: Die erste Gruppe bilden die Spanier, die sich nach dem Ende der Naziherrschaft 1945 in der SBZ und dem Ostsektor Berlins befanden, die fast alle «im Spanischen Bürgerkrieg Soldaten der Repu­blik» gewesen waren (Uhl 2004, S. 235). Dazu gehörten typischerweise auch die Spanier, die aus ihrem Exil in Frankreich zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht wurden und in der Regel für die Rüstungsindustrie hatten arbeiten müssen (zu den Zwangsarbeitern in den KZ-Außenlagern vgl. Meerwald 2022 und die Rezension dazu im Spanienecho). Diesem Personenkreis gestattete die So­wjetunion nach der Einnahme Berlins, zurück nach Frankreich oder in die Sowjetunion zu gehen oder eben in Berlin zu bleiben (Alted Vigil 2002, S. 143). Dieser Personenkreis wäre um weitere Elemente zu erweitern, etwa freiwillige Vertragsarbeiter aus Franco-Spanien oder pro-franquistische Spanier auf deutschem Boden. Die Schätzungen der Gruppengröße liegen bei 40-50 Personen (Ei­roa 2018, S. 145) bzw. einigen Dutzend (Kreienbrink 2005, S. 319).

Der Kern dieser Gruppe, der sich als republikanisch und kommunistisch verstand, formierte sich ab 1947 im Ausschuss der Spanisch-Republikanischen Emigration/Opfer des Faschismus, kurz ERE (Emigración Republicana Española) (Uhl 2004, S. 236). Nach Angaben dieser Organisation im Jahr 1948 zählte sie etwa 35 Personen (Kreienbrink 2005, S. 319). Die Leitung der Organisation lag zu­nächst bei José Quevedo. Der ERE wurde allerdings die Anerkennung seitens der SED und der spa­nischen KP verwehrt. Dolores Ibárruri, damals Generalsekretärin der KP Spaniens, ließ wis­sen, wie es in einem oft zitierten Brief an Wilhelm Pieck (Vorsitzender der SED) vom 9.9.1947 heißt: «[…] Sogar solche, die in Konzentrationslagern waren und nicht nach Frankreich mit allen anderen gefahren sind, muss man mit Vorsicht behandeln. Jedenfalls, wir können keinen einzigen unter ihnen garantieren. Deswegen möchten wir Euch bitten, solche Spanier nicht zu benutzen, da sie politisch überhaupt nicht zuverlässig sind» (zitiert hier nach Poutrous 2004, S. 364). Die ERE wurde dann 1949 aufgelöst. Es wurde den Mitgliedern dieser Gruppe danach verwehrt, in die PCE (Partido Comunista de España) oder die SED einzutreten, aber es wurde auch kein Mitglied dieser Gruppe aus der DDR ausgewiesen (Drescher 2008, S. 36).

Die zweite Gruppe spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge kam 1950 in die DDR als Folge der vom französischen Staat im September 1950 angeordneten Polizeiaktion namens «Opération Boléro-Paprika», die gegen Mitglieder ausländischer kommunistischer Parteien, vor allem der spanischen KP gerichtet war. 292 Personen aus zwölf Nationen wurden festgesetzt, darunter 251 Spanier. Im Kalten Krieg wur­den die spanischen Kommunisten nicht mehr als antifranquistische Opposition geschätzt, sondern als stalinistische fünfte Kolonne betrachtet. «Schlussendlich wurden infolge der ‚Operation Bolero-Paprika‘ 176 Spanier verhaftet und die Mehrheit in Korsika oder Algerien unter Hausarrest gestellt. 33 von ihnen wurden jedoch vom Innenministerium über Straßburg sofort in die DDR ausgewiesen. Einige Monate später erfolgte die Familienzusammenführung in Dresden» (Denoyer 2011, S. 98). Die Operation Bolero-Paprika ist mehrfach beschrieben worden (Heine 2001, Poutrous 2004, Uhl 2004, Kreienbrink 2005, Drescher 2008; besonders ausführlich in Denoyer 2017, S. 29-100; Eiroa 2018 befasst sich mit dem Exil spanischer Kommunisten in der DDR und in den anderen sozialisti­schen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang).

Im Mai 1951 wurden für das Kollektiv (ein Ausdruck, den sowohl PCE als auch SED verwendeten) in Dresden 85 Personen nachgewiesen: 31 Männer, 21 Frauen, 33 Kinder/Jugendliche. Diese Spanier wurden grob gesprochen gut in der DDR behandelt, bekamen Arbeit und Wohnung und wurden als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Die vergleichsweise gute Behandlung dieser kommunisti­schen Exilanten ist auch mit Blick auf die Legitimation der DDR und ihren Gründungsmythos als antifaschistischer Staat zu sehen. Der Kampf deutscher Kommunisten in den internationalen Briga­den und die bemerkenswerten Karrieren ehemaliger deutscher Spanienkämpfer in der Politik der DDR und nun die Aufnahme der aus Frankreich ausgewiesenen ehemaligen Waffenbrüder in der DDR, gehören in dasselbe Narrativ (ausführlich dazu Uhl 2004). Denoyer spricht in diesem Zusam­menhang davon, dass die «Spanier von der DDR-Führung teils in erheblichem Maße instrumentali­siert [wurden], um aus ihrer Präsenz eine gewisse Legitimation sowie einen Prestigegewinn sowohl auf internationaler Ebene als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung ableiten zu können» (Denoyer 2011, S. 102).

Gleichwohl wurden auch diese ExilspanierInnen überwacht und kontrolliert, von der KP Spaniens, der SED und je nachdem wurde auch noch das Ministerium für Staatssicher­heit eingeschaltet. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Mitglieder des Dresdner Kollektivs auch «von ihren eigenen Leuten streng überwacht» wurden (Uhl 2004, S. 243). In Dresden bestand das größte Kollektiv kommunistischer Exilspanier. Daneben gab es aber auch ein kleineres Kollektiv in Ber­lin (Chmielorz 2016). 1960 wurde ein drittes Kollektiv in Leipzig gegründet (Denoyer und Fa­raldo 2011, S. 194), das hier weniger interessiert, weil es dort nicht mehr um Bürgerkriegsflüchtlin­ge geht, sondern vor allem um Studenten, «die in Spanien aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen hatten» (Kreienbrink 2005, S. 324).

Bis 1968 kann von einer engen Zusammenarbeit von PCE und SED gesprochen werden. Nach dem Prager Frühling und dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei verschlech­tern sich die Beziehungen zwischen der inzwischen eurokommunistischen PCE und der moskau­treuen SED (vgl. dazu Denoyer und Faraldo 2011, S. 190-197). Dieser Konflikt führte innerhalb der PCE zu Spannungen, Parteiausschlüssen und Neugründungen. Er spaltete auch die Kollektive der Exilspanier in Dresden und Berlin, wobei die meisten Mitglieder weiterhin die prosowjetische Li­nie vertraten und die offizielle Parteilinie Santiago Carrillos verurteilen. Diese Auseinandersetzung erschwerte das Zusammenleben in den Kollektiven (Denoyer und Faraldo 2011, S. 194 f.). Die eine Seite redete nicht mehr mit der anderen und man ging sich aus dem Weg (Drescher 2008, S. 63-68 und für das Berliner Kollektiv Chmielorz 2016). Das MfS kontrollierte und beobachtete die Mitglieder der Kollektive auch mit Hilfe spanischer Informeller Mitarbeiter (Denoyer und Faral­do 2011, S. 96). «Die endgültige Distanzierung zwischen der SED und der PCE erfolgte im Jahr 1973, als die Regierung der DDR mit dem franquistischen Spanien diplomatische Beziehungen auf­nahm» (Denoyer und Faraldo 2011, S. 197).

5. Geschichte im Roman und Geschichtswissenschaft

5.1 Was wir üben den Vater erfahren

Besonders viel weiß Katia nicht über ihren Vater: «Papá erzählte uns nichts, weil auch niemand fragte» (S. 105). Ein paar Eckdaten zur Familiengeschichte liefert die Mutter anlässlich des 18. Ge­burtstags ihrer Tochter (im Buch S. 102-105). 1936 ging der Vater im Spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger in die Berge, um für die Zweite Spanische Republik und gegen die Aufständischen zu kämpfen. Im Sommer 1937 taucht er für drei Tage wieder im Dorf auf; es wird geheiratet. «In unserer Familiengeschichte folgt dann, dass mein Vater 1938 Spanien verließ und nach Moskau ging». Dort wurde er «ein kleiner Provinzkommissar» (was immer das sein mag, KB). 1946 verlässt er die UdSSR und zieht in die SBZ nach Dresden und beginnt dort Deutsch zu lernen. Katias Mutter folgt 1946, das franquistische Spanien unter abenteuerlichen Bedingungen hinter sich lassend, ihrem Mann ins Exil. Die Eltern fanden «in Dresden zusammen, in einer kleinen Gemeinschaft von Spaniern». Sie bekommen Woh­nung und Arbeit durch die Partei. Katias Mutter wollte dann, dass «Papá von der Partei abrückte» und so zog das Paar nach Berlin. Dort kommt Katia 1950 zur Welt und drei Jahre später ihre Schwester Martina. In dem Hinweis auf die «Familiengeschichte» schwingt durchaus die Möglichkeit mit, dass nicht alles stimmen muss, was von Katias Mutter tra­diert wird.

Aus der Literatur zum Exil spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der Sowjetunion ist bekannt, dass am Ende des Bürgerkriegs März/April 1939 (nicht 1938) etwa 1.000 meist der PCE zugehörige oder nahestehende Spanier in der Sowjetunion aufgenommen wurden. Das Gros dieser Flüchtlinge konn­te erst nach dem Tod Stalins die UdSSR verlassen. In einem schmalen Zeitfenster um das Jahr 1946 wurde allerdings einigen Spaniern erlaubt, nach Frankreich oder Lateinamerika zu gehen (Alted 2002, S. 131, 138 f., 143 und Lister 2005, S. 301). Hinweise, dass sich irgendeiner aus diesem Per­sonenkreis in die SBZ begeben hätte, finden sich nicht.

Mit Blick auf die Literatur mutet es sehr unwahrscheinlich an, dass ein Mitglied der KP Spaniens, das acht Jahre in der UdSSR verbracht hat und kein Deutsch sprach, sich 1946, also noch vor der Gründung der DDR, entscheidet nach Dresden zu gehen. Das Exil-Kollektiv der spanischen Kom­munisten in Dresden, auf das angespielt wird, gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht; es entstand erst als Folge der Operation Bolero-Paprika in den Jahren 1950/51. Auch die Entscheidung, einem Wunsch der Ehefrau folgend, von Dresden nach Berlin überzusiedeln, weil sie die Nähe ihres Gat­ten zur Partei nicht schätzte, unterstellt einen Grad an Entscheidungsfreiheit der einzelnen Person, der eher unwahrscheinlich ist. Ein einfacher Wechsel des Wohnsitzes ohne das Plazet von SED und PCE ist schwer vorstellbar. Es wird im Roman auch keine Verbindung zwischen dem Um­zug von Dresden nach Berlin und dem kleinen Kollektiv spanischer Kommunisten, das es in Berlin ab 1950/51 gab, hergestellt.

Moreno Durán hat demnach eine höchst untypische, wenn nicht sogar unmögliche, Biografie des Vaters konstruiert. Informationen über Exilspanier, die schon vor der Gründung der DDR auf deut­schem Boden lebten und derer, die 1950/51 mit der Operation Bolero nach Dresden kamen, werden vermischt. Dabei wäre es ein Leichtes für die Autorin gewesen, den Vater mit einer historisch be­trachtet realistischeren Biografie auszustatten, z.B. als Bürgerkriegsflüchtling, der nach einem ers­ten Exil in der UdSSR (1939-1946) im Jahr 1946 nach Frankreich gekommen wäre, um dann als Folge der Operation Bolero 1950 in die DDR abgeschoben zu werden – mit dem Nachzug der Ehe­frau im folgenden Jahr.

5.2 Der Auftritt von José Quevedo als Dozent De Vega im Roman

Eine besondere Beachtung, um den Umgang der Autorin mit der Geschichte zu verstehen, verdient die Person des Spanisch-Lektors De Vega an der Humboldt Universität Berlin (Kapitel 10, S. 72-75), über den zu erfahren ist, dass er auf Seiten der spanischen Republik stand, aus Franco-Spanien flüchtete und eine Buchhandlung in Berlin aufmachte ‒ und zwar schon zur Zeit des Nationalsozia­lismus ‒, und in dieser Buchhandlung ein Bild von Franco aufgehängt hatte, um die Nazis zu täu­schen. Bald nach der Begegnung (im Jahr 1971) mit Katia und ihrem Vater, von dem der Leser spä­ter erfährt, dass er andere Exilspanier observierte, lehrt De Vega nicht mehr an der Universität.

In der Person dieses Dozenten steckt viel von jenem José Quevedo, den die Historiker kennen (vgl. z.B. Uhl 2004, S. 236f., Drescher 2008, S. 37) und über dessen Leben seine Tochter Núria Quevedo schon 2004 ausführlich und faszinierend im Gespräch mit Mercedes Álavrez berichtet hat (Álvarez und Quevedo 2004). José Quevedo ist als Leiter der 1947 gegründeten Vereinigung republikanischer und kommunistischer Emigranten ERE (s.o) bekannt. Er war in Spanien Mitglied der PCE und ein loyal zur Republik stehender Be­rufssoldat der Luftwaffe. 1939 musste er aus Spanien fliehen, durchlief verschiedene französische Internierungslager und arbeitete dann von 1941 bis 1945 in Berlin in der deutschen Rüstungsindus­trie (wie viele aus Frankreich deportierte bzw. über die Organisation Todt angeworbene Bürger­kriegsflüchtlinge). In seiner Bleibe in Berlin hatte er über seinem Bett ein Foto Francos angebracht. Nach dem II. Weltkrieg, genauer 1952, holte er seine Frau und die Tochter Núria aus Spanien nach. Da hatte er schon die «Internationale Buchhandlung Quevedo» aufgemacht. An der Humboldt Uni­versität unterrichtete er auf Vermittlung des großen Romanisten Werner Krauss (dem Hans Ulrich Gumbrecht 2002 ein sehr einfühlsames und berührendes Denkmal gesetzt hat). Bis 1954 unterrich­tete Quevedo an der HU. Dann wurde aber ein neuer Spanischlehrer aus Dresden angefordert und nach Drescher ist «durchaus an einen erzwungenen Rückzug Quevedos zu denken» (Drescher 2008, S. 115). In einem Feature des Deutschlandfunks über das Ostberliner Kollektiv der Exilspanier (Chmielorz 2016) wird übrigens die Anforderung eines neuen Spanisch-Dozenten 1954 bestätigt.

Die Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur und den Erinnerungen Núria Quevedos an ihren Vater, sind frappierend: Vom Dozenten De Vega heißt es im Roman, er «prahlte damit, dass er vom größ­ten spanischen Dichter aller Zeiten abstamme, Lope de Vega» (S.73). Núria Quevedo über ihren Va­ter: «Mein Vater hat immer davon geträumt, Nachkomme des Don Francisco zu sein» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 33). Angespielt wird hier auf die spanischen Barockdichter Félix Lope de Vega und Francisco de Quevedo.

Konfrontiert mit der Empörung des linientreuen Kommunisten wegen seines eigenwilligen Lebens­wegs, antwortet De Vega «Wollen Sie mir etwas über das Leben erzählen? Überleben nenne ich es» (S. 74). Núria Quevedo konfrontiert damit, dass ihr Vater für die Nazis arbeitete, antwortet «Um das Leben zu retten, versuchte man alles, klar» (Álvarez und Quevedo 2004, S. 25).

Unter dem Aspekt der geschichtlichen Plausibilität ist die Geschichte des Herrn de Vega höchst un­wahrscheinlich. Wie sollte ein republikanischer Bürgerkriegsflüchtling, den es nach Nazi-Deutsch­land verschlagen hatte, in Kriegszeiten in Berlin eine Buchhandlung aufmachen können, und diese danach bis mindestens in die siebziger Jahre in der DDR weiterführen? Die typische Verwendung spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Nazi-Deutschland war ihr Einsatz als Vertrags- oder Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie.

Es gibt ein verborgenes intertextuelles Spiel zwischen dem Roman und den Erinnerungen von Núria Quevedo und Mercedes Álvarez. In die Figur des Dozenten De Vega sind, wie gezeigt, sicht­bar Informationen über José Quevedo eingeflossen. Auch in der Ausstaffierung der Mitglieder der Kleinfamilie von Vater, Mutter, Katia und Schwester Martina finden sich zahlreiche Versatzstücke aus den Erinnerungen der beiden wirklichen Töchter von Kommunisten. In Abwandlung des bekannten Satzes «Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig» sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen bei Moreno Durán also keines­wegs zufällig. Nur sind die Lebensläufe, die sie aus dem vorhandenen Material unterschiedlicher Flüchtlingsschicksale konstruiert hat, in einigen Punkten nicht belastbar. Die meisten Leserinnen und Lesern dürften sich an den kleinen histori­schen Ungereimtheiten nicht stören.

5.3 Katias mangelndes politisches Interesse

Zeitgeschichte wird im Roman weitgehend dadurch ausgeklammert, dass die Protagonistin als un­politisch gezeichnet wird. Das wird besonders deutlich daran, dass der Konflikt zwischen den mos­kautreuen Kommunisten und der KP Spaniens unter der Führung Santiago Carrillos, die einen euro­kommunistischen Kurs verfolgte, und der die Exilspanier in der DDR seit dem Ende der 60iger Jahre in zwei Lager spaltete, in Dresden wie in Berlin, nirgends aufscheint (s.o.). Selbst der Ein­marsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968, der von der PCE verurteilt und von der SED mitgetragen wurde, und der den bestehenden Konflikt unter den Exilanten noch verschärfte, findet keinen Eingang in den Roman, obwohl die Protagonistin zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt ist, mit anderen Jugendli­chen zusammen kommt und in Berlin studiert. Was sie 1971 beschäftigt, sind die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, an deren Vorbereitung sie mitmacht. Dass diese nicht 1971 wie im Roman angegeben, sondern erst 1973 stattfanden, ist für den Gang der Erzählung nicht entscheidend.

Dem Konflikt zwischen SED und PCE um das Jahr 1973, als die DDR das Francoregime diploma­tisch anerkannte, wird keine Beachtung geschenkt. Auch die Demonstrationen in der Bundesrepublik gegen das Regime in Spanien in seiner brutalen Endphase, werden nicht wahrgenommen. Depressiv und zurückgezogen in der schwäbischen Provinz, wird die Bun­desrepublik der 70er und 80er Jahre von der Protagonistin in den Klischee der 50iger-Jahre er­lebt: Hausbau, Auto, Kinder, bis zum Umfallen arbeitender Ehemann, der vor dem Fernseher abends seine Biere trinkt, die Frau ans Haus gefesselt. Die Wahrnehmung der politischen Veränderungen und der Wirklichkeit sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wirkt merkwürdig beschränkt und getrübt.

5.4 Katias Identitätsproblem

Das Thema der schwierigen Identitätsfindung der Kinder der spanischen Kommunisten in der DDR wurde in der Literatur untersucht (Denoyer 2011, 2017): Min­destens zwei Identitätsquellen spielten üblicherweise eine Rolle: die eine, welche die Eltern an ihre Kinder weiter­gaben, und die andere die das Aufnahmeland anbot (Denoyer 2011, S. 106). Häufig war es aber auch noch ein Drittland, Frankreich oder Russland z.B., das eine Rolle spielte. Gerade die komplexen Biografien von Mercedes Álvarez und Núria Quevedo zeigen eindrucksvoll, dass die Exilerfahrung der Töchter von Kommunisten auch neuartige, komplexe, gelingende Identitäten hervorbringen kann.

Interessant in der Studie von Denoyer ist zudem der Befund der starken Bedeutung der DDR und die Bindung daran: «Nicht zuletzt haben die Kinder der Exilanten eine besondere, weil dauerhafte Beziehung zur DDR entwickelt. Auch wenn sie die Schwächen des ostdeutschen Re­gimes durchaus erkennen und den dort herrschenden Mangel an Freiheit verurteilen, verteidigen sie bis heute das untergegangene Land […]» (Denoyer 2011, S. 108). Denoyer schreibt weiter: «Für die zweite Generation der Spanier in der DDR geriet das politische Exil [da­her] zu einer strukturierenden biografischen Erfahrung, in der dem National- und Identitätsgefühl sowie den Beziehungen mit der Ursprungs- und der Aufnahmegesellschaft ein besonderes Gewicht zukam» (Denoyer 2011, S. 109).

Ähnliches lässt sich auch für die Hauptfigur des Romans behaupten. Bezogen auf ihre Kindheit und Jugend in der DDR kann von einer «strukturierenden biografischen Erfahrung» gesprochen werden. In späteren Jahren ist ihr Bezugspunkt indes ein anderer: Es sind die enttäuschenden Erfahrungen in der Bundesrepublik, die zu einer wachsenden Ab­lehnung der Lebensverhältnisse dort und zu einer nostalgischen Aufwertung der DDR führen.

Es bleibt zu fragen, welche Rolle Spanien als über die Eltern vermittelte «Ursprungsgesellschaft» für die Identitätsbildung der Hauptfigur spielt. Dass Katia aus einer spanischen Migrantenfamilie in der DDR stammt, spielt für ihr Unglück und Leid im Roman vordergründig kaum eine Rolle. Es zieht sie nicht nach Spanien und sie versucht auch nicht, Kontakt mit ihren Verwandten in Spanien herzustellen. 1989 betritt sie erstmals in ihrem Leben spanischen Boden. Eine von ihrem Ehemann, Johannes, ohne ihr Wissen geplante und durchgesetzte Reise nach Spanien, wird zum Fiasko. Der erzwungene Besuch des Heimatorts ihrer Eltern, Dos Aguas, wird abrupt abgebrochen. Spanien ist für sie keine mögliche Heimat und erst recht kein Sehnsuchtsort. Mit ihrer Lebensgeschichte und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern scheint sie im heutigen Spanien nichts verloren zu haben. Für dieses Gefühl dürften hauptsächlich ihre von Scham und Schuldgefühlen geprägten Identitätsprobleme verantwortlich sein. Dass Spanien sich nach Franco als Monarchie konstituierte und die politische Aufarbeitung des Unrechts, das an den Republikanern verübt wurde, zu der Zeit (1989) praktisch nicht stattfand, dürfte dagegen weniger relevant für Katias Nicht-Zugehörigkeitsgefühl sein.

Katia stellt nicht nur einen untypi­schen, sondern einen höchst unwahrscheinlichen Fall einer Exilspanierin der zweiten Generation dar. Ihr Identitätskonflikt ist vorwiegend innerdeutsch: BRD = Fremde vs. DDR = Heimat. Sie ist so wenig politisch bewußt, dass sie nicht ein­mal die Errungenschaften der DDR bezüglich einer fortschrittlichen Frauenrolle verteidigt. Auch die kommunis­tischen Werte ihres Vaters führen sie nicht dazu, sich politisch zu orientieren oder gar zu organisie­ren. Was bleibt, ist eine unreife junge Frau, die wegen einer emotionalen Beziehung von der DDR in die BRD übersiedelt, von der Beziehung wie vom Leben im Westen enttäuscht wird, dort fremd bleibt, depressiv wird und sich nach der alten Heimat sehnt.

Es ist dem Rezensenten nicht bekannt, dass je eine Tochter eines der wenigen spanischen Kommunisten im DDR-Exil in die BRD ging, und dass je ein linientreuer spanischer Kommunist zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde (und schließlich sogar im Gefängnis umkam), weil seine volljährige Tochter in die Bundesrepublik geflohen war. Hätte es solch eine Geschichte wirklich gegeben, wäre sie den Exilspaniern kaum verborgen geblieben und mithin bekannt.

6. Schlussbetrachtung

Es bleibt festzuhalten, dass Moreno Durán mit ihrem Roman auf ein spannendes Kapitel Deutsch-Spanischer Geschichte aufmerksam macht: das Leben spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge und deren Kinder in der DDR. Das sprachliche Vermögen der Autorin, mit weni­gen Worten, kurzen prägnanten Sätzen, poetischen Verdichtungen, originellen Vergleichen, Gegenschnitten, Andeutungen und Leerstellen, der Leserschaft Situationen, Stimmungen und Befindlichkeiten nahezubringen, ist ihre Stärke. Darum lassen sich viele zunächst gerne auf den Roman ein und verfolgen, wie sich die Hauptperson anekdotenreich, farbig und in ihrem eigenwilligen Schreibstil an ihre Jahre in der DDR von 1956 bis 1971 erinnert. Der Teil, der in der Bundesrepublik spielt, fällt dann deutlich ab.

Die Zeit von 1971 bis 1991, die in der BRD spielt, ist eine bleierne Zeit. Nur unter der Annahme ei­ner sich steigernden Depression der Hauptperson, einer gelähmten Handlungsfähigkeit und einer Weltwahrnehmung der Wirklichkeit durch den Schleier des psychischen Leids, will dem Rezensenten dieser Teil als glaubhaft vorkommen. Die Depression zusammen mit dem Desinteresse der Hauptperson an politischen Entwicklungen hüben und drüben und die geringe Bedeutung, die Spanien für ihre Identität spielt, reduzieren diesen Teil auf eine künstliche Konstruktion von Ost-Hei­mat – West-Fremde. Raffiniert daran ist in gewisser Weise, dass die Hauptperson das Schicksal ihrer Mutter wie­derholt, die die DDR als Fremde erlebte, sich nicht integrierte und nicht integrieren wollte. Katia wäre demnach viel mehr die Tochter ihrer unglücklichen Mutter als die ihres kommunistischen Vaters. Die Parallele geht soweit, dass sich die fatale Entscheidung der in Spanien lebenden Mutter, ihrem Mann in die DDR zu folgen, in der fatalen Entscheidung ihrer Tochter, ihrem späteren Mann Johannes in die BRD zu folgen, wiederholt. Fremde und Leid bei Mutter und Tochter hüben wie drüben. Der einen erfriert das Herz in der DDR, der anderen in der BRD.

Die Betrachtung des Verhältnisses von Fakten und Ausgedachtem in der Erzählung hat ergeben, dass die Autorin es nicht darauf anlegt, entgegen der Erwartung des Rezensenten, ihre Romankonstruktion mit den bekannten historischen Fakten und der Lebenswirklichkeit der Exilspanier der ersten und zweiten Generation bestmöglich in Deckung zu bringen und dadurch das Verständnis für deren Lebensläufe und Schicksale zu vertiefen. Im Gegenteil, es wird einiges getan, um die Wirklichkeit auf Abstand zu halten. Die gewählte DDR-BRD-Konstellation ist zunächst (bis zum Beweis des Gegenteils) eine Kopfgeburt, reine Fiktion. Das wichtigste Mittel, die Wirklichkeit außen vor zu lassen, findet sich dabei in der psychologischen Ausstattung der Hauptperson nach ihrer Übersiedlung in die BRD, die geradezu darauf ausgerichtet scheint, die Wirklichkeit nicht klar zu sehen: wegen ihrer Unreife, ihrem Desinteresse am politischen Geschehen, ihrer Initiativlosigkeit und vor allem wegen ihrer Depression.

Viel mehr als in dem Roman erfährt man in dem Gespräch zwischen Mercedes Álavrez und Núria Quevedo (2004) über die Töchter von spanischen Kommunisten in der DDR. Das Buch, das daraus entstanden ist, würde der Rezensent gerne ins Spanische übersetzt sehen. Zu begrüßen wäre außerdem eine fundierte historische Arbeit zu den republikanischen Flüchtlingen, die sich 1945, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bereits in Deutschland befanden und später in der DDR lebten. Das abenteuerliche Leben des José Quevedo verdiente dabei eine eigene Darstellung.

Hinweis einer Leserin vom 2. April 2023: In der Tat gibt es bereits seit 2012 die gewünschte spanische Fassung des Buchs: Mercedes Álvarez y Nuria Quevedo: Ilejanía. La cercanía de lo olvidado (un diálogo sobre el exilio). Muséu del Pueblu d’Asturies und Ayuntamientu de Xixón: Gijón 2012; ISBN 978-84-96906-33-4. Eine pdf-Version des Buches ist ebenfalls verfügbar.

7. Literatur

  • Alted Vigil, Alicia: Los exilios en la España contemporánea. In: Ayer (Asociación de Historia Contemporánea), 2002, No. 47, S. 129-154
  • Álvarez, Mercedes und Quevedo, Núria: Ilejanía – Unferne: die Nähe des Vergessenen. Ein Gespräch. BasisDruck: Berlin 2004
  • Alvite, Maite im Interview mit Aroa Moreno Durán. Diario de Ibiza vom 13. März 2019
  • Chmielorz, Rilo: Operation Bolero. Das spanische Kollektiv in Ost-Berlin. Manuskript zur Sendung im Deutschlandfunk vom 10.5.2016 (19:15-20:00)
  • Denoyer, Aurélie: Les réfugiés politiques espagnols en RDA. In: Trajectoires 3 | 2009
  • Denoyer, Aurélie: Integration und Identität. Die spanischen politischen Flüchtlinge in der DDR. In: Kim Christian Priemel (Hg.): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in die DDR 1945 – 1990. Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung: Dresden 2011, S. 98-112
  • Denoyer, Aurélie: Exil als Heimat. Die spanischen kommunistischen Flüchtlinge in der DDR. Individuelle Lebensläufe, Kollektivgeschichte. Dissertationsprojekt. In: The International Newsletter of Communist Studies XVIII, (2012), no. 25 . S. 40-43
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Trajectoires individuelles, histoire collective. In: Trajectoires 6 | 2012 
  • Denoyer, Aurélie: L’exil comme patrie. Les réfugiés communistes espagnols en RDA (1950-1989). Presses universitaires de Rennes: Rennes 2017; online verfügbar; diese Publikation beruht auf der Dissertation von 2012
  • Denoyer, Aurélie und Faraldo, José M.: »Es war sehr schwer nach 1968 als Eurokommunistin«. Emigration, Opposition und die Beziehungen zwischen der Partido Comunista de España und der SED. In: Arnd Bauerkämper und Francesco Di Palma (Hg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968–1989). Ch. Links Verlag: Berlin 2011, S. 186-202
  • Drescher, Johanna: Asyl in der DDR. Spanisch-kommunistische Emigration in Dresden (1950-1975). vdm-Verlag: Saarbrücken 2008
  • Eiroa, Matilde: Españoles tras el Telón de Acero: El exilio republicano y comunista en la Europa socialista. Marcial Pons Ediciones de Historia: Madrid 2018
  • Gumbrecht, Hans Ulrich: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Hanser Verlag: München 2002
  • Heine, Hartmut: El exilio republicano en Alemania Oriental (República Democrática Alemana-RDA). In: Migraciones y Exilios, 2-2001, S. 111-121
  • Kreienbrink, Alexander: Der Umgang mit Flüchtlingen in der DDR am Beispiel der spanischen ‚politischen Emigranten‘. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 317-344
  • Lister, Enrique: Vorgeschichte und Voraussetzungen der Ansiedlung der spanischen kommunistischen Emigranten in Osteuropa. In: Totalitarismus und Demokratie, 2(2005)2, S. 289-316
  • Meerwald, Johannes: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Wallstein Verlag: Göttingen 2022
  • Poutrus, Patrice G.: Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 11. Jg. (2004), S. 355-378
  • Strode, Sara im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: El papel amarillo (blog de críticas literarias) vom 23. Juli 2018
  • Uhl, Michael: Mythos Spanien. Das Erbe der Internationalen Brigaden in der DDR. Dietz: Bonn 2004.
  • Whittemore, Katie im Interview mit Aroa Moreno Durán. In: H for History Blog vom 8. Februar 2021

Aroa Moreno Durán: Die Tochter des Kommunisten. btb Verlag: München 2022, ISBN 978-3-442-75904-0



Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau | Presos españoles en Dachau

Un aporte a la representación histórica de una epopeya casi olvidada

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 02.11.2022), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 18.11.2022)

1. Introducción

Johannes Meerwald es el autor de la primera monografía en lengua alemana sobre los españoles encarcelados en el campo de concentración de Dachau. La obra ha sido publicada en octubre de 2022 por Wallstein Verlag, en la «Serie pequeña» del Instituto Fritz Bauer. El libro es una versión revisada de su tesis de máster, que recibió en 2021 el premio de investigación Stanislav Zámecník del Comité International de Dachau (CID). El estudio se basa en una ambiciosa exploración de los archivos españoles y alemanes, así como en el examen de la literatura científica secundaria, de las memorias publicadas por prisioneros españoles de Dachau, y por prisioneros de otras naciones que aportan datos sobre los presos españoles.

2. Una primera ojeada

Antes de entrar en detalles sobre la obra, conviene exponer brevemente, a partir del material aportado por Meerwald, las etapas de la odisea y los hechos históricos más destacables. Al menos 659 de los españoles que huyeron a Francia al final de la Guerra Civil fueron deportados al campo de concentración de Dachau (p. 105). Dachau era un campo de hombres. Para las pocas mujeres españolas que llegaron a Dachau, este campo constituyó tan solo una breve etapa, de camino hacia otro campo de concentración (cf. p. 50 y ss.). Un total de 130 españoles murieron en Dachau. A fines de abril de 1945, el campo de concentración fue liberado por las tropas estadounidenses (ver p. 107).

Da comienzo esta odisea con la salida de aproximadamente medio millón de mujeres, niños y hombres, huidos a Francia ante el avance victorioso de las tropas de Franco. Para sugerir la magnitud del éxodo puede señalarse que, a finales de 1939, todavía quedaban unos 200.000 exiliados españoles en suelo francés, muchos de ellos recluidos, en lamentables condiciones, en los campos de internamiento del sur de Francia (cf. p. 15). A los hombres capacitados para la lucha armada se les brindaba una oportunidad para salir de los campos, la de ponerse a disposición del ejército francés. Las opciones eran: incorporarse a la Legión Extranjera, a los RMVE (Régiments de Marche de Volontaires Étrangers), o a las CTE (Compagnies de Travailleurs Étrangers).

Los españoles presos en el campo de concentración de Dachau entre 1940 y 1943 eran en su mayoría prisioneros de guerra capturados a raíz de la derrota de Francia por la Wehrmacht alemana. La mayor parte de ellos había participado anteriormente, entre 1939 y 1940, en la defensa de la Tercera República francesa. Unos 50.000 españoles, se estima, fueron desplegados para reforzar la línea Maginot (ver p. 16).

En cuanto a los quinientos españoles, aproximadamente, que fueron deportados en 1944 a Dachau, en su mayoría pertenecen a la resistencia contra el régimen de Vichy y contra la ocupación alemana. Procedentes de cárceles francesas, campos de internamiento y campos de concentración franceses, fueron trasladados al campo de Dachau y su satélite Allach, para ser subsecuentemente usados como trabajadores forzados en la industria armamentística alemana (ver p. 40). Por supuesto, constituyen solo una pequeña fracción de las personas españolas que, activas en la Resistencia, terminaron deportadas en los campos nazis.

Tras la liberación de los campos de concentración en 1945, muchos de los españoles supervivientes regresaron nuevamente al exilio en Francia, ya que el régimen franquista no fue derrocado por los Aliados al final de la Segunda Guerra Mundial, siendo incluso cada vez más reconocido internacionalmente durante el transcurso de la Guerra Fría. Para la mayoría de los exprisioneros de los campos de concentración, regresar a España conllevaba un riesgo elevado de ser nuevamente perseguidos, encarcelados o incluso asesinados. Por su parte, el estado francés prestó «en general poca atención a la crítica situación de los supervivientes españoles» (p. 90). El apoyo estatal a los exprisioneros de los campos de concentración se limitó a quienes habían luchado previamente con el ejército francés. Los combatientes de la Resistencia que sobrevivieron al campo de concentración de Dachau se vieron excluidos de las subvenciones gubernamentales (p. 95). Para muchos, el exilio forzado solo terminó con la muerte del dictador en 1975. Entre tanto, ya han ido muriendo todos los españoles, testigos supervivientes del campo de concentración de Dachau (p. 109).

3. Algunos detalles y algunas cuestiones abiertas

3.1 Deportación al campo de concentración de Mauthausen y traslado de algunos prisioneros a Dachau

La pérdida de la guerra contra Alemania supuso a Francia más de un millón de prisioneros de guerra. La mayoría de ellos fueron destinados a trabajos forzados. Los prisioneros de guerra españoles, por su parte, fueron deportados al campo de concentración de Mauthausen-Gusen. Las condiciones del trabajo forzado, la mala alimentación, la violencia de los guardianes, encuadrados en las SS, y la práctica deliberada de asesinatos se confabularon para que pocos de ellos pudieran sobrevivir el internamiento. Hasta finales de 1941 habían sido llevados 7.200 españoles a este complejo de campos de concentración, de los cuales, casi dos terceras partes habían muerto a finales de 1943 (cf. p. 17 y ss.). Un número relativamente pequeño de prisioneros españoles fue trasladado desde Mauthausen-Gusen entre 1940 y 1943 al campo de Dachau.

Algunas preguntas en torno a este escenario, planteadas por Meerwald, no han sido completamente resueltas aún por la investigación. ¿Por qué los prisioneros de guerra españoles no fueron tratados como tales, según derecho de guerra, sino deportados a Mauthausen como apátridas? ¿Por qué todos los prisioneros de guerra españoles fueron deportados a Mauthausen? ¿Cuáles fueron los motivos del traslado de presos españoles desde Mauthausen a Dachau? Hay una hipótesis plausible para la primera pregunta: uno de los objetivos de Franco era la aniquilación de los españoles republicanos, tanto en el interior como en el extranjero; incluso tras la victoria en la Guerra Civil, el dictador no desistió de este propósito. A sus cálculos le convenía la deportación de prisioneros de guerra españoles a campos de concentración alemanes. En ese momento, la Alemania nazi todavía esperaba que España luchara a su lado en la Segunda Guerra Mundial. Pero la investigación actual no ha conseguido poner totalmente en claro cuál fue el acuerdo entre ambas dictaduras sobre cómo tratar a los españoles prisioneros en Alemania (cf. p. 17).

3.2 Trabajos forzados, disolución de los campos de concentración, y detención en Francia

En el apogeo de la guerra, el trabajo forzado fue adquiriendo cada vez más importancia para la industria armamentista alemana, y ello se reflejó también en los campos de concentración. Meerwald ve en Albert Speer la «fuerza impulsora tras el radical giro economicista del sistema de campos de concentración, iniciado en 1942» (p. 54). En el curso de esta reorientación, el «rojo español» (Rotspanier en alemán), políticamente peligroso, pasó a ser considerado un útil trabajador forzoso (ver p. 106). El interés por gestionar esta mano de obra conllevó ciertas mejoras en la manutención de los presos.

No pocos de los españoles residentes por entonces en Francia se negaban a enrolarse en las brigadas de trabajo del régimen de Vichy, los Groupements de travailleurs étrangers, o en la OT, la Organización Todt. Prefirieron pasar a la clandestinidad y participar activamente en la resistencia contra el régimen de Vichy y los ocupantes alemanes (ver p. 38 y ss.). En caso de ser capturados, generalmente eran enviados a campos y prisiones franceses.

En el curso de varias mortíferas expediciones, en 1944, fueron transportados en tren, junto a muchos otros presos, a Alemania. En el desplazamiento desde el campo de concentración francés Royallieu a Dachau, del 29 de junio de 1944, el tristemente famoso train de la mort, 984 de los 2.162 deportados (entre ellos, 65 españoles) encontraron la muerte (cf. pp. 43-45). Al deseo de racionalizar la economía de guerra se contraponía, manifiestamente, una inhumana voluntad aniquiladora. Ante un transporte de presos tal como es documentado por Meerwald, ciertamente cabe dudar de que su finalidad principal fuese el aprovisionamiento con trabajadores forzados de la industria bélica. Dado el ineluctable avance de los Aliados, parece haber pasado a un primer plano el objetivo de disolver los campos y prisiones, sin tener en cuenta el coste en vida humana.

3.3 Sobre las condiciones de supervivencia de los presos españoles en Dachau

Meerwald también explora las condiciones de supervivencia de los prisioneros españoles en Dachau. Tres factores mejoraron la situación: en primer lugar, el apoyo y solidaridad de los numerosos interbrigadistas ―voluntarios que habían luchado del lado de la Segunda República Española en la Guerra Civil en las Brigadas Internacionales― fue de excepcional importancia. Al igual que los españoles presos en Dachau, los brigadistas fueron catalogados como «españoles rojos». Para trazar una imagen completa de la situación de los españoles en Dachau, hubiera sido de gran interés contar con más información sobre el número y la composición política y social de los interbrigadistas recluidos en el campo, dada su capital importancia para los presos españoles.

En segundo lugar, los españoles lograron establecer una red secreta de comunicación y ayuda en el campo de concentración. El médico de presos Vicente Parra Bordetas fue de extraordinaria importancia para esta red, en su condición de médico, que le permitió salvar muchas vidas, y como cabeza de la red (ver p. 72).

En tercer lugar, «se esfumaron las diferencias» entre las distintas organizaciones políticas (comunistas estalinistas, marxistas antiestalinistas, socialistas, anarcosindicalistas) dentro del campo de concentración (ver p. 63). No está claro en este punto qué peso relativo tenían los diferentes grupos. Dado que la República Española fue apoyada no solo por fuerzas revolucionarias de izquierda, sino también por partidarios de la democracia burguesa y por militares leales, sería apropiado discutir hasta qué punto las posiciones republicanas no izquierdistas tuvieron presencia entre los presos de campos de concentración.

3.4 Exilio

Después de la reclusión, durante el exilio en Francia, la mencionada unidad se rompió de nuevo. Ello se refleja en la gran cantidad de asociaciones de sobrevivientes que se fundaron en el exilio. La FEDIP (Federación Española de Deportados e Internados Políticos) fue la asociación más potente. Los comunistas españoles crearon su propia asociación, que hubo de hacer frente a la línea oficial del PCE (Partido Comunista de España), desde el exilio en Moscú, que acusaba a los supervivientes de los campos de concentración de haber colaborado con los alemanes (cf. p. 94).

En contraste, presenta Meerwald un benigno pasaje de la historia del exilio, que tiene lugar en Múnich. No todos los presos españoles fueron a Francia tras su liberación. Hubo algunos que terminaron en Múnich. Allí residía en el Palacio Municipal de Nymphenburg la princesa española María de la Paz de Borbón y Borbón (casada con Luis Fernando de Baviera), de inclinaciones filantrópicas y caritativas. Algunos supervivientes españoles de Dachau acudieron a ella con una petición de socorro, que les fue concedida. A cambio, los «españoles rojos» repararon el palacio, dañado por las bombas, y «encontraron un nuevo hogar nada menos que en la residencia muniquesa de la familia Wittelsbach» (p. 85). Con la muerte de la infanta, a los 84 años, termina esta memorable historia el 3 de diciembre de 1946.

4. Resumen: contra el olvido

El libro llena un vacío en la investigación sobre los campos de concentración nazis y proporciona una pieza adicional de la historia acerca de las víctimas de la dictadura franquista, que sufrieron la fuga, los campos de internamiento, el trabajo forzado, el campo de Dachau y el exilio. El conocimiento de los hechos históricos y las anotaciones personales de los exprisioneros del campo de concentración se entrelazan en la obra de tal manera que se evita recluir a los prisioneros en un papel de meras víctimas. Por un lado, esto se consigue gracias a mencionar, siempre que es posible, los nombres de los presos y dar relieve a «las voces de los perseguidos» (p. 14) por medio de citas a propósito. A ello se suma el hecho de que se abarque toda la epopeya de los presos, incluyendo la historia antes y después del encarcelamiento en el campo de concentración. Todo ello contribuye a caracterizar a los presos como personas activas que hicieron una importante contribución a la defensa de la Tercera República francesa y a la resistencia contra las dictaduras que los oprimían.

Meerwald escribe con objetividad y detalle. Quizá justamente porque el autor prescinde del heroísmo y victimismo es por lo que esta historia nos sigue tocando hoy en día y haciendo aflorar algo no acabado ni resuelto. Traer a la memoria, con criterio histórico, un episodio casi olvidado del «siglo de los campos» (Zygmunt Bauman) es abrir vías de conexión con el presente. Esto es lo que consigue Meerwald con su estudio.


Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Reihe: Kleine Reihe zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; Bd. 4. Wallstein Verlag: Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5320-6 (Oktober 2022) [Presos españoles en Dachau. Guerra Civil, campo de concentración y exilio. Serie pequeña sobre la historia y efectos del holocausto. Vol. 4. Gotinga: Wallstein Verlag 2022, ISBN 978-3-8353-5320-6 (octubre de 2022)]

Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil

Ein Beitrag zur historischen Vergegenwärtigung einer fast vergessenen Odyssee

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

Johannes Meerwald hat die erste deutschsprachige Monographie zu den im KZ Dachau inhaftierten Spaniern vorgelegt. Die Arbeit ist im Oktober 2022 im Wallstein Verlag, in der «Kleinen Reihe» des Fritz Bauer Instituts, erschienen. Das Buch ist die überarbeitete Fassung seiner Masterarbeit, die 2021 mit dem Stanislav Zámecník-Studienpreis des Comité International de Dachau (CID) ausgezeichnet worden war. Die Studie beruht auf intensiver Arbeit in den einschlägigen spanischen und deutschen Archiven, einer Auswertung der wissenschaftlichen Sekundärliteratur sowie der publizierten Erinnerungen der spanischen Häftlinge und anderer KZ-Häftlinge, die sich zu den Spaniern im KZ geäußert haben.

2. Ein erster Überblick

Bevor auf Details der Arbeit eingegangen wird, werden zunächst auf Basis des von Meerwald ausgebreiteten Materials die Etappen der Odyssee und die relevanten historischen Ereignisse in knapper Form angesprochen: Mindestens 659 der am Ende des spanischen Bürgerkriegs nach Frankreich geflohenen Spanier wurden in das KZ Dachau deportiert (S. 105). Dachau war ein Männerlager. Für die Spanierinnen, die nach Dachau kamen, war dieses KZ nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg in ein anderes KZ (vgl. S. 50f.). Insgesamt starben 130 Spanier im KZ Dachau. Ende April 1945 wurde das KZ von US-amerikanischen Truppen befreit (vgl. S. 107).

Am Anfang der Odyssee stand die Flucht von geschätzt einer halben Million Frauen, Kindern und Männern vor den im Bürgerkrieg siegreichen Truppen Francos nach Frankreich. Ende 1939 befanden sich, um die Größenordnung zu verdeutlichen, noch etwa 200.000 Spanierinnen und Spanier im französischen Exil ‒ viele davon waren unter erbärmlichen Bedingungen in Internierungslagern im Süden Frankreichs untergebracht (vgl. S. 15). Den wehrfähigen Männer eröffnete sich die Möglichkeit, sich der französischen Armee zur Verfügung zu stellen, um den Lagern zu entkommen. Die Optionen waren: Eintritt in die Fremdenlegion, in die RMVE (Régiments de Marche de Volontaires Étrangers) oder in die CTE (Compagnies de Travailleurs Étrangers).

Die Spanier, die zwischen 1940 und 1943 im KZ-Dachau inhaftiert wurden, gehörten überwiegend zu den Kriegsgefangen nach dem Sieg der Deutschen Wehrmacht über Frankreich. In der Mehrzahl hatten sie in den Jahren 1939 und 1940 zur Verteidigung der Dritten Französischen Republik beigetragen. An der Befestigung der Maginot-Linie kamen geschätzt 50.000 Spanier zum Einsatz (vgl. S. 16).

Die circa 500 Spanier, die 1944 nach Dachau deportiert wurden, sind in ihrer Mehrzahl dem Widerstand gegen das Vichy-Regime und gegen die deutsche Besatzung zuzurechnen. Sie wurden aus französischen Gefängnissen, Internierungslagern und französischen KZs in das KZ Dachau und das Außenlager Allach verschleppt, wo sie dann als Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie eingesetzt wurden (vgl. S. 40). Sie machen selbstverständlich nur einen kleinen Teil der spanischen Frauen und Männer aus, die im Widerstand aktiv waren und in nationalsozialistische Konzentrationslager deportiert wurden.

Nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 schloss sich für viele der überlebenden Spanier erneut eine Zeit des Exils in Frankreich an, da das Franco-Regime von den Alliierten am Ende des II. Weltkriegs nicht gestürzt wurde und im Zuge des Kalten Krieges international sogar zunehmend aufgewertet wurde. Eine Rückkehr nach Spanien war für die meisten der ehemaligen KZ-Häftlinge mit einem hohen Risiko verbunden, erneut verfolgt, inhaftiert oder sogar ermordet zu werden. Der französische Staat seinerseits schenkte der «Notlage der spanischen Überlebenden insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit» (S. 90). Die staatliche Unterstützung ehemaliger KZ-Häftlinge beschränkte sich auf die, die zuvor für die französische Armee tätig gewesen waren. Die Widerstandskämpfer, die das KZ Dachau überlebten, waren von staatlichen Zuwendungen ausgeschlossen (S. 95). Für viele endete das erzwungene Exil erst mit dem Tod des Diktators im Jahre 1975. Inzwischen sind alle spanischen Zeitzeugen, die das KZ Dachau überlebten, verstorben (S. 109).

3. Einige Details und einige offene Fragen

3.1 Verschleppung in das KZ Mauthausen und Verlegung einiger Häftlinge nach Dachau

Der gegen Deutschland verlorene Krieg bedeutete weit mehr als eine Million französische Kriegsgefangene. Die meisten davon wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Die spanischen Kriegsgefangenen hingegen wurden in den KZ-Komplex Mauthausen-Gusen deportiert. Die Bedingungen der Zwangsarbeit, die schlechte Versorgung, die Gewalttätigkeit der SS-Aufseher und gezielte Mordaktionen sind dafür verantwortlich, dass so wenige Menschen das Lager überlebten. Bis Ende 1941 wurden 7.200 Spanier in diesen KZ-Komplex verschleppt, von denen bis Ende 1943 beinahe zwei Drittel verstarben (vgl. S. 17f.). Eine vergleichsweise kleine Anzahl spanischer Häftlinge wurde zwischen 1940 und 1943 aus Mauthausen-Gusen in das KZ Dachau verlegt.

Einige Fragen in diesem Zusammenhang, die Meerwald anspricht, sind in der Forschung noch nicht ganz geklärt. Warum wurden die spanischen Kriegsgefangenen nicht entsprechend dem Kriegsgefangenenrecht behandelt, sondern als Staatenlose nach Mauthausen deportiert? Warum wurden alle spanischen Kriegsgefangenen nach Mauthausen deportiert? Was waren die Gründe, spanische Häftlinge von Mauthausen nach Dachau zu verlegen? Für die erste Frage gibt es eine plausible Annahme: Die Vernichtung republikanischer Spanier im Inland und im Ausland war ein Ziel Francos, das er auch nach dem Sieg im Bürgerkrieg weiter verfolgte. Die Verschleppung der spanischen Kriegsgefangenen in deutsche KZs entsprach diesem Interesse. Zu dem Zeitpunkt erwartete Nazi-Deutschland noch, Spanien würde an seiner Seite in den Zweiten Weltkrieg eintreten. Wie genau der Verständigungsprozess zwischen den Diktaturen über den Umgang mit den Spaniern in deutscher Kriegsgefangenschaft ablief, ist wissenschaftlich noch nicht gänzlich geklärt (vgl. S. 17.).

3.2 Zwangsarbeit und Auflösung der Lager und Gefängnisse in Frankreich

Auf dem Höhepunkt des Krieges wurde Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie immer wichtiger, und das hatte auch Auswirkungen auf die KZs. Meerwald sieht Albert Speer als «treibende Kraft hinter der seit 1942 radikal betriebenen Ökonomisierung des KZ-Systems» (S. 54). Im Zuge dieser Neuausrichtung wurde der politisch gefährliche «Rotspanier» zum nützlichen Zwangsarbeiter umgedeutet (vgl. S. 106). Das Interesse am Erhalt der Arbeitskraft brachte eine gewisse Verbesserung der Versorgung der Häftlinge mit sich.

Nicht wenige Spanierinnen und Spanier, die sich zu diesem Zeitpunkt in Frankreich aufhielten, wollten weder in den Arbeitsbrigaden des Vichy-Regimes, den Groupements de travailleurs étrangers, arbeiten, noch für die OT, die Organisation Todt. Sie zogen es vor, in den Untergrund zu gehen und im Widerstand gegen das Vichy-Regime und die deutschen Besatzer aktiv zu werden (vgl. S. 38f.). Wurden sie gefasst, kamen sie in der Regel in französische Lager und Gefängnisse.

In mehreren mörderischen Transporten wurden sie (mit vielen anderen) 1944 mit Zügen nach Deutschland verschleppt. Bei dem Transport aus dem französischen KZ Royallieu nach Dachau am 29.6.1944, dem traurig berühmten train de la mort, kamen von den 2.162 Deportierten (darunter 65 Spanier) 984 während des Transports um (vgl. S. 43-45). Der Rationalisierungswille der Kriegswirtschaft wurde offenkundig durch menschenverachtenden Vernichtungswillen konterkariert. Es kann bezweifelt werden, dass die bei Meerwald dokumentierten Transporte noch primär der Zufuhr von Zwangsarbeitern für die Rüstungsindustrie dienten. Angesichts des unabweisbaren Vorrückens der Alliierten war die Auflösung der Lager und Gefängnisse, ohne Rücksicht auf Menschenleben, womöglich zum vorrangigen Ziel geworden.

3.3 Zu den Überlebensbedingungen der spanischen Häftlinge in Dachau

Meerwald geht auch auf die Überlebensbedingungen der spanischen Häftlinge in Dachau ein. Drei Faktoren verbesserten die Lage: von außerordentlicher Bedeutung war erstens die Unterstützung und Solidarität der zahlreichen Interbrigadisten, also der Freiwilligen, die an der Seite der II. Spanischen Republik im Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden gekämpft hatten. Die Interbrigadisten wurden ebenso wie die Spanier im KZ Dachau als «Rotspanier» kategorisiert. Zusätzliche Informationen zur Anzahl sowie der politischen und sozialen Zusammensetzung der für die Spanier so wichtigen Interbrigadisten im KZ Dachau zu erhalten, wären für das Gesamtbild der Lage der Spanier im KZ Dachau durchaus interesssant gewesen.

Den Spaniern gelang es zweitens im KZ, ein geheimes Kommunikations- und Hilfsnetzwerk zu unterhalten. Der Häftlingsarzt Vicente Parra Bordetas war von außerordentlicher Bedeutung für dieses Netzwerk – als Arzt, der viele Leben retten konnte, und als Kopf des Netzwerks (vgl. S. 72).

Drittens «verflüchtigten sich die Differenzen» der unterschiedlichen politischen Organisationen (stalinistische Kommunisten, antistalinistische Marxisten, Sozialisten, Anarcho-Syndikalisten) im KZ (vgl. S. 63). Unklar bleibt an dieser Stelle, wie groß die einzelnen Gruppen jeweils waren. Da die spanische Republik nicht nur von revolutionären, linken Kräften verteidigt wurde, sondern auch von Anhängern bürgerlicher Positionen und von loyalen Militärs, wäre eine Erörterung der Frage, inwieweit auch nicht-linke republikanische Positionen unter den KZ-Häftlingen vertreten waren, durchaus sinnvoll.

3.4 Exil

Nach der Haft, im französischen Exil, löste sich die angesprochene Einigkeit wieder auf. Das spiegelt sich in der Vielzahl der Überlebendenverbände, die im Exil gegründet wurden. Die FEDIP (Federación Española de Deportados e Internados Políticos) war der stärkste der Verbände. Die spanischen Kommunisten gründeten einen eigenen Verband, der sich mit der Linie des PCE (Partido Comunista de España) im Moskauer Exil auseinandersetzen musste, die den Überlebenden der KZs unterstellte, mit den Deutschen kollaboriert zu haben (vgl. S. 94).

Eine dem gegenüber versöhnliche Exil-Geschichte, die Meerwald aufgreift, spielt in München. Nicht alle befreiten spanischen Häftlinge gingen nach Frankreich. Einige verschlug es auch nach München. Dort im Nymphenburger Stadtschloss residierte damals die philanthropisch und karitativ eingestellte spanische Prinzessin María de la Paz von Bourbón und zu Borbón (verheiratet mit Ludwig Ferdinand von Bayern). Einige spanische Überlebende des KZ Dachau gingen auf sie zu mit der Bitte um Unterstützung, die ihnen auch gewährt wurde. Im Gegenzug reparierten die «Rotspanier» das bombengeschädigte Stadtschloss und fanden «ausgerechnet in der Münchener Residenz der Wittelsbacher eine neue Heimat» (S. 85). Nach dem Tod der 84-jährigen Infantin am 3.12.1946 endet diese denkwürdige Geschichte (vgl. S. 84-86).

4. Fazit ‒ Gegen das Vergessen

Das Buch füllt eine Lücke in der Forschung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und liefert einen weiteren Mosaikstein für die historische Erinnerung an die Opfer der Franco-Diktatur, die Flucht, Internierungslager, Zwangsarbeit, KZ Dachau und Exil erlitten. Geschichtliches Faktenwissen und persönliche Aufzeichnungen der ehemaligen KZ-Häftlinge werden in der Arbeit so verwoben, dass einer Reduzierung der Häftlinge auf eine reine Opferrolle entgegengewirkt wird. Das gelingt zum einen dadurch, dass die Namen der Häftlinge nach Möglichkeit genannt werden und «den Stimmen der Verfolgten» (S. 14) über entsprechende Zitate Präsenz verschafft wird. Das gelingt zum anderen dadurch, dass die gesamte Odyssee betrachtet wird samt Vor- und Nachgeschichte der Haft im KZ. Das unterstützt die Charakterisierung der Häftlinge als handelnde Personen, die Erhebliches zur Verteidigung der III. Französischen Republik und im Widerstand gegen die sie bedrängenden Diktaturen geleistet haben.

Meerwald schreibt sachlich und detailreich. Vielleicht liegt es gerade daran, dass er auf Heroismus und Victimismo verzichtet, dass diese Geschichte heute noch berührt und als noch nicht abgegolten deutlich wird. Eine fast vergessene Episode aus dem «Jahrhundert der Lager» (Zygmunt Bauman) historisch zu vergegenwärtigen, bedeutet Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart zu eröffnen. Das leistet Meerwald mit der vorliegenden Studie.


Johannes Meerwald: Spanische Häftlinge in Dachau. Bürgerkrieg, KZ-Haft und Exil. Reihe: Kleine Reihe zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; Bd. 4. Wallstein Verlag: Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5320-6 (Oktober 2022)



Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus ― Crisis de relaciones. Una historia emocional del separatismo catalán


Un libro de fácil comprensión sobre un problema difícil de comprender

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 19.10.2021), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 29.09.2022)

Entender a los catalanistas

Para quienes, de forma desprejuiciada, se interesan en Alemania por la política, no resulta fácil entender el nacionalismo catalán y su objetivo de fundar un nuevo estado nacional segregándose de España. Sobre la comprensión de lo foráneo pesa una dificultad añadida, el hecho de que en Alemania no existe actualmente ningún problema real de nacionalidades ni hay movimientos independentistas. De ahí la ausencia en Alemania de partidos políticos relevantes que pongan en cuestión los fundamentos de la constitución y, con ello, la estructura del estado. El texto publicado por la editorial Wallstein de la historiadora Birgit Aschmann, profesora en la Universidad Humboldt de Berlín, se propone hacer accesible a un público amplio el nacionalismo catalán y, específicamente, su radicalización como movimiento independentista a partir de aproximadamente 2010.

La increíble curva de crecimiento del separatismo catalán

En 1976, el primer año tras la muerte de Franco, solo un dos por ciento de los catalanes apoyaban la independencia (cf. p. 159). En el referéndum constitucional de 1978, que otorgó a nacionalidades y regiones el derecho a la autonomía, participó el 68 % de los catalanes y de ellos 90,5 % votaron a favor de la nueva constitución. Cuatro décadas más tarde, el panorama es radicalmente diferente: el presidente de gobierno de la comunidad autónoma de Cataluña, Carles Puigdemont, anunció el 10 de octubre de 2017: «Cataluña se constituye en un estado independiente en forma de república» (cf. p. 230). Es cierto que, segundos más tarde, esta declaración unilateral de independencia quedó suspendida. Pero el 27 de octubre del mismo año fue sometida a votación la declaración de independencia en el parlamento autonómico catalán, la Generalitat. La mayoría de los diputados, por entonces en manos de los separatistas, era favorable: del total de 135 diputados en el parlamento, 72 eran independentistas. En la votación celebrada el 27 de octubre, hubo 70 votos válidos pro independencia.

El proceso constitucional de un nuevo estado nacional, la República Catalana, previsto tras esta declaración unilateral de independencia, no llegó a activarse de facto. El mismo día, el gobierno catalán fue depuesto, el parlamento fue disuelto y se estableció una administración judicial basada en el artículo 155 de la constitución española. Paralelamente, se convocaron nuevas elecciones para la comunidad autónoma. Pocos días después se dictaron órdenes de detención para los principales protagonistas del movimiento independentista. Tras las elecciones del 21 de diciembre de 2017 hubo que esperar al 14 de mayo de 2018 para que se formara un nuevo gobierno en Cataluña y concluyera la administración judicial.

En aquellas fechas los partidos favorables a la independencia de Cataluña tenían una ajustada mayoría en el parlamento catalán. Ello no significa automáticamente que contaran con el respaldo de una mayoría de la población. El sistema de voto y la participación electoral deben ser tenidos en cuenta para interpretar los datos. En 2017, una mayoría separatista de escaños no se correspondía con una mayoría de votos.

A tenor de los resultados hubiera podido establecerse tras las últimas elecciones del 14 de febrero de 2021 una coalición de gobierno izquierdista, específicamente socialdemócrata. Pero ello iba contra los intereses de la mayoría separatista en el parlamento, que se aferraba al proyecto político de la independencia. En el seno de los partidos de gobierno coexistían entonces distintas opiniones sobre cómo acceder al objetivo de la independencia de Cataluña, a corto plazo o más bien a medio y largo plazo; y sobre la cuestión de si la declaración unilateral de independencia seguía siendo una opción política. Parecían existir también entre los nacionalistas catalanes separatistas no genuinos, para quienes la petición de independencia era un medio estratético para forzar al estado central a sentarse a la mesa, consiguiendo un estatus especial y ventajoso para Cataluña dentro del estado autonómico.

Desde el punto de vista jurídico se distingue a veces entre separación y secesión, consistiendo la primera en una aceptación por parte del estado central de la escisión (por ejemplo, a raíz de un referéndum legal), mientras que la segunda implica la no aceptación por el estado central de la división, como es el caso en la declaración unilateral de independencia de Cataluña en 2017. Por añadidura, un estado nuevo originado por el segundo tipo de escisión tendría comparativamente pocas oportunidades de conseguir el reconocimiento internacional.

El dinamismo del procés visto a través de la historia de las emociones

La pregunta central del libro es cómo pudo pasarse de un catalanismo político relativamente poco virulento, al menos hasta el año 2006, a este inverosímil robustecimiento del nacionalismo catalán. ¿Cómo pudo ocurrir que la construcción y profundización de la autonomía (autonomismo) dejara de ser el objetivo compartido por amplios sectores del catalanismo político, para ceder su lugar a un nuevo horizonte de expectativas, la separación de España y la fundación de un estado propio?

Para entender mejor la dinámica del procés, se esfuerza Aschmann en seguir los giros y mutaciones del catalanismo político desde sus comienzos hasta la actual situación a finales de 2020. Lo peculiar de su análisis, también si se compara con los numerosos estudios españoles acerca del procés, es la perspectiva de su investigación, centrada en la historia de las emociones (cf. pp. 15 y 160). Consecuentemente, su atención se dirige a fenómenos como la política emocional entendida como medio de dominación e instrumento de poder, a la lógica inherente a las emociones, y a la dialéctica entre construcción emocional de la comunidad y exclusión social. En la dinámica del proceso juegan un papel destacado las expectativas, decepciones, temores e ira, indignación y resentimientos.

El reciente nacionalismo catalán es percibido pues, no como un peculiar movimiento territorial, socialmente singular, sino que es puesto en el contexto más amplio de una cultura de las emociones que en las dos últimas décadas registra una apreciable transformación, caracterizada por una creciente intensificación emocional de política y sociedad. Esta transformación es entendida ―remitiendo al sociólogo An­dreas Reckwitz ― como signo de la modernidad tardía, vinculándola a fenómenos como el nacionalismo y populismo en auge, los movimientos sociales de la indignación, y la activación social en torno a cuestiones de identidad ―y en particular, también de identidades colectivas―. También desde otro punto de vista, el nacionalismo periférico catalán rehuye actuar en solitario, observando a otros nacionalismos periféricos y aspiraciones separatistas fuera de su territorio y manteniendo contacto con ellos. En España, la referencia principal es sin duda la trayectoria del País Vasco (cf. pp. 194 ss.).

El catalanismo desde sus comienzos en el siglo xix hasta el fin del franquismo

Tras la introducción, con la explicación del procedimiento y los interrogantes planteados, se procede a tratar la historia y, con ella, la historia emocional del catalanismo de forma cronológica en tres capítulos (véase al respecto el detalle del índice de contenidos en alemán). Es característico del siglo xix un regionalismo de doble identidad y la coexistencia de comunidades emocionales (capítulo II). El capítulo III describe la emergencia del nacionalismo catalán a partir de 1898 en el contexto de la historia de España y Cataluña hasta la muerte en 1975 de Franco. Este periodo comprende la monarquía hasta la dictadura de Primo de Rivera, la dictadura de Primo (1923-1930), la etapa de la segunda república y la guerra civil (1931-1939) y, por último, el largo tiempo de la dictadura de Franco, hasta 1975. Se explica cómo el nacionalismo centralista español durante ambas dictaduras no consiguió sofocar el nacionalismo periférico catalán, sino que incluso lo reforzó indirectamente. Aschmann habla de la dialéctica entre las exigencias autonómicas catalanas y el nacionalismo español (p. 68). Incluso hoy día puede detectarse una especie de acaloramiento nacionalista.

Es verdad que al comienzo de los años de la república se proclamó una república catalana «dentro de la Federación de Repúblicas Ibéricas» (1931), proclamación que fue retirada tres días más tarde; en 1934 se constituyó un estado catalán «dentro de la República Federal Española», abolido por la fuerza diez horas más tarde. Pero ninguno de los dos avances en la dirección federal llegaron a realizarse; fueron de corta duración y debidos a circunstancias históricas muy especiales. De hecho, durante la segunda república se alcanzó un estatuto de autonomía para Cataluña. A esta línea pudo darse continuidad en 1975.

Durante el franquismo se consolidó en el seno del catalanismo, según la autora, «la fuerza hegemónica del catalanismo católico», opuesto a la dictadura y unificador de los catalanes (p. 101). Es destacable también la creación de robustas organizaciones de la sociedad civil como Crist y Catalunya (1954) u Òmnium Cultural (1961) ya en tiempos de la dictadura (cf. pp. 103, 107).

El catalanismo en la democracia, 1975 a 2010: autonomismo y nation-building

En el periodo 1975-2009 (capítulo IV) tuvo lugar la aprobación de la constitución (1978) y la edificación del estado autonómico español (véase al respecto la discusión sobre derecho constitucional, reseñada en Spanienecho, en el libro de Aschmann y Waldhoff). En la comunidad autónoma de Cataluña gobernó entre 1980 y 2003 una coalición burguesa con Jordi Pujol como jefe de gobierno (presidente de la Generalitat). Hoy recibe esta era política la denominación de pujolismo, asociada a la profundización institucional de la autonomía (p. 128) en el sentido del nation-building (p. 133). Ello equivalía a una catalanización de la política lingüística, de la política mediática, de la política de educación y escuela, y, cuestión no menor, de la narrativa histórica.

Piedra angular de la revisión histórica fue la «narrativa victimista catalana», que, en su forma más abreviada se resume con las palabras de un independentista, «solo nos han dado palos» (cf. p. 187). Este punto de vista refleja el resentimiento que se nutre de repetidas derrotas (reales o imaginadas), persistentes experiencias de impotencia y la memoria activa de ello. Los rencores se combinan fácilmente con sentimientos de aversión. Para el movimiento independentista catalán fue decisiva la actualización del «resentimiento antiespañol catalán» (p. 190). Con tono moderado pero inconfundible señala Aschmann que también participaron en ello historiadores especializados: «la disposición a considerar como un hecho la opresión continuada por “España” era tanto mayor cuanto que los historiadores profesionales pusieron de su parte para hacer plausible esta tesis» (p. 187).

En 2003 sucedió a la alianza de partidos burgueses dirigidos por Pujol una coalición de izquierdas liderada por el socialista Pasqual Maragall, del PSC (Partit dels Socialistes de Catalunya). Un objetivo de este gobierno fue alcanzar un nuevo estatuto de autonomía para Cataluña en el que, entre otras cosas, Cataluña había de ser reconocida como «nación». Con ello, como expresa con cautela Asch­mann, «se tocaban ámbitos sumamente delicados de la constitución española» (p. 151).

Dado que no hubo examen preliminar sobre la constitucionalidad del estatuto de autonomía en proceso, este estatuto pudo ser aceptado en las Cortes españolas, aunque con considerables modificaciones del texto, y tras un referéndum favorable en Cataluña, entró en vigor en 2006. Seguidamente fue recurrido ante el Tribunal Constitucional por distintas instancias, destacadamente el principal partido de la oposición, el conservador Partido Popular. La decisión del alto tribunal se retrasó hasta 2010. Algunos artículos y disposiciones del estatuto fueron considerados contrarios a la Constitución. «El fracaso del intento de atribuir a Cataluña oficialmente el estatuto de “nación” fue el desencadenante de un giro político radical» (p. 160). A partir de entonces se constató un acelerado crecimiento del número de personas favorables a la independencia.

El catalanismo en democracia a partir de 2010: el procés, hijo de la indignación

Especialmente a partir de 2010 demostró la sociedad civil catalana su extraordinaria capacidad organizativa, su potencial movilizador y su llamativa creatividad. Un ingrediente fueron los «plebiscitos subversivos» (p. 168) entre 2009 y 2011, en los que casi el 60 % de los municipios catalanes votaron sobre si Cataluña debía convertirse en un «estado social, independiente y democrático en el seno de la Unión Europea» (cf. ibid.). Otro elemento fueron las manifestaciones masivas que se celebraron con ocasión del día nacional catalán, la Diada (11 de septiembre), y que pusieron en las calles, visiblemente, a cientos de miles y a veces más de un millón de personas. Aschmann subraya la significación de estas acciones performativas, colectivas, cargadas de emoción, en breve, del formar parte y contribuir activamente a ellas, para el sentimiento comunitario de los nacionalistas catalanes (p. 179). Era también inherente a la creatividad del movimiento el saber reforzar la capacidad de enganche entre sectores no separatistas de la población y de la vida pública. La exigencia del «derecho a decidir» (cf. p. 168) fue apoyada por una base más amplia que lo de los puros independentistas.

De igual importancia o incluso mayor si se contempla desde la perspectiva histórico emocional fue la transformación del emotional regime. Las dos principales organizaciones de la sociedad civil, Òmnium Cultural, encabezada por Muriel Casals, y la Assemblea Nacional Catalana (ANC), de nueva creación, con Carme Forcadell en la dirección, consiguieron, según Aschmann, revolucionar el emotional regime del movimiento y alumbrar una «revolución de las sonrisas» (revolució dels somriures). «No se trata en modo alguno de un pretendido comportamiento esencialmente “femenino”, sino de una estrategia deliberada de ambas mujeres para cosechar notables ganancias para el nacionalismo catalán en términos de simpatía en el interior y en el extranjero, aprovechando una específica gestión emocional. Ello exigía una rigurosa exclusión de emociones y prácticas agresivas» (p. 174).

Fue en 2012 cuando se hizo visible el giro decisivo desde el autonomismo al separatismo y se produjo la siguiente vuelta de tuerca independentista. En esta fase fue sintomática la novedosa colaboración de las organizaciones separatistas de la sociedad civil y el gobierno regional. El presidente Artur Mas y su partido habían apoyado hasta entonces la ampliación de los derechos y competencias de la comunidad autónoma. El fracaso en las negociaciones del gobierno regional en Madrid en torno a un nuevo acuerdo fiscal que consiguiera para Cataluña unas condiciones ventajosas, análogas a las que ya el País Vasco había conquistado (cf. p. 182), suscitó en Artur Mas un cambio de perspectiva y movió al cierre de filas con las fuerzas separatistas.

Escalada e implosión del procés

La nueva fase de escalada, minuciosamente descrita por Aschmann, prosiguió tras la Diada de 2012, cuando Artur Mas anunció «estructuras de estado para Cataluña», promovió en noviembre de 2012 con Diplocat un «servicio diplomático» para Cataluña y llamó a nuevas elecciones para fin de año, que debían tener carácter plebiscitario. En otras palabras: los votantes fueron llamados a votar por los partidos separatistas, para comisionar a esta facción el mandato de emprender nuevos pasos políticos hacia la secesión.

Bastan algunos sucintos indicios para evidenciar que el procés se encontraba ya por entonces en plena eclosión. Se iban emprendiendo más y más acciones difíciles o imposibles de armonizar con la constitución española: en 2013 proclamó el parlamento autonómico la soberanía del pueblo catalán; en 2014 tuvo lugar una consulta no vinculante (una especie de sucedáneo de referéndum de independencia); en 2015 se volvieron a celebrar elecciones de carácter plebiscitario; en junio de 2016 se decidió organizar ahora un referéndum vinculante sobre independencia; en septiembre de 2017 siguieron leyes preparatorias de la independencia; y en octubre de 2017 se llegó al referéndum y la proclamación de la república catalana.

A continuación, se produjo lo que ya arriba se ha indicado. Aschmann habla de una «virtual implosión silenciosa del procés» (p. 240). El hecho de que apenas hubiera violencia y que la intervención del estado central discurriera pacíficamente puede explicarse apelando al régimen emocional, al que iba aparejada de forma muy decisiva la no violencia, pero también a que los separatistas carecían de nociones precisas sobre los pasos y procedimientos ulteriores al momento de la declaración de independencia (cf. p. 241).

A ello se añade que también el gobierno central (tras su intervención violenta el día del referéndum del 2 de octubre) había aprendido que las fotos difundidas en los medios internacionales de policías dando golpes dañaban su imagen. Aschmann sugiere que las cosas pudieran haber sucedido de otro modo: «Era del todo desconocido qué hubiera pasado si en esta situación cargada de tensión se produjera el encontronazo entre elementos catalanes y españoles dispuestos a la violencia» (p. 242).

Resumen y observaciones finales

La autora proporciona en 250 páginas la mejor presentación hasta la fecha del catalanismo político desde sus comienzos hasta 2020 (para un público alemán). El tono es objetivo, la exposición concisa y el lenguaje pegadizo. La metodología elegida, basada en la historia emocional, demuestra cualidades como hilo conductor a lo largo del sucederse dinámico del procés. Parece también adecuada para llegar a un público amplio.

Como resultado, se ofrece una visión crítica, desde distintos ángulos, del movimiento independentista. Desde el punto de vista jurídico parecen problemáticas las vulneraciones separatistas del articulado de la constitución de 1978, así como el desacato de decisiones del tribunal constitucional. En cuanto a la objetividad, la reelaboración separatista de la narrativa de la historia hispanocatalana es problemática porque en muchos de sus puntos no puede comprobarse científicamente.

Han de añadirse dos notas críticas sobre la visión acerca de la democracia de los separatistas, que se consideraban a sí mismos ejemplarmente democráticos. Por un lado, Aschmann censura la falta de respeto de los separatistas hacia las reglas de juego del parlamento catalán (en particular durante la fase acalorada del procés, 2016 / 2017). Por otro lado, alude al déficit democrático del movimiento, que estriba en que los partidos separatistas, sobre la base de una exigua mayoría de escaños en el parlamento autonómico, se sentían autorizados a decidir unilateralmente en nombre de todos los catalanes (y todos los españoles) en una cuestión tan fundamental y tan decisiva para el futuro.

Un análisis histórico emocional, como el que aquí se dedica al procés, debe ser consciente del riesgo de atribuir especulativamente sentimientos que apenas pueden demostrarse empíricamente. Para el periodismo político, esto no es un problema, pero para la ciencia puede llegar a serlo. Un ejemplo: ¿qué sentimientos se apoderaron de Carles Puigdemont el día anterior al voto sobre la declaración de independencia del 27 de octubre de 2017? Según la autora «podrían haberse instalado en Puigdemont una confrontación entre miedos: el miedo a las consecuencias políticas, sociales y económicas de la independencia se enfrentaba al miedo ante el propio final de su carrera política y el desasosiego por la posible difamación de su persona» (p. 235). Ello es posible, pero lo desconocemos. Cabe añadir que la etiqueta de sentimiento elegida, «miedo», contiene también una componente de sugestión. En términos de enunciado (el miedo a las consecuencias de la independencia) podría también haberse elegido la expresión «sentimiento de responsabilidad», lo cual hubiera sonado diferente. Posiblemente, para tratar del procés y sus protagonistas, la responsabilidad sería la categoría políticamente más productiva.

Se puede dar por alcanzado el objetivo del estudio, de enfoque preciso, «analizar la lógica propia de las emociones, y consecuentemente entender lo sucedido, al menos retrospectivamente» (p. 15). Pero al mismo tiempo, ha sido la exitosa exploración de los mecanismos de escalada lo que despierta el deseo de comprender mejor y de otra manera aquello que caracteriza y motiva social, política y económicamente a las personas que se comprometieron con el movimiento independentista. Este desiderátum puede cifrarse para terminar en dos bloques de preguntas. Uno aborda el «resentimiento antiespañol»; el otro, los factores sociales que dieron un giro favorable a la causa catalanista.

En el libro se introduce el «resentimiento antiespañol» y el odio que se alimenta de él. Quedan en el aire las preguntas: ¿contra quién se dirige realmente este odio? ¿contra el gobierno central en Madrid en aquellas fechas? ¿contra cualquier gobierno en Madrid? ¿contra el sistema político? ¿contra los procedentes de otras partes de España que viven en Cataluña y que desean ser a la vez catalanes y españoles? ¿está confinado el resentimiento en los planos retórico-discursivos o se manifiesta en la vida cotidiana a través de prácticas en consonancia? ¿puede demostrarse la discriminación (presunta o real) de los no separatistas por los catalanistas en el día a día? Y, dicho de otra manera, ¿cómo se plasma en la vida cotidiana la opresión (presunta o real) de los catalanes, específicamente de los separatistas, a manos del estado central?

Este bloque de preguntas, que sondea la vida cotidiana de Cataluña, requiere investigaciones empíricas, así como el segundo bloque de preguntas, que apunta al sustrato social y los intereses de los agentes. ¿A qué círculos de personas seduce el separatismo, y a que intereses económicos va ligado? Aschmann da unas indicaciones iniciales sobre dónde es fuerte el movimiento independentista: algunos bastiones urbanos como Gerona en el nordeste catalán, y municipios del interior (cf. p. 169). Sería deseable dar pasos adicionales para describir la estructura del movimiento atendiendo a distribución de edades, nivel educativo, ingresos y posición social. ¿El catalanismo radical es más bien un fenómeno de clase media, o un movimiento transversal que se nutre de todas las capas sociales? ¿cuál es la caracterización social de los que no votan a los partidos separatistas o de los que se abstienen? ¿cuál es la actitud de las elites económicas y las familias catalanas hegemónicas ante el procés y cómo influyen sobre él? Tales cuestiones, es verdad, no recaen en principio en la órbita de la ciencia histórica, sino en la de otras ciencias sociales y el buen periodismo. Si ya existen investigaciones en esta línea en España, y en particular en Cataluña, sería de extraordinaria oportunidad dar a conocer también entre el público alemán sus resultados.

El procés no ha concluido. Lo que demuestra de forma impresionante el trabajo de Birgit Aschmann y lo que debe tenerse en cuenta para el futuro del conflicto es que pueden ocurrir muchas cosas y ni siquiera lo inverosímil puede ser descartado.


Birgit Aschmann: Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus. Göttingen: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1

[Birgit Aschmann: Crisis de relaciones. Una historia emocional del separatismo catalán. Gotinga: Wallstein-Verlag 2021; ISBN 978-3-8353-3840-1]

El texto puede conseguirse en la editorial también como e-book en formato pdf.

Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur

Gegen den Strich und gegen den Mainstream: neue Perspektiven, neue Einsichten

Rezension von Knud Böhle

1. Was zum Autor und seinem Buch eingangs zu sagen ist

Die vorliegende Geschichte der spanischen Literatur ist ein sehr persönliches Buch geworden. In gewisser Weise bietet es eine Summa der Lese-, Lehr- und Lebenserfahrungen eines Literaturwis­senschaftlers, der mehr als 50 Jahre zur spanischen Literatur geforscht und gelehrt hat. Zuletzt, von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2017, lehrte er spanischsprachige Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Mehrere Jahre war er zudem Präsident des Deutschen Hispanistenver­bandes. Viele spanische Autoren und Autorinnen lernte er persönlich kennen, darunter Juan Goyti­solo, «der kreativste Autor des 20./frühen 21. Jahrhunderts» (S. 336), und die hoch geschätzte, 2021 verstorbene Erfolgsautorin Almudena Grandes. Auf beide kommt Ingenschay mehrfach aus­führlich zu sprechen.

Die Grundstimmung des Buches ähnelt atmosphärisch einem Kamingespräch, bei dem ein erfahre­ner Hispanist seine Ansichten und Einsichten in nicht zu strenger Form, darum Anekdotisches und Privates einflechtend, weitergeben möchte. Susanne Zepp, derzeit Vorsitzende des Deutschen Hispanistenverbandes, spricht in ihrem kurzen Vorwort vom «biographisch-reflexiven Ansatz» des Au­tors (S. V). Angesprochen fühlen dürfen sich alle Leserinnen und Leser jedweden Geschlechts, die sich für die Literatur Spaniens – auch jenseits von «Höhenkamm-Literatur» (S. 4) und Main­stream – interessieren.

Auf der persönlichen Website des Verfassers ist zu erfahren, dass er sich in seinen Forschungen be­sonders mit zeitgenössischer Literatur, dem Themenfeld Gender Studies/ Gay Studies/ LGBTIQ+ Studies, dem Thema Großstadtliteratur sowie theaterästhetischen Problemen befasst hat.  Als Hochschullehrer ist er selbstverständlich auch bestens mit der Barockliteratur des «goldenen Zeitalters» vertraut. Das spezialisierte Fachwissen kommt in seiner Literaturgeschichte entsprechend stark zum Tragen.

2. Was den Ansatz des Buches und seine Struktur ausmacht

Eine auf Vollständigkeit abzielende Geschichte der spanischen Literatur vorlegen zu wollen, zumal als Einzelperson, wäre ein vermessenes Unterfangen. Daraus hatte Hans Ulrich Gumbrecht, übri­gens einer der Gutachter der Dissertation von Ingenschay, bereits 1990 die Konsequenz gezogen, und bewusst «Eine Geschichte der spanischen Literatur» vorgelegt. Der Vorteil einer solchen Ein­schränkung liegt auf der Hand: die eigenen Vorlieben, Forschungsperspektiven und Interessensc­hwerpunkte, also das wovon er oder sie am meisten versteht, können in den Vordergrund rücken. Der Nachteil, der dafür in Kauf zu nehmen ist, liegt zwangsläufig bei einem Verlust an Systematik und Abdeckungsgrad. Etwa 30 Jahre nach der Literaturgeschichte von Gumbrecht, und wieder kurz vor einer Buchmesse mit Spanien als Ehrengast und entsprechendem Schwerpunkt, wurde nun «Eine andere Geschichte der spani­schen Literatur» veröffentlicht.

In der Einleitung verdeutlicht der Verfasser sein besonderes Interesse an der Überschreitung (Transgression). Ihm ist daran gelegen, die konventionellen Perspektiven, Herangehensweisen und Interpretationsmuster zu hinterfragen und Alternativen anzubieten:

Die allgemeinste Formel, welche die Kapitel eint, ist die der Transgression, einer Trans­gression, die oft von einer Lektüre «gegen den Strich» ausgeht, nicht nur gegen den Strich des literarischen Höhenkamms, sondern insgesamt gegen den Strich herkömmlicher Betrachtungsweisen der spanischen Literatur (S. 3).

Ingenschay präzisiert weiter, worauf es ihm ankommt:

Es kann natürlich nicht darum gehen, historische Achsen oder Entwicklungslinien zu leugnen, sondern darum, unentdeckte Bezüge aufzuzeigen, subjektive Sichtweisen vorzuschlagen und andere Prioritäten, alternative Verbindungslinien als die des chronologischen Verlaufs zu un­terstreichen, etwa die der transgressiven Artikulation ästhetischer Sachverhalte, die zentrale Rolle der Fragen von Gender und Macht, oder die Interdependenz von Politik und literarischem Diskurs (S. 10).

Die zehn Kapitel (siehe die Hauptüberschriften in Tabelle 1) können für sich stehend als Essays ge­lesen werden. Erst über das Netz an übergreifenden Bezügen jedoch, wird daraus eine Literaturge­schichte.


  1. Ein Land voller Poesie. Lyrik vor und nach und während der «Generation von 1927» Cervantes und die Transgressionen
  2. Krisen und Chancen: von 1898 zu 2010
  3. Der Bürgerkrieg und seine Traumata. Historisches Gedächtnis und Erinnerungspraxis
  4. Von Madrid zum Himmel? Madrid-Literatur zwischen madrileñismo und Gesellschafts­kritik (Pérez Galdós, Cela, Grandes)
  5. Begehren und Aufbegehren. Literarische Dokumente des Transgressiven
  6. Lorca und die Missverständnisse
  7. Verunsicherte Geschlechterordnung und zweifelhafte (Mannes)-Ehre im Barockdrama (Calderón de la Barca, Lope de Vega, Tirso de Molina)
  8. Literatur aus und in den autonomen Regionen – zur Diversität der spanischen Literatur und zur Frage nach dem Ort jüdisch-spanischen Schreibens heute
  9. LGBTIQ+-Themen in der spanischen Literatur
  • Literaturverzeichnis
  • Namensregister

Tabelle 1: Oberste Ebene des Inhaltsverzeichnises.
Bei der Deutschen Bibliothek ist das detaillierte Inhaltsverzeichnis abrufbar:
https://d-nb.info/1249017742/04


Die sich durchziehenden Fäden werden über Autoren, intertextuelle Bezüge und Themen zu einem Netz gespannt. Beispielsweise werden Werke von Almudena Grandes in mehreren Kapiteln erörtert: in Kap. 6, in dem es um Begehren und Aufbegehren in der von Frauen geschriebenen Literatur geht, in Kap. 5 zur Madrid-Literatur und in Kap. 4, das die Bürgerkriegsliteratur behandelt. Von Juan Goytisolo kommt im Bürger­kriegskapitel ein Werk zur Sprache und in Kap. 10 zur LGBQTI+-Lite­ratur ein anderes.

Ein intertextueller Pfad geht z.B. von dem in Spanien bekannten, katholisch-mystisch-erotisch ge­prägten Barockgedicht des Johannes vom Kreuz (1542-1591) «En una noche oscura…» aus.

In ei­ner dunklen Nacht / mit sehnsuchtsvollem Bangen in Liebe entflammt / o glückliches Geschick! / ging ich hinaus, unbemerkt / da mein Haus schon in Ruhe dalag. […] O Nacht, die du vereintest / Geliebten mit Geliebter / Geliebte in den Geliebten verwandelt! […] (vgl. S. 36).

Dieser Pfad führt zunächst weiter zu einer parodistisch homoerotischen Variante des Gedichts von Jaime Gil de Biedma. Diese war 1983 im Kontext der movida entstanden, also jener zum Teil schrillen kulturellen Explosion Spani­ens nach Francos Tod. Bei Juan Goytisolo findet sich der Ausgangsstoff wenige Jahre später wieder in dem Roman «Die Reise zum Vogel Simurgh» (dt. 2012, Orig.: Las virtudes del pájaro solitario, 1988). Die Zei­ten haben sich geändert. AIDS kursiert. Im Licht von Eros und Thanatos und im Geiste von San Juan de la Cruz hat Goytisolo den Stoff neu durch- und umgearbeitet. Thematisch geht es bei Ingen­schay immer wieder, von Cervantes bis zur Gegenwart, um sexuelles und insbe­sondere um nicht-heterosexuelles Begehren.

Im Rückblick auf die 10 Kapitel des Buches insgesamt, lassen sich zwei Hauptachsen unterschei­den. Die erste Achse dreht sich um das Aufbegehren gegen das Konforme, gegen die herrschenden gesellschaftliche Normen. Die Auf­merksamkeit gilt sexuellem Begehren, Transgressionen und gen­der trouble. Es geht komplementär aber auch um den gesellschaftlichen Umgang mit Abweichung­en von der Norm, und das bedeutet im besten Fall die Anerkennung von Diversit­ät. Am «Don Quijote» des Miguel de Cervantes wird die humanistische Toleranz dann konkret auf­gezeigt.

Diversität in einem weiten Sinne verstanden als das Einbeziehen des von der dominanten Kultur Ausgegrenzten bedeutet für die vorliegende Literaturgeschichte unter anderem, dass Literatur von Frauen stark vertreten ist (namentlich im Kap. 6 mit Emilia Pardo Bazáns, Carmen de Burgos, Al­mudena Grandes, Najat El Hachmi, Rosa Montero). Im LGBTIQ+Kapitel (Kap. 10) sind es dann insbesondere Werke nicht-heterosexueller Autoren, die vorgestellt werden (Juan Goytisolo, Álvaro Pombo, Eduardo Mendicutti, Luis Antonio de Villena, Terenci Moix, Luisgé Martín). In diesem Ka­pitel findet auch die so genannte dekadente Literatur der Jahrhundertwende ihren Platz.

Diversität zeigt sich auf einer anderen Ebene darin, dass die Literaturen Kataloniens, des Basken­landes und Galiziens sowie die sephardische Literatur extra behandelt werden (Kap. 9). Sephardi­sche Literatur meint hier sowohl die Werke, die in der sephardischen Diaspora entstanden als auch spanische Literatur mit jüdischer Thematik (z.B. die historischen Romane von Carme Riera zur Ver­treibung der Juden aus Spanien) und schließlich auch die Arbeiten aktueller spanischer Autoren mit sephardischem Hintergrund.

Bei der zweiten Achse geht es um die Verarbeitung von politisch-gesellschaftlichen Krisen und Trau­mata in der spanischen Literatur (Kap. 3 und 4). Ingenschay geht auf die Krise nach dem Ver­lust der Kolonien 1898 (Kuba und Philippinen) und den zugehörigen Diskurs der «Generation von 98» (la Generación de 98) ein. Aber auch das literarische Echo der jüngeren Krisen, Katastrophen und Konflikte nach dem Ende der Franco-Diktatur wird aufgegriffen (versuchter Staatsstreich vom 23. Februar 1981, islamistisches Attentat auf die Madrider Vorortzüge am 11. März 2004 und die Fi­nanz- und Bankenkrise mit ihren sozialen Folgen ab 2008).

Dem Bürgerkrieg und seinen Traumata wird ein eigenes Kapitel gewidmet, das von den Jahren des Bürgerkriegs (1936-1939) über Exil und «inneres Exil» im Franquismus bis in unsere Tage reicht. Den Boom der neueren spanischen Bürgerkriegsliteratur sieht Ingenschay zwischen 1985 und 2010, mit einem Höhepunkt ab dem Jahr 2000 mit mehr als 100 Buchtiteln (vgl. S. 141f.). In den jüngeren Publikationen wird das Themenfeld Krieg und Diktatur häufig vor dem Hintergrund der politischen Debatte um die Vergangenheitsbewältigung bearbeitet, und die dabei entstehenden Werke werden selbst Teil des Streits um das historische Gedächtnis und eine angemessene Erinnerungspolitik.

3. Was diese Geschichte der spanischen Literatur so gut lesbar macht

Die andere spanische Literaturgeschichte ist außerordentlich gut lesbar. Dafür gibt es eine Reihe an Gründen. Erstens schreibt Ingenschay allgemeinverständlich und findet oft prägnante Formulierun­gen, etwa wenn er vermerkt: «Das Thema des gender trouble, des cross-dressing, der bärtigen Frau­en und der allzu sanften Männer hat im spanischen Barock Konjunktur» (S. 318).

Es gelingt ihm, zahlreiche (gefühlt mehr als 100) komplexe Werke auf wenigen Seiten, manchmal in nur wenigen Absätzen, zu resümieren und auf den Punkt zu bringen, an dem die Interpretation ansetzen kann. Weil so viele Titel besprochen werden, kann das Buch auch als anregender Literatur(ver)führer dienen. Berücksichtigt werden häufig AutorInnen, deren Werke ins Deutsche übersetzt wur­den. Für ein deutsches Publikum ist es ein nützlicher Service, dass die deutschsprachi­gen Ausgaben im Literaturverzeichnis ausgewiesen sind. Um hier einige der in Deutschland be­kannteren noch lebenden AutorInnen aufzurufen, mit deren Werken sich das Buch befasst: Fernando Aramburu, Bernardo Atxaga, Najat El Hachmi, Rosa Montero, Antonio Muñoz Molina, Carme Rie­ra, Manuel Rivas, Isaac Rosa.

Was die AutorInnen angeht, werden häufig biografische Details und Anekdotisches eingearbeitet. Als kleines Beispiel sei eine Passage über Álvaro Retana (1890–1970) gewählt, der ein herausra­gender Vertreter der dekadenten Literatur Spaniens war.

Sich selbst bezeichnete der Autor, der gern einen rosafarben bestickten Umhang trug, gelegent­lich als den «schönsten Romancier der Welt» (el novelista más guapo del mundo). Auch er stand im Bürgerkrieg dezidiert auf republikanischer Seite (und schaffte sich einen seidenen Blaumann an, um sich ein arbeiter-affines outfit zu geben). Prompt wurde er (wegen des Besitzes katholi­scher Kultgegenstände) verhaftet und verurteilt, und nur Papst Pius XII., Hochhuths notorischer «Stellvertreter», konnte eine Umwandlung der Todesstrafe in einen Haftaufenthalt bewirken, der bis 1948 dauerte (S. 379).

Dass Ingenschay persönliche Erfahrungen und Begegnungen, angenehmer und weniger an­genehmer Art, mit Schriftsteller*innen und Fachkollegen einfließen lässt, ist ein weiteres Stilmittel.

Ein anderes belebendes Element ist die hin und wieder bewusst kontrastierende Auswahl der be­sprochenen Werke. So wird z.B. im Zusammenhang mit dem Staatsstreichversuch vom 23. Februar 1981 einmal das Geschehen aus dem Erleben eines Transvestiten heraus beschrieben, der sich vor der Rückkehr der Diktatur fürchtet (Eduardo Mendicutti: Una mala noche la tiene cualquiera, 1982). Dem wird eine dokumentarisch-fiktionale Darstellung entgegengesetzt, bei der führende Po­litiker der transición die Hauptpersonen sind (Javier Cercas: Anatomía de un instante, 2009; dt. Anatomie eines Augenblicks, 2009). Ein zweites Beispiel stammt aus dem Abschnitt über die kata­lanische Literatur: Eine Dreiecks- bzw. Ehebruchgeschichte von Montserrat Roig, bei der eine aus Andalu­sien stammende Frau eines katalanischen Metzgers sich in einen katalanistischen Aktivisten ver­liebt, wird kontrastiert mit einem Roman von Juan Marsé, in dem eine Katalanin mit katalani­schem Gatten, diesen mit einem Andalusier betrügt (vgl. S. 341).

Der deutschen Leserschaft entgegenkommend werden zwei Deutsche mit starkem Spanienbezug über zwei kleine Exkurse ins Spiel gebracht. Ingenschay zeigt, dass der Versuch über die Juke­box von Peter Handke eine veritable Hommage an den Dichter Antonio Machado enthält. Ein zweiter Exkurs greift den Streit um Enrique Beck auf, den über viele Jahre allein autorisierten Übersetzer Lorcas ins Deutsche (ab 1946), dessen Übertragungen häufig kritisiert wurden, wie etwa in dem Hans-Magnus Enzensberger zugeschriebenem Urteil deutlich wird: «Lorca sei in der Beck’schen Version eine ‹Art Zigeunerba­ron aus Granada›» (vgl. S. 286).

Nebenher wird auch noch hispanistisches Grundwissen vermittelt. Das nötige Fachvokabluar wird im jeweiligen Kontext knapp erläutert (einschlägig: gruegería, tremendismo, esperpento, costum­brismo, madrileñismo, Krausismo, Generación del 98, Generación del 27). Bei den Werkinterpretat­ionen geht Ingenschay häufig von anerkannten Interpretationen anderer Hispanisten aus und stellt diesen seine Sicht entgegen, ‒ aber ohne sich dabei zu sehr auf seine Meinung zu ver­steifen, und ohne die Leserinnen und Leser zu sehr in Fachkontroversen oder Theorienstreit hinein­zuziehen.

4. Exemplarische Befunde aus vier Kapiteln zeigen, was diese Literaturgeschichte leisten kann

Aus der Fülle der in den zehn Kapiteln gebotenen Informationen und Befunde werden in diesem Abschnitt nur einige wenige Beispiele herausgezogen und kurz besprochen: aus dem Kapitel über Cervantes (Kap. 2) werden Einsichten zu den «Ex­emplarischen Novellen» vorgestellt, aus dem Ka­pitel über das Drama im Barock (Kap. 8) werden Erkenntnisse zum «Ehrbegriff» wiedergegeben, aus dem Kapitel zu Federico Garcia Lorca (Kap. 7) werden Hinweise auf dessen Innovativität als Lyriker und Bühnendichter aufgegriffen und bei dem Kapitel zur Madrid-Literatur (Kap. 5) wird das Augenmerk auf den jeweiligen Einbezug der Stadt Madrid in den Romanen vom Realismus bis zur Postmoderne gelegt.

4.1 Zu den «Exemplarischen Novellen»

Im Kapitel über Cervantes, das dankenswerterweise alle Werke anspricht und keineswegs nur den Quijote, zeigt die Analyse der «Exemplarischen Novellen», wie ergiebig eine Lektüre gegen den Strich sein kann. Liest man nämlich diese Erzählungen genauer, so findet man «[…] nicht nur etwas ‹Unmoralisches› in jeder von ihnen, sondern nahezu eine Orgie der Transgressionen, der Tabuver­letzungen, Elemente allesamt, die ich – vor der Folie der zeitgenössischen Werteskalen – als uner­hört klassifizieren musste» (S. 92). Das Attribut exemplarisch diente folglich nur dazu, «den für die Gattung, besonders bei Boccaccio, konstitutiven, sexuell konnotierten Skandal hinter einer Fassade moralischer Vorbildlichkeit zu verstecken» (S. 94). Ingenschay sieht hier eine «zentrale diskursive Strategie» des Autors. Offen bleibt, inwieweit es damals gängige Praxis war, den Anschein der poli­tisch-moralischen Korrektheit zu wahren, um sich dann gewisse Freiheiten herausnehmen zu kön­nen.

4.2 Zum Konzept der Ehre im Barockdrama

Zum Konzept der Ehre im Barockdrama bietet Ingenschay, gestützt auf einschlägige neuere For­schungsarbeiten, überraschende Einsichten. Meistens gilt, dass Männer sich gegenüber Frauen so ziemlich alles erlauben können, ohne Kritik oder Strafe befürchten zu müssen. So wird etwa in dem, üblicherweise Tirso de Molina zugeschriebenem Don-Juan Drama von 1619 «Don Juan oder der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast» dem Don Juan nicht der Garaus gemacht, wegen sei­nes verwerflichen Umgangs mit Frauen («… und das größte / Vergnügen, das ich kenne / ist, eine Frau zu verführen / und sie ohne Ehre zurückzu­lassen», zitiert auf S. 331). Es ist am Ende das Ver­gehen der Gotteslästerei, das den Himmel einschreiten lässt und Don Juan mit dem Tod bestraft (vgl. ebd.).

Zeitgleich taucht in dem berühmten Stück von Lope de Vega «Fuente Oveju­na» (1619; dt.: Das Dorf Fuente Ovejuna / Sein ist Schein) ein erstaunlicher Fall auf, in dem ein Adliger sich nicht mehr alles erlauben kann. Eine junge Frau wird durch den adligen Komtur des Ortes bedrängt. Durch eine flammende Rede an die Männer des Dorfes erreicht sie, dass der adlige Frauenschänder gelyncht wird. In Vergegenwär­tigung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds verschiebt sich die Sicht auf diese emanzipiert wirken­de weibliche Protagonistin. Es wird gezeigt, dass insbesondere nach dem Trien­ter Konzil die Frage der Ehre mit der limpieza de sangre (der Reinheit des Blutes) kurzge­schlossen wurde. Dadurch wur­de eine Konstellation möglich, bei der die Leute vom Lande als christliche Altspanier ihre Ehre auf Blutreinheit gründen und gleichzeitig dem Adel seine mögliche Mischung mit jüdischem oder maurischem Blut vorhalten konnten. «So geht es in Fuente Ovejuna in zeitgenössischer Perspektive nicht primär um Fragen von Emanzipation und Frauenehre in einem heutigen Sinne, sondern um eine Darstellung der Folgen des neu institutionalisierten Antisemitis­mus und der Islamfeindlichkeit im Anschluss an die Zwangskonversion oder Vertreibung der Juden nach 1492» (S. 324).

4.3 Zu Garcia Lorca und seinem Werk

Das Kapitel über Federico Garcia Lorca (1898-1936) ist nicht zuletzt deshalb lohnend, weil es Ord­nung schafft. Es behan­delt die gesamte Lyrik und die Theaterproduktion und umfasst sowohl die zu Lebzeiten als auch die posthum veröffentlichten oder auf die Bühne gebrachten Werke. Gerade die späten, selten auf­geführten Werke haben «allesamt stark experimentellen Charakter» und zeigen, «dass Lorca im Kontext der ästhetischen Wandlungsprozesse der späten 1920er Jahre eine grundle­gende Erneue­rung der zeitgenössischen Dramatik anstrebte» (S. 283). Im Bereich der Lyrik sieht In­genschay die 220 Verse lange Klage auf den Torero, Weltmann, Dandy und Schriftsteller Ignacio Sánchez Mejías, den Llanto por Ignacio Sánchez Mejías, «in ihrer spezifischen Mischung traditio­neller lyrischer Figu­ren und innovativer, idiosynkratischer Elemente als Summa der lyrischen Pra­xis Lorcas» (S. 292). Leben und Werk Lorcas werden außerdem auch mit Blick auf die Homosexua­lität des Autors analy­siert: die mal offenere, mal versteckte Präsenz der Homosexualität in den Tex­ten, die Schwierigkeit Lorcas, seine Homosexualität zu leben und die Schwierigkeiten seines dama­ligen Um­feldes, aber auch der Nachwelt der Erben, Rechteverwerter und der spanischen Gesell­schaft, offen mit der Homosexualität des Dichters umzugehen – ohne ihn im anderen Extrem gleich zur «schwulen Ikone» (vgl. S. 299ff.) hochzustilisieren.

4.4 Zur Entwicklung des Madrid-Romans

Das Kapitel über die Madrid-Literatur ist nicht nur das längste und das facettenreichste, es ist auch besonders gut durchkomponiert. Man sieht die Entwicklung der Stadt Madrid förmlich in der Lite­ratur nachvollzogen. Benito Pérez Galdós, dem Realismus zugerechnet, steht am Anfang, und er steht gleichzeitig auch für den co­stumbrismo vieler Madrid-Romane, also mit Ingenschay für die «Literalisierung des stets etwas provinziell anmu­tenden städtischen Alltagslebens mit seinen Sitten und Gebräuchen» (S. 185). Das Überschreiten der Grenzen von Stadtvierteln wird für die Personen des Romans (aufgezeigt z.B. an dem Roman «Fortunata y Jacinta» aus dem Jahre 1887) ein Über­schreiten sozialer Grenzen.

Der moderne Großstadtroman im engeren Sinn, «La colmena», stammt von Camilo José Cela und wurde zuerst 1951 in Argentinien und dann 1955 auch in Spanien veröffent­licht (dt.: Der Bienen­stock, 1964). Ingenschay betrachtet diesen Roman als den «‹Null­punkt› der modernen Aneignung Madrids» mit der charakteristischen Vereinzelung und Anonymität ihrer Bewohner.

In einer späteren Phase verlagert sich die Aufmerksamkeit dann zunehmend vom Zentrum in die Peripherie der Armenviertel. In dem 1961 erschienenen fulminanten Roman «Tiempo de silencio» von Luis Martín-Santos (dt.: Schweigen über Madrid, 1991) werden Zentrum und Peripherie bereits in Beziehung gesetzt. In späteren Romanen wie «Madrid 650» (1985) von Francisco Umbral domi­niert dann die Peripherie. Umbral hat sich in diesem Roman «von einer Stadtsemiotik, die auf die Zentralität eines innerstädti­schen Kerns setzt, verabschiedet» (S. 650).

Im Madrid-Roman «Ciudad rayada» (1998, «Die Stadt mit den Streifen») von José Ángel Mañas trifft man einen neumodernen madrileñismo an. Dem madrileñista «bedeutet die Hauptstadt nicht nur Lebensmittel­punkt, sondern Quelle der Inspiration und Objekt der Bewunderung» (S. 200). Protagonist ist ein junger Student, der vom Drogen­handel lebt. «Die Stadt dient ihm als ästhetische Inspiration, zumal er sich in seiner Freizeit Technomusik widmet. In seine Stücke hinein mischt er den Sound, der das postmoderne Madrid am bes­ten repräsentiert: den Lärm der Stadtautobahn M 30. Dies lässt sich als heimliches Leitmo­tiv der postmodernen Anverwandlung Madrids bezeich­nen» (S. 218).

Von einem begrünten Abraumhügel im Süden Madrids schaut der Student mit seiner Freundin auf die Stadt:

Es war, als ob das ein großer Bienenkorb von Irren wäre, und wir oben drauf wären und die Welt kontrollierten […] Die Wolken sahen lila aus, und die letzten Sonnenstrahlen äh­nelten den Lasern in der Disko­thek. Wir sahen das Planetarium von Atocha, und die M 30, schon erleuchtet… (Ausschnitt aus dem Zitat bei Ingenschay, S. 219).

Ingenschay reflektiert daran anschließend «die Unterschiede zwischen der Bienenstock-Metapher bei Galdós, Cela und Mañas» (S. 219), und das macht den Wandel von Stadt und Lebensgefühl noch einmal deutlich: «Während Galdós (in seinem Roman Misericordia) eine Zeile aufgereihter Wohnungen in einem armen Viertel nahe der Ronda de Toledo konkret als ‹Bienenstock› bezeich­net, drückt Cela mit dieser Metapher die ‹essenzielle› Entfremdung der verlorenen ‹Bienen› aus – in seinem Roman laufen alle Menschen gesenkten Hauptes. Mañas dagegen bedient sich des Tricks der erhabenen Perspektive, um sich Madrid hedonistisch anzuverwandeln. Mañas reinterpretiert die Bienen-Metapher also ästhetisch, unter Beimischung einer ordentlichen Prise postmoderner Stadter­fahrung» (S. 219).

5. Anmerkungen zur Behandlung der Krisenliteratur bei Ingenschay

Ohne «Mut zur Lücke» (S. 3) hätte die andere Geschichte der spanischen Literatur gar nicht ge­schrieben werden können. Das schließt nicht aus, dass manche Leserin und mancher Leser, die eine oder andere Lücke bedauerlich findet. Auf solche Lücken wird im Folgenden aufmerksam gemacht. Außerdem wird hinterfragt, in wieweit der selbst gesetzte Anspruch, «die Interdependenz von Poli­tik und literarischem Diskurs» (S. 10) aufzuklären, in den Kapiteln, die sich mit den Krisen, Kata­strophen und Traumata der spanischen Ge­schichte befassen, eingelöst wird.

5.1 Krisendiskurs in Spanien Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Verlust der Kolonien

Nach dem Verlust der Kolonien, Kubas und der Philippinen, 1898 im spanisch-US-amerikanischen Krieg war eine Krisenstimmung entstanden, die intellektuell verarbeitet wurde. Dieser Kontext wird gut und ausführlich beschrieben. Dazu gehört auch die Genese der «Generation der 98er», zu der meis­tens die prominenten Schriftsteller Miguel de Unamuno, Enrique de Mesa, Ramiro de Maeztu, Azorín, Antonio Machado, Pío Baroja und Ramón del Valle-Inclán und nicht zuletzt Ángel Ganivet (als Vorläufer) gerechnet werden. Ingenschay steht auf der Seite der Literaturwissenschaftler, die in der Rede von der Generati­on der 98er eine Zuschreibung von außen sehen, ein Label unter dem man sehr unterschiedlich den­kende und schreibende Personen «zwangsvereint» (vgl. S. 111) hat, die sich nicht einmal selbst als Gruppe verstanden.

Unabhängig davon, ob das nun eine Gruppe war oder nicht, kann doch davon ausgegangen werden, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein langfristig wirkmächtiges Narrativ entstand, des­sen Kern «das kollektive Lamentieren angesichts einer ‹nationalen Katastrophe›» (S. 110) war. Dieser Diskurs wird jedoch in dieser Literaturgeschichte nicht weiter durch Werkanalysen untermauert. Das mag damit zu tun haben, dass der stark auf die Interpretation einzelner erzählerischer Werke ausgerichtete Ansatz Ingenschays die Essayistik, die typische Form für die literarische Reflexion von Ge­schichte und Politik, von Krisen und Katastrophen, weitgehend ausspart. Überraschend ist eher, dass die Romane von Azorín, Unamuno und Pio Baroja, die konkret vorgestellt werden, offen­kundig ausgesucht wurden, weil sie literarisch interessant sind. Die Chance, die Wechselbeziehung von Belletristik und öffentlich-politischem Diskurs anhand exemplarischer Werke zu klären, wird so vergeben.

Vermisst wird auch ein Hinweis darauf, dass das pessimistische, nationalistische, die spani­sche Identität suchende, jeglicher Diversität abholde Narrativ jener Jahre schon damals von liberal und plu­ralistisch denkenden Zeitgenossen wie dem Schriftsteller und Politiker Manuel Azaña durchschaut und kritisiert wurde (vgl. dazu etwa den Essay von Juan Goytisolo «El lucernario. La pasión crítica de Manuel Azaña», 2004). Insgesamt hätte etwas mehr Aufmerksamkeit für die literarische Produk­tion liberaler, linksliberaler und linker Schriftsteller dem Kapitel gut getan.

5.2 Krisendiskurs Anfang des 21. Jahrhunderts

Bei den Krisenerfahrungen nach 1975 und ihrem Niederschlag in der Literatur widmet Ingenschay sich der Literatur zum versuchten Staatsstreich vom 23. Februar 1981, dem islamistischen Anschlag auf die Madrider Vorortzüge vom 11. März 2004 und der Krise nach 2008, in der vielfältige wirt­schaftliche (Bankenkrise, Immobilienkrise, Arbeitslosigkeit …) und politische Probleme (Parteien­system, Korruption, Katalonienkrise, Vergangenheitsbewältigung …) zusammenkamen.

Die fetten Jahre sind vorbei und «es entsteht eine wuchernde Literatur der Kri­se» (S. 132). Rafael Chirbes wird dabei zu Recht als «der Wegbereiter und Hauptvertreter des Krisenromans» (S. 133) herausgestellt. Zu den Krisenerfahrungen gehört auch der sich verschärfende Katalonien­konflikt, der bei Ingenschay leider nicht verhandelt wird, obwohl es nicht wenige Romane gibt, die den kata­lanischen Nationalismus befeuern oder hoch reflektiert sich des komplexen Verhältnisses zwischen Spanien und Katalonien angenommen haben.

5.3 Boom der Bürgerkriegsliteratur

Auch bei der Behandlung der unüberschaubaren Bürgerkriegsliteratur vom Beginn des Krieges bis heute, ist der Mut zur Lücke unvermeidlich. Das gilt umso mehr als Ingenschay den Bezugsrahmen weit fasst. Außer der Literatur zum Bürgerkrieg im engeren Sinn (1936-1939) bezieht er auch die zu den ersten zwei Jahrzehnten der Franco-Diktatur (und des Widerstands dagegen) mit ein. Letztlich schließt er sogar alle Literatur mit ein, die mit der historischen Erinnerung an den Bürgerkrieg zu tun hat, auch wenn ihre Handlung in der Gegenwart angesiedelt ist. Für die Struktur des Kapitels ist die Entstehungszeit entscheidend: (1) Bürgerkriegsliteratur, die während des Krie­ges entstand, (2) Literatur, die während des Franquismus im Exil oder im «inneren Exil» bei waltender Zen­sur ver­fasst wurde und (3) die Werke, die nach Francos Tod verfasst wurden ‒ bis zur Jahrtausendwende (3a) und die des Booms danach (3b).

Bezogen auf «die Interdependenz von Politik und literarischem Diskurs» (S. 10) ist die Unterscheidung in die Romane, die bis Ende der 1990er Jahre geschrieben wurden (Phase 3a) und die des Booms ab 2000 interessant. In den Romanen der Phase 3a ist bestenfalls und «eher zaghaft eine Revision des historischen Gedächtnisses» anzutreffen (vgl. S. 164), während die Diskussionslage in der Phase 3b durch weitreichende und lautstarke Forderungen nach einer systematischen Aufarbei­tung der Vergangenheit gekennzeichnet ist.

Bei der Behandlung der Boom-Literatur nach 2000 bespricht Ingenschay wieder verschiedene Wer­ke ausführlich. Der Roman von Javier Cercas (*1962) «Soldados de Salamina» von 2001 (dt.: Sol­daten von Salamis, 2002) gehört dazu (vgl. S. 166-172; ausführliche Inhaltsangabe in der Wikipedia). Bis 2007 wurden über eine Million Exemplare davon in Spanien verkauft (vgl. S. 165). Ohne hier ins Detail zu gehen, lässt sich festhalten, dass man es, um es einmal so zu nennen, mit einem «invertierten Schlussstrich-Roman» zu tun hat. Besiegte, Gegner oder Opfer des Franquismus sind in diesen Romanen bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Kritik an der mangelnden politischen Aufarbeitung der Vergangenheit in der Demokratie wird nur sehr leise vorgebracht.

Ingenschay unterzieht den Roman einer harschen Kritik und entdeckt in dem Werk «Skan­dalöses», «Schräges» und «Frauenfeindliches». Die Kritik ist eine doppelte: der Roman wird als schlecht und dazu politisch fragwüdig, sein Autor als unzureichend sensibilisiert für Fragen des historischen Gedächtnisses eingeschätzt (vgl. S. 169). Das Merkwürdige und Frappierende ist, dass Ingenschay ausgerechnet einen Roman als Musterbeispiel der Boom-Phase nach 2000 ausgewählt hat, der offenbar noch gänzlich unberührt von der neuen Diskussionslage verfasst wurde. Er ist von daher völlig ungeeignet, das Neue der Literatur in der Phase 3b zu belegen.

Mehrere Entwicklungen, um das kurz zu erläutern, haben zu dem unbestreitbaren Wandel der Erinnerungskultur beige­tragen (vgl. grundlegend dazu die höchst lesenswerte Studie von Walther. L. Bernecker und Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Nettersheim 2008). Die Geschichtswissenschaft lieferte zunehmend Evidenz für das ungeheure Ausmaß der Re­pression im franquistischen Unrechtsregime; die «Gesellschaft zur Wiedererlangung des histori­schen Gedächtnisses» und andere Initiativen zeigten mit der Entdeckung der zahlreichen anonymen Massengräber aus der Franco-Diktatur, dass die Vergangenheit keineswegs abgeschlossen war. Nachdem die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE – Partido Socialista Obrero Español) die Regie­rungsmacht an die Volkspartei (PP – Partido Popular) hatte abgeben müssen, die ab dem Jahr 2000 mit absoluter Mehrheit regierte, begann die Linke verstärkt die Kontinuität des Franquismus in Ge­stalt des PP und in den staatlichen Institutionen zu kritisieren. In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner wurde nun auch der Erinnerungspolitik und der Aufarbeitung der Vergangenheit ein größerer Stellenwert beigemessen. Nach Wiedererlangung der Regierungsmacht durch den PSOE, mit dem Ministerpräsidenten José Luis Zapatero an der Spitze, wurde das «Gesetz zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses» (Ley de la memoria histórica) im Jahr 2007 ver­abschiedet.

«Invertierte Schlussstrich-Romane», so die Vermutung des Rezensenten, waren Phänomene des Übergangs. Das Narrativ von der vorbildlichen Demokratisierung nach 1975 kam langsam an sein Ende, der neue Krisendiskurs nahm erst allmählich Fahrt auf. Der sich verändernde politisch-öffentliche Diskurs nach dem Jahr 2000 und die veränderte politische Gesamtlage in Spanien nach 2008, lassen in der Tat keine «invertierten Schlussstrich-Romane» mehr erwarten. Erklärungsbedürftig bleibt, warum Romane dieses Typs so spät auftauchen – erst über 20 Jahre nach der Verabschiedung der demokratischen Verfassung Spaniens im Jahr 1978. Das könnte so gedeutet werden, dass sie eine provisorische Form darstellen, das politisch gewollte Schweigen der ersten zwanzig Jahre nach Francos Tod zu überwinden bei gleichzeitiger Aufweichung des dichotomen «Zwei-Spanien-Motivs» (rechts-links, gut-böse, Verlierer-Sieger, Täter-Opfer). Sicher ist, dass in diesen Roma­nen nicht über die Vergangenheit ge­schwiegen wird. Ebenso sicher ist aber auch, dass sie die Vergangenheit noch nicht vom Standpunkt der verallgemeinerten Krise, zu der auch die verschleppte Vergangenheitsbewältigung gehört, betrachten.

Eine letzte Anmerkung zu diesem Kapitel: Ein Strang der Bürgerkriegsliteratur, der sich von den 30iger Jahren bis heute nachzeichnen ließe, wird leider nicht berücksichtigt. Es geht um die Anti-Kriegs-Literatur, die sich weniger für die Kriegsparteien und mehr für die Sinnlosigkeit, Grau­samkeit und Entmenschlichung, die Krieg be­deutet, interessiert. Darunter finden sich nicht wenige beeindruckende Arbeiten, die auch ins Deutsche übersetzt vorliegen (z.B. Manuel Chaves Nogales 1937: A sangre y fuego. Héroes, bestias y mártires de España; dt.: ¡Blut und Feuer! Helden, Bestien und Märtyrer im Spani­schen Bürgerkrieg 2022; Joan Sales: Incerta Glòria, katalanisches Original 1956 noch unter Zen­surbedingungen, endgültige Fassung 1971; dt.: Flüchtiger Glanz, 2015; Mercè Rodoreda: Quanta, quanta guerra, katalanisches Original 1980; dt. Weil Krieg ist, 2007) oder Alber­to Méndez: 2004: Los girasoles ciegos; dt.: Die blinden Sonnenblumen, 2005).

6. Fazit

Wer sich für die spanische Kultur, die spanische Literatur und ihre Geschichte interessiert, wird von diesem Buch nicht enttäuscht. Es bietet einen Gang durch 1000 Jahre spanischer Literaturprodukti­on und weckt dabei Interesse an einer Vielzahl von Werken und AutorInnen. Es macht andere Ge­schichten der spanischen Literatur zwar nicht überflüssig, zeigt aber neue Perspektiven der Betrachtung und Interpretation auf, holt vergessene oder verdrängte Teile der Literaturproduktion ans Licht und erweitert so das sichtbare Spektrum. Das Interesse an den Grenzüberschreitungen geht bei Ingenschay einher mit dem, wenn man so will cervantinischem Leitbild einer inklusiven Gesellschaft und der Anerkennung von Diversität. Der Schreibstil ist publikumsorientiert, klar und didaktisch durchdacht. Dass der Text auch kostenlos elektronisch zur Verfügung steht, ist ein weite­res Plus.

Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur: Von Cervantes bis zur Ge­genwart. Berlin, Boston: De Gruyter 2022; https://doi.org/10.1515/9783110747171

Nicola Veith: Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration | La Ilustración española y la emigración del Suroeste alemán

Un análisis completo y lúcido del proceso migratorio desde el Sacro Imperio Romano Germánico hacia Andalucía a finales del siglo xviii

Reseña de Knud Böhle (Spanienecho de 26.11.2020), traducción de Pascual Riesco Chueca (Spanienecho de 07.07.2022)

1. El despotismo ilustrado y el proyecto español de colonización (1767-1835)

Estamos en 1767, tiempo de despotismo ilustrado en Europa: José II ocupa desde marzo de 1764 el pináculo del Sacro Imperio Romano, Federico el Grande rige Prusia, Catalina la Grande lo hace en Rusia y, en España, tiene la corona el rey borbón Carlos III. Han penetrado en España las ideas de la Ilustración y el pensamiento fisiocrático. Ilustrados como Campomanes, Aranda y Olavide ocupan puestos destacados de la Administración. Dentro del corpus ideológico que inspira a los políticos reformistas figuran nociones como el intervencionismo estatal, la mejora de la agricultura, una agenda activa de poblamiento y proyectos de prestigio.

En el seno de este conjunto de ideas ha de situarse el establecimiento de colonos extranjeros ―la colonización― en tierras baldías, como ocurrió en los casos de Prusia, Rusia, y a menor escala también en España desde 1767. Ese mismo año se dicta la supresión y expulsión de los jesuitas. La institución inquisitorial, por el contrario, seguirá en pie. Otra particularidad española es el bandolerismo, que compromete el tráfico de mercaderías de ultramar desde los puertos andaluces hacia Madrid. De ahí que un objetivo de los proyectos de colonización sea hacer más seguros ciertos tramos del Camino Real. En El manuscrito encontrado en Zaragoza, la célebre novela publicada en 1804 por el conde Jan Potocki, se dice al respecto en el mismo comienzo del texto: «El conde de Olavídez no había establecido aún colonias de extranjeros en Sierra Morena; esta elevada cadena que separa Andalucía de la Mancha no estaba entonces habitada sino por contrabandistas, por bandidos, y por algunos gitanos…» (ed. Minotauro, 1996, p. 31).

Ya había habido, desde comienzos del siglo xviii, propuestas de poblamiento de esta área mediante inmigrantes extranjeros; pero el paso decisivo se produce en abril de 1767, cuando el rey de España contrata con el bávaro Johann Kaspar Thürriegel la fijación de 6.000 colonos, un aflujo que ha de publicitarse y canalizarse hacia España. El contrato contiene especificaciones precisas sobre el origen, la adscripción religiosa, la estructura de edades y las cualificaciones exigibles a los colonos solicitados. En julio de 1767 se redactan los reglamentos que deberán aplicarse en las comarcas de asentamiento, en el marco de un Fuero de Población, que detalla los derechos particulares de las colonias. Ya en agosto de 1767 acuden a España los primeros emigrantes del Sudoeste del Sacro Imperio Romano Germánico. Los terrenos asignados inicialmente están en Sierra Morena, si bien a partir de 1768 se agregan áreas más occidentales de Andalucía.

Leyenda: Las colonias se establecen en las áreas en verde claro; los cuatro reinos que aquí se muestran vienen a coincidir con la extensión actual de la Comunidad Autónoma Andaluza. Fuente: Wikipedia

De manera oficial, el proyecto llevará desde 1768 el nombre de Nuevas Poblaciones de Sierra Morena y de Andalucía. Muchos de los lugares fundados entonces ex novo han subsistido. Entre los más conocidos están La Carolina (Jaén), La Carlota (Córdoba) y La Luisiana (Sevilla). Con la extinción en 1835 de los últimos reglamentos especiales y los subsidios estatales para los territorios colonizados se da por concluido el proyecto. Ciertamente, los años iniciales son cruciales para la investigación histórica de este proceso migratorio.

2. La complejidad del tema y su encuadre científico

Nicola Veith aborda esta materia en su tesis (Universidad Johann-Gutenberg de Maguncia, en el área de las ciencias históricas y culturales) por el camino más exigente, optando por analizar y reconstruir el proceso migratorio sobre la base de la literatura científica y un trabajo archivístico intenso, que implica el estudio de fuentes y materiales tanto españoles como alemanes (véase una panorámica sobre las fuentes en las pp. 22-28).

Como primera consideración, el proceso migratorio es presentado de forma global. Ello significa que, en primer lugar, se investigan las circunstancias de la emigración desde el Sacro Imperio Romano Germánico (nación alemana) y las rutas y recorridos del viaje hacia el territorio de asentamiento. Solo entonces se trata el asentamiento de colonos y la historia subsiguiente del desarrollo de las nuevas poblaciones, así como la integración de los inmigrantes. Dentro del esquema del trabajo, ello se corresponde con la organización tripartita siguiente. Parte I: antecedentes de la emigración a España del siglo xviii; parte II: desarrollo de la emigración a España entre 1767 y 1769; parte III: asentamiento e integración de los colonos.

En el marco de esta estructura se consideran detalladamente, en primer lugar, los aspectos legales, políticos, organizativos y financieros. En segundo lugar, se tratan con minuciosidad tanto las condiciones de vida en los lugares de origen, que incitaron a emigrar a los colonos, como la realidad social en las nuevas poblaciones y la cotidianía que fue fraguándose en ellos. Para describir con ejemplar precisión los mundos de origen se centra la mirada en el Palatinado Electoral, el marquesado de Baden-Durlach y la región suaba. Casi involuntariamente viene a la mente que estas historias de emigración habrían merecido un cineasta de la talla de Edgar Reitz (cf. Heimat – La otra tierra (2013), una película acerca de una familia pobre de la región de Hunsrück en 1842, que sueña con empezar una nueva vida en Brasil).

La complejidad del tema al que se enfrenta Nicola Veith es grande. Han de quedar fuera las simplificaciones imprudentes, y son de rigor ciertas distinciones indispensables. Por citar el ejemplo más destacado: si centramos la atención en el origen de los inmigrantes, se hace visible el sentido de tales distingos. Es cierto que la mayoría de los colonos eran del sudoeste alemán, campesinos y menestrales alsacianos y lorenos. Pero a ellos pronto se añaden otros colonos de las diversas regiones germanoparlantes del Sacro Imperio, Países Bajos y Suiza, así como otros de lengua francesa, oriundos de Suiza y Francia, además de italianos (p. 354). En la síntesis sostiene Nicola Veith una hipótesis de interés: el etiquetado del conjunto de los colonos como «alemanes» debilitó sus identidades regionales y territoriales (en tanto que palatinos, badenenses, etc.), pero fue precisamente esto lo que, al propiciar una identidad común como alemanes, facilitó la integración en las colonias (cf. pp. 361, 399).

Para obtener una imagen fiel de conjunto de las colonias de inmigrantes es preciso incorporar al cuadro múltiples facetas diferentes: cuestiones de forma de los asentamientos, arquitectura, características del suelo, administración colonial, estructuras familiares, relaciones vecinales, cuidados médicos, asistencia espiritual, organización del tiempo libre y otras, que esta reseña no puede cubrir. La sección de contenidos, de seis páginas, disponible en línea (en alemán) como pdf, ofrece una visión de la diversidad de aspectos tratados en la tesis.

3. Contradicciones, reveses y conflictos del proyecto colonizador

Uno de los méritos del trabajo reside en haber identificado y analizado los conflictos implícitos al proyecto y las contradicciones y dificultades que afloraron tras su puesta en marcha; ello pone las bases para sentar una valoración crítica del conjunto de la operación. Seguidamente nos ocuparemos brevemente de algunos aspectos cruciales.

El propio reclutamiento de colonos se oponía a la prohibición de emigrar vigente en el siglo xviii en el Sacro Imperio (véase p. 72). La emigración era por tanto ilegal y se producía por lo común de forma clandestina (p. 105). En particular, el empeño con que los estados de origen intentaban retener a sus más cualificados labradores y artesanos iba radicalmente en contra del deseo de captar precisamente a este círculo de personas para prestigiar el proyecto de colonización. Ello significaba, a efectos prácticos, que muchos de los emigrantes que partieron hacia España no poseían la cualificación requerida.

Era también contradictoria la mezcla de tendencias ilustradas y absolutistas, característica de la praxis agroeconómica en las colonias (véanse pp. 214-253). Del lado progresista de dicha agronomía pueden dar muestra la prioridad otorgada al cultivo, la ganadería y la artesanía como fundamentos económicos, la escolarización obligatoria, y el papel más activo asignado a las mujeres. Pero, en el lado negativo, puede citarse la «desmedida intervención estatal» (p. 30), que se aprecia por ejemplo en los repartos de lotes con extensión homogénea, sin tener en cuenta la desigual calidad del suelo; o en la insistencia en cultivar cereales pese a las características desfavorables para ello del terreno, lo cual retrasó la plantación de otras labranzas más provechosas (p. 403). También pesa en el lado negativo el hecho de que los colonos, en los primeros años, no tenían ninguna opción de cogestionar la producción (p. 192). Nicola Veith alude a una administración cuasimilitar de las colonias (p. 398). «La inactividad se consideraba delito» (p. 404), un hecho que se castigaba con el uso del grillete durante el trabajo o incluso con prisión. Por añadidura se consentía poca vida social, lo que se sumaba al carácter disperso de las aldeas y la prohibición de visitar los lugares más populosos durante la semana. No obstante, y visto en contraste con el latifundismo, el tipo predominante de aprovechamiento en Andalucía, basado en la gran propiedad, explotador y poco productivo, este intento, altamente subvencionado, de crear una «clase media campesina» (p. 406), puede considerarse sin duda progresista.

Entre los fallos onerosos de los responsables del proyecto, explicitados en detalle por la autora del estudio, estaba la deficiente preparación ante las exigencias de la colonización primera. De modo que, recién llegados los primeros colonos en el final del verano y el otoño de 1767, los terrenos no se encontraban a la sazón laboreados ni apenas existían alojamientos (p. 172). Incluso en casos en que habían aparecido casas en las tierras de labor, los responsables del proyecto dispusieron que los colonos habían de realojarse en barracones situados en las cabezas de colonia, en vez de permanecer cerca de sus parcelas. Ello favoreció la aparición de epidemias, y «puede conjeturarse que a la altura de 1770 había fallecido la mitad de los colonos» (p. 405). En esta estimación entran ciertamente empleados de las colonias, trabajadores manuales que ayudaron en la construcción de casas, soldados y colonos españoles. Por añadidura, la situación debe de haber sido muy diversa según lugares.

Mediante el refuerzo con españoles procedentes de Cataluña y Valencia, y luego de otras regiones más pobres del país, se pudo compensar esta sangría. Parece que ya en 1771 el número de españoles en las colonias se había igualado con el de extranjeros (pp. 369-372), con lo que se alteró sustancialmente el carácter del proyecto inicialmente concebido.

La pertenencia y el cumplimiento religioso supusieron otro punto espinoso. Para empezar, solo se debía captar a católicos, pero esta restricción fue ocultada en lo que pudo por el reclutador Thürriegel. De ahí que el deficiente control de los emigrantes a España dio lugar a numerosas falsas conversiones, y en algunos casos, incluso a la expulsión de protestantes. Fue también problemático el cuidado pastoral, que con arreglo al Fuero de Población habría de hacerse en los años iniciales usando la lengua madre (p. 258). Ahora bien, la dirección colonial no había tenido en cuenta la necesaria procuración de sacerdotes, y solo en 1769 pudo cubrir la demanda mediante frailes capuchinos germanoparlantes, en un total de dieciocho, como muestra Nicola Veith. Por lo visto, los frailes no se limitaron a cuestiones de asistencia espiritual, sino que se enfrentaron a la administración colonial en defensa de los pobladores germanoparlantes (p. 262). A medida que a partir de 1770 fueron admitidos más y más colonos españoles en detrimento de las costumbres alemanas, fue agudizándose el conflicto. Ello llevó incluso a que el capuchino Romualdo Baumann en 1774 denunciara ante la Inquisición al dirigente del proyecto colonial, Pablo de Olavide, como hereje, pues «portaba en su interior las semillas del pensamiento protestante, y se expresaba en contra de los dogmas de la Iglesia» (p. 270). Siguió a ello el proceso y la condena de Olavide, seguramente no solo por la denuncia del padre Romualdo. Pero también los capuchinos debieron a partir de entonces abandonar las colonias y el suelo español.

4. ¿Fracasó el proyecto colonial o fue un éxito?

Preguntémonos finalmente, a la luz de la tesis, acerca del éxito o el fracaso del proyecto. En todo caso fue exitoso el reclutamiento y Thürriegel superó (según sus propios datos) la meta fijada, con 7.775 pobladores, cifra que le permitía saldar cuentas, a razón de 326 reales por persona admitida (p. 151).

Pero desde el punto de vista de la idea inicial del proyecto primigenio, que aspiraba a fijar una economía agraria avanzada y ejemplar regida en exclusiva por extranjeros capacitados, es inevitable hablar de un fracaso.

Si se contemplan las colonias a partir de 1770, en una evolución en que participaron colonos extranjeros y españoles, se desprende una imagen más halagüeña. Según una de las fuentes citadas, la población creció desde las 6.585 personas de 1770 a 11.857 en 1833 (pp. 386, 389). A ello se suma un crecimiento positivo en lo económico. También puede hablarse de una historia de éxito en lo tocante a integración, pues los inmigrantes extranjeros, en el curso de unas pocas décadas, se integraron casi del todo en la sociedad española. De ahí el aserto de Nicola Veith, según el cual muchas «biografías de emigrantes muestran que, en repetidas ocasiones, el trayecto desde la miseria en su país de origen hasta la condición de propietario rural en España había sido coronado con éxito» (p. 406).

5. Resumen

La tesis proporciona una contribución importante a un capítulo descuidado y casi olvidado (al menos en Alemania) de la historia hispano-alemana. La autora ha investigado profundamente las fuentes, tanto en archivos alemanes como españoles; y es preciso destacar el rigor de su enfoque global y orientado al proceso. Ello le permite examinar con detalle el mundo de origen y las circunstancias de la migración, las rutas e itinerarios de viaje hacia las comarcas de asentamiento seleccionadas por el Estado español y el desarrollo del proyecto de colonización entre 1767 y 1835. Este estudio aporta también lecciones para el presente, pues de él se desprenden valiosos indicios e intuiciones para el análisis de procesos migratorios en curso y proyectos contemporáneos relacionados con la captación de trabajadores extranjeros.


Nicola Veith: Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration. Auswandererkolonien des 18. Jahrhunderts in Andalusien. Kaiserslautern: Bezirksverband Pfalz, Inst. f. pfälz. Geschichte und Volkskunde 2020, ISBN: 978-3-927754-97-3

[Nicola Veith: La Ilustración española y la emigración del Suroeste alemán. Colonias de emigrantes del siglo xviii en Andalucía. Kaiserslautern: Bezirksverband Pfalz, Inst. f. pfälz. Geschichte und Volkskunde 2020, ISBN: 978-3-927754-97-3]