Jordi Amat: El hijo del chófer | Der Sohn des Chauffeurs

Über Alfons Quintà und ein katalanisches Kapitel der Universalgeschichte der Niedertracht

Rezension von Knud Böhle

1. Ein Buch, das an der Zeit ist

Es ist eher unwahrscheinlich, dass das literarische Sachbuch (no ficción literaria, S. 251), das Jordi Amat im November 2020 veröffentlicht hat, jemals ins Deutsche übersetzt wird. Das ist bedauerlich, weil auch in Deutschland viele, die weder spanische noch katalanische Bücher le­sen können, gerne mehr über Entwicklungen in Katalonien und den politischen Katalanismus (katalanischen Nationalismus) wüssten.

Jordi Amat ist einer der besten Kenner der katalanischen Kultur und der politischen Entwicklun­gen in der Region. Er ist von daher ein idealer Führer durch das national-katalanische Laby­rinth, ein Subsystem des spanischen Labyrinths (vgl. S. 194). Offenkundig war eine spannend geschriebene, faktenreiche Arbeit zu diesem Themenkomplex in aufklärerischer Absicht (vgl. dazu das Nach­wort des Autors S. 249-252) in Spanien an der Zeit. In wenigen Monaten brachte es das Buch in beiden Sprachen (Spanisch und Katalanisch) auf sechs (Stand 4.3.2021) bzw. zehn Auflagen (Stand 13.4.2021). Die Medienreso­nanz war außerordentlich. Die etwa zwanzig Besprechungen, die ich mir angesehen habe, waren positiv, manche sogar überschwänglich. Auf negative Kritiken bin ich noch nicht gestoßen. Ge­lobt wird allenthalben die schriftstellerische Qualität und mindestens ebenso die intelligente Analyse der jüngsten Geschichte Kataloniens (besonders der transición, des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nach Francos Tod). Hervorzuheben ist auch die intensive Recherchear­beit, die das Buch erst ermöglichte. In einer Rezension wird von etwa 70 Interviews gesprochen, die Jordi Amat führte und etwa 600 Dokumenten, die für das Buchprojekt herangezogen wurden (vgl. Carles Geli in: El País vom 11.11.2020). In dem Buch treten weit mehr als 100 namentlich genannte Personen auf.

2. Worum genau geht es in dem Buch?

Der Titel des Buches «Der Sohn des Chauffeurs» sagt zunächst noch nicht viel. In der katalani­schen Ausgabe kommt ein erläuternder Untertitel dazu: «Die geheimen Fäden der Macht: Auf­stieg und Fall des Alfons Quintà». Auf den Spuren eines ebenso ehrgeizigen wie psychopathi­schen katalanischen Journalisten, und sagen wir es gleich, auch Mörders, schlägt Jordi Amat eine Schneise durch die neuere Geschichte des politischen Katalanismus, die auch eine Geschichte der Macht ist: politischer, ökonomischer und nicht zuletzt auch von Medienmacht (die vierte Macht neben Exekutive, Legislative und Judikative). Jordi Amat nimmt seine Leser bei der Hand und führt sie durch das katalani­sche Labyrinth vorbei an Regierungspalästen, Banketagen, Chefredaktionen und Kloaken der Macht. Das ansonsten unentwirrbare Netz aus zahllosen Kommunikationen und Aktionen – solcher die im Licht der Öffentlichkeit stattfinden und solcher, die dieses Licht gerade scheuen – wird in eine kriminalistisch angelegte, detailreiche Erzählung überführt, die an wichtigen Stationen der katalanischen Po­litik in die Tiefe geht. Da es sich um eine Geschichte von Machtverhältnissen handelt, spielen sich viele Ereignisse außerhalb des Rechts, der Wahrheit und der Öffentlichkeit ab, und sind folglich wie bei jedem Kriminalfall zunächst intransparent. Jordi Amat geht investigativ vor, wie ein Detektiv, der aus Zeugenaussagen und Indizienbeweisen eine komplexe Geschichte rekonstruiert.

Alfons Quintà war ein knappes Jahrzehnt lang ein äußerst einflussreicher Journalist und Medi­enmacher in Spanien. Sein Lebensweg, die Biografie einer infamen Person, und die schmutzigen Seiten einer national-katalanischen Episode werden in dem Buch ineinander verwoben. In ge­wisser Weise schlüpft der auktoriale Erzähler Jordi Amat in die Rolle eines Meisterdetektivs vom Typ Hercule Poirot, der nach abgeschlossener Untersuchung dem staunenden Publikum er­läutert, wie die Puzzlestücke zusammenpassen. Überlegungen zur Macht allgemein und zur Me­dienmacht im Besonderen stehen im Zentrum des Erklärungsansatzes. Erstens: Macht lässt sich als die Herstellung erwünschter Wirkungen definieren (S. 24). Da muss es weder legal noch transparent zugehen. Zweitens: Medien sind die vierte Macht und erfüllen als solche eine demo­kratische Funktion. Der Theorie nach sind sie unabhängig, in der Praxis aber nicht (vgl. S. 111). Interesse, Instrumentalisierung und Korruption kommen ins Spiel: Welcher wirtschaftlichen oder politischen Macht nützt die Veröffentlichung einer bestimmten Nachricht? Wer ist daran in­teressiert, dass eine bestimmte Nachricht unterdrückt wird? Wer liefert mit welchem Interesse Informationen an welche Medien? Dazu kommt die generelle Überlegung, dass sich die politi­sche Macht dessen bewusst ist, dass sie Medien benötigt, die ihr Trachten nach politischer und kulturel­ler Hegemonie unterstützen.

3. Die Protagonisten der Geschichte: Alfons Quintà und Jordi Pujol

Es treten auf: Alfons Quintà (1943-2016), der Sohn des Chauffeurs; Jordi Pujol (*1930), der Sohn eines Bankiers; die vierte Macht (Hörfunk, Presse, Fernsehen) mit El País und TV3 in herausgehobe­ner Stellung; die Banca Catalana als Inbegriff der ökonomischen Macht; die politische Macht mit den Regierungen in Madrid und der regionalen Regierung in Katalonien (Generali­tat) als Kraftzentren. Dazu kommen zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten (Hintermänner, Strohmänner, Intellektuelle, graue Eminenzen, Staatsmänner etc.). Der Glutkern der Geschichte ist der Fall Banca Catalana, den Alfons Quintà skandalisieren und den Jordi Pujol unter dem Ra­dar der Öffentlichkeit halten will. Hier soll nicht der gesamte Inhalt des vielschichtigen und vielfädigen Buches wiedergegeben werden, aber einige Worte zu den beiden Protagonisten Quintà und Pujol und zum Fall Banca Catalana sind nötig, um das Machtknäuel anzudeuten, um dessen Entwirrung es Amat geht.

Alfons Quintà kam aus kleinen Verhältnissen, erlebte eine unglückliche Kindheit, in der nicht allein die Schläge des Vaters Verletzungen und Narben hinterließen. Er durchlebte eine turbulente Jugend, erst als Halbstarker und etwas später als Linksradikaler. Seine journalistische Laufbahn beginnt Mitte der 60er Jahre mit Arbeiten für Associated Press, Le Monde und die New York Times. Seinen ersten Zeitungsartikel in Spanien veröffentlichte er 1969.

Das Pfund, mit dem er wuchern konnte, waren seine Kontakte zum konservativen Katalanismus, die über seinen Vater vermittelt waren, der es vom Handlungsreisenden in Sachen Textil zum Chauffeur, Sekretär und Vertrauten des katalanischen Schriftstellers Josep Pla gebracht hatte. Übrigens ist Pla als Schriftsteller in Deutschland kein Unbekannter. Neben einigen Erzählungen wurden die bekannten Bücher Enge Straße (Ammann Verlag), Das graue Heft (Suhrkamp Verlag) sowie die Künstlerbiografien über Dalí und Gaudí (Berenberg Verlag) übersetzt.

Josep Pla war das Zentrum einer Art politischer Tafelrunde einflussreicher Leute, die an der Stär­kung der Position Kataloniens in Spanien interessiert waren. Amat spricht in Anspielung auf die Tafelrunde des Königs Artus vom «Camelot de Pla». Was da verhandelt und unternommen wur­de, bekommt auch Alfons Quintà mit, und vor allem nützt ihm dieses Elite-Netzwerk bei seiner Karriere. In der eindrücklichen Beschreibung dieser Tafelrunde, findet sich auch eine für die Machtanalyse Amats wichtige Einsicht, die aus dem Kreis selbst kommt: Diktaturen korrumpieren alles, insbesondere lange andauernde Diktaturen. Man kann sie nur von innen bekämpfen, und das wiederum verlangt ein doppeltes Spiel, oder mit einem anderen Ausdruck: es gab viel Antifranquismus im Franquismus (vgl. S. 29f).

Quintà machte sich einen Namen bei Radio Barcelona als Direktor des ersten Nachrichtenpro­gramms auf Katalanisch (Dietari), das ab 1974 gesendet wurde. Es gelang ihm dann der Karriere­sprung zum Katalonien-Korrespondenten der Tageszeitung El País (1976). 1981 endete seine Karriere bei El País unfreiwillig (aber mit einer hohen Abfindung). Seine nächste prestigeträchtige Aufgabe war der Aufbau des ersten öffentlich-recht­lichen Fernsehsenders Kataloniens, TV3, ab Juni 1981. Dort verlor er seinen Posten als Direk­tor im Juni 1984. Wiederum erhält er eine hohe Abfindung. Nach seiner Entlassung zog er sich einige Jahre zurück, wurde dann wieder als Journalist und Medienmacher tätig, aber die Erfolge früherer Zeiten blieben aus.

Schlagzeilen machte er erst wieder, nachdem er sich mit derselben Schusswaffe das Le­ben nahm, mit der er zuvor seine Frau umgebracht hatte. Seine Frau lebte zu dem Zeit­punkt nicht mehr mit ihm zusammen, kümmerte sich aber um ihn nach einer Herzoperation. Diese scheußliche Tat bildete den Schlusspunkt eines wenig erbaulichen Lebenswegs. Quintà wird als gewalttätig, übergriffig, frauenfeindlich, aggressiv, sexistisch, ty­rannisch, gefräßig, maßlos, nachtragend, erpresserisch, rachsüchtig und autoritär beschrieben. Es sind diese Eigenschaften, so lesen wir, die seine Beziehungen zu Frauen ebenso wie seine Karriere immer wieder zerstört haben. Jordi Amat spart nicht mit oft geradezu absurden und grotesken Beispielen aus Quintàs Privat- und Berufsleben. Selbst nach seinem Tod hat anscheinend niemand ein gutes Wort für ihn übrig gehabt. Wir müssen uns Quintà nicht als ei­nen glücklichen Menschen vorstellen.

Jordi Pujol ist als öffentliche Person freilich viel be­kannter als Quintà. Er kam aus der katholisch-katalanischen Opposition gegen Franco. 1974 gründete er die bürgerlich-katalanistische Partei Convergència Democràtica de Catalunya. 1980 wurde er zum Präsidenten der Generalitat (Regierungschef Kataloniens) gewählt und löste damit seinen Vorgänger im Amt, Josep Tarradellas, ab, der für einen moderaten und konzilianten Katala­nismus stand. Pujol war dann ohne Unterbrechung bis 2003 Regierungschef. Er prägte eine ganze Ära, bekannt als pujolismo, in der das katalanische «nation building» (hacer país) als das alles überwölbende Vorhaben gelten kann. Ab 1984 bekam der pujolismo einen stark popu­listischen Zug: der Zentralstaat wurde zum Gegner erklärt, Politik wurde moralisiert und emotiona­lisiert, und viele Katalanen wurden mobilisiert (S. 173). Jordi Pujol begegnet uns außer­dem als ein wenig erfolgreicher Medienunternehmer, der erst mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TV3 (von Alfons Quintà aufgebaut) das bekam, was er als mediale Unterstüt­zung seiner politischen Macht anstrebte. Von 1980 bis 1986 musste er sich auch darum kümmern, dass der Fall Banca Catalana seine politischen Ambitionen nicht zerstörte. In der Banca Catala­na steckte das Vermögen des Vaters, das dieser während der Franco-Diktatur, teilweise durch il­legale Geschäfte, erworben hatte. Er selbst war in leitender Funktion in der Bank tätig.

4. Der Fall Banca Catalana als Lehrstück

Die Banca Catalana geriet Ende 1979 in finanzielle Schwierigkeiten, was damals nur wenige wussten. Alfons Quintà und ein Kollege berichteten darüber in El País am 29. April 1980 in ei­nem ersten Artikel einer als Dreiteiler angelegten kleinen Serie. «Ökonomische Schwierigkeiten der Bankengruppe von Jordi Pujol» lautete der Titel des ersten Teils, der in dem Buch in Gänze wiedergegeben wird (S. 100-105). Der gut recherchierte und informierte Text hatte das Potenzial, dem Ruf der Bank, ihren Aktionären und Einlegern sowie dem Ansehen des Politikers Pujol, der gerade die erste Regionalwahl in Katalonien gewonnen hatte, zu schaden. Ein fundierter Artikel dieser Art konnte nicht ohne geheime Informationen von Gegnern Pujols geschrieben, und nicht ohne die Zustimmung des damaligen Chefredakteurs von El País, Luis Cebrián, veröffent­licht werden. Die Banca Catalana intervenierte bei Cebrián, zuerst vermittelt über die spanische Zentralbank und später in einem direkten Gespräch mit den Herausgebern der Tageszeitung. Ce­brián sagte zu, einstweilen keine weiteren Folgen des geplanten Dreiteilers zu publizieren. Die geplanten Artikel erschienen auch nicht, aber die kritische Berichterstattung über die Banca Catalana wurde in kleineren Portionen noch bis Ende 1981 fortgesetzt. Erst als die Pläne von El País ge­reift waren, eine katalanische Ausgabe der Zeitung herauszugeben, musste Quintà seine Attacken einstellen. Seine Ambition, Chef der katalanischen Ausgabe von El País zu werden, wurde frustriert. Dies machte sich Jordi Pujol zu Nutze, der nun dem bis dato entschiedenen Anti-Pujolisten Quintà anbot, Direktor des ersten öffentlich-rechtlichen katalanischen Fern­sehsenders zu werden. Der nahm an, baute den Sender auf, und gleichzeitig verstummte mit dem Wechsel ins Lager der Pujolisten seine Kritik an der Banca Catalana.

Die Kritik an der Banca Catalana flammte aber 1984 an anderer Stelle wieder auf, als sich der spanische Generalstaatsanwalt mit dem Fall zu befassen begann. Die konkrete Untersuchung der Vorwürfe gegen die Banca Catalana wurde vorschriftsmäßig von zwei zuständigen Staatsanwäl­ten in Barcelona durchgeführt. Diese kamen zu der Auffassung, dass ein Strafverfahren gegen die Banca Catalana zu eröffnen sei, bei dem es unter anderem auch um die persönliche Bereiche­rung einiger Insider, darunter Jordi Pujol, zu gehen habe, die – während die Bank auf die Insol­venz zusteuerte – auf Kosten der Einleger und Steuerzahler, noch Vermögen für sich privat bei­seite geschafft hätten. El País erhielt entsprechende Informationen und berichtete unverzüglich darüber.

Und nun passierte etwas höchst Unwahrscheinliches: Jordi Pujol, der bei den Wahlen in Katalonien vom 29.4.1984 die absolute Mehrheit erlangt hatte, ging zum Gegenangriff über und drehte den Spieß um. Derjenige, der auf die Anklagebank sollte, klagte an und stellte sich und Katalonien als Opfer einer Kampagne des Zentralstaats, der sozialistischen Regierung und der die Regierung stützenden Medien dar. Das gipfelte am 30. Mai 1984 in einer Rede (selbstverständlich in Katalanisch) auf einer gut vorberei­teten Massenkundgebung anlässlich seiner Einsetzung als Präsident: «Ich möchte etwas klarstel­len: Die Madrider Regierung, genauer gesagt die Zentralregierung, hat ein unwürdiges Spiel getrieben, und von nun an, wenn jemand über Ethik und faires Spiel spricht, werden wir es sein» (vgl. S. 177). Diese Rede kann als Wendepunkt zum populistischen Katalanismus angesehen werden, der mit dem Opfer-Narrativ, einfachen Feindbildern und emotionalisierter Politik ein­hergeht (vgl. S. 173).

Es gab auch danach durchaus noch Journalisten, die sich für den Fall der Banca Catalana inter­essierten. Diese wurden, wie in dem Buch an einem Beispiel verdeutlicht wird, in ihrer Arbeit behindert. Die Ergebnisse ihrer Recherchen erschienen erst nach erheblicher Verzögerung im Sommer 1985. Zudem war der veröffentlichte Text ohne Wissen der Autoren um entscheidende Passagen gekürzt worden. Die politi­sche Großwetterlage hatte sich verändert. In Madrid regierten die Sozialisten mit absoluter Mehr­heit. Felipe González war Ministerpräsident: felipismo in Madrid, pujolismo in Barcelona. Der Chefredakteur von El País liess im Oktober 1985 seine Mitarbeiter in Katalonien wissen, dass das Thema Banca Catalana nicht weiter verfolgt werden müsse. Die Staatsanwälte aus Barcelo­na, die noch mit dem Fall betraut waren, gerieten unter Druck. Im September 1986 trafen sich González und Pujol persönlich. Die Sache sollte beigelegt werden, um die Stabilität der neuen staatlichen Ordnung nicht zu gefährden – auf Kosten der Informations- und Pressefreiheit sowie der Rechtsstaatlichkeit. Eine Woche nach dem Gespräch trat der Generalstaatsanwalt zurück, möglicherweise um seiner Entlassung zuvor zu kommen (S. 191). Und im November 1986 beschloss die Mehrheit der in Barcelona zuständigen Richter (der Audien­cia Territorial de Barcelona), das Verfahren gegen Banca Catalana erst gar nicht zu eröffnen. Wir erinnern uns an die Ausgangsthese Amats, Macht als das Erreichen erwünschter Wirkungen zu verstehen. Quod erat demonstrandum.

4. Einsichten, Hypothesen, Schlussgedanken

Als wichtigste Einsichten über den politischen Katalanismus nehme ich aus dem Buch mit, dass er lange Zeit weder links noch separatistisch, sondern vorwiegend bürgerlich, liberal und kon­servativ war. In der Ära Pujol, die in der transición beginnt und im pujolismo ihre Fortsetzung findet, wurde der katalanische Nationalismus im Sinne eines «nation building» (hacer país), un­terstützt von Medien wie TV3, massiv vorangetrieben. Eine Alternative zu Pujol im postfranquistischen Katalonien hätte Josep Tarradellas, der Präsident der Generalitat im Exil (1954-1977) und von 1977 bis 1979 Präsident der Generalitat, sein können. Dieser Option fehlte es indes an der nötigen parteipolitischen Unterstützung. Bereits nach wenigen Jahren der Präsi­dentschaft Pujols gab es im Zusammenhang mit dem Fall der Banca Catalana einen populisti­schen Schub im katalanischen Nationalismus, der für das Verständnis der heutigen politischen Situation in Katalonien wichtig ist.

Das Buch legt auch nahe, mehr auf die Gesamtkonstellation Spanien-Katalonien zu schauen. Zum Beispiel wurde das Start­kapital der Banca Catalana im korrupten Franquismus erworben, und die Bank war Teil des spanischen Finanzsystems und wurde deshalb von der Zentralbank gestützt, als sie in finan­zielle Schwierigkeiten geriet. Ein anderes Beispiel: die franquistische Regierung konnte Ende der 50er Jahre bei der Entwicklung des für das Überleben des Regimes so wichtigen Sta­bilisierungsplans katalanische Experten wie Joan Sardà (Mitarbeiter von Tarradellas auf republikanischer Seite während des Bürgerkriegs) und Fabián Estapè einbinden. Beide gehörten zur Tafelrunde Josep Plas. Und wir erfahren auch, dass dieser katalanische Schriftsteller eine Zeit lang für einen der franquistischen Ge­heimdienste tätig war (öffentlich gemacht von Alfons Quintà).

Es gab viel Franquismus im Anti­franquismus oder auch umgekehrt viel Antifranquismus im Franquismus. Da Franco nicht ange­treten war, die Interessen der reichen und wohlhabenden Klassen zu beschneiden, gab es Raum für solche Ambivalenz. Eine genaue Untersuchung der reichen und einflussreichen Familien Kataloniens und Spani­ens generell, würde vermutlich einiges zum Verständnis der Funktionsweise der Diktatur und zur politischen Kultur in der Zeit danach beitra­gen können. Für die Verlierer im Bürgerkrieg gab es bekanntermassen keine vergleichbaren Möglichkeiten sich zu arrangieren: viele wurden noch nach dem Ende des Bürgerkriegs, wenn nicht gar getötet, verfolgt, verhaftet, gefoltert, zu Zwangsarbeit gezwungen, sozial ausgegrenzt und benachteiligt.

Das Buch legt auch den Gedanken nahe, dass gerade eine lang andauernde Diktatur dieser Art, die Kor­ruption selbst nach ihrem Ende noch zu begünstigen scheint. Machtausübung qua informeller, intransparenter und illegaler Einflussnahme ist der springende Punkt. Am Fall der Banca Cata­lana hat Jordi Amat die vielfältigen Wege der Einflussnahme exemplarisch aufgezeigt. Meister­lich führt er die Ambivalenz der Medien vor, die als vierte Macht eine Säule der Demokratie sein sollen, gleichzeitig aber auch stets Gefahr laufen, als Arm der Macht und der Mächtigen in­strumentalisiert und missbraucht zu werden. Der Lebensweg des zeitweise mächtigen, letztlich aber auch korrumpierbaren und ausnutzbaren Alfons Quintà passt dazu. Dem Le­bensweg des Journalisten Quintà zu folgen, der Ende der sechziger Jahre klein anfängt (Tele/eXpress), groß rauskommt, und wieder klein endet (Diari de Girona), bedeutet gleichzeitig, der Mediengeschichte in Katalonien und der Konkurrenz der Medienunternehmen in Katalonien und Madrid während der transición zu folgen. Auf diese Ebene des Buches einzugehen, wie auf einige andere Ebenen mehr, ginge über die Absicht dieser Rezension, auf ein lehrreiches und spannendes Buch zur neuesten Geschichte Kataloniens und Spaniens hinzuweisen, hinaus.


Jordi Amat: El hijo del chófer. Barcelona: Tusquets Editores 2020 (10.11.2020), ISBN 978849066871

Jordi Amat: El fill del xofer. Els fils secrets del poder: ascens i caiguda d‘ Alfons Quintà. Barcelona: Edici­ons 62 2020 (11. November 2020); Übersetzer: Ricard Vela, ISBN 8429778942

Beide Texte sind auch als e-book erhältlich, die spanische Fassung gibt es auch als Hörbuch gelesen von Pere Molina.

Birgit Aschmann und Christian Waldhoff (Hrsg.): Die Spanische Verfassung von 1978: Entstehung, Praxis, Krise?

Vom Wunderkind zum Prügelknaben oder von Reformbedarf und Reformchancen

Rezension von Knud Böhle

1. Einleitung

2018 wurde das 40-jährige Jubiläum der spanischen Verfassung von 1978 begangen. Das war auch der An­lass für ein Symposium in der Spanischen Botschaft in Berlin (13.12.2018 – 14.12.2018), zu dem renom­mierte Rechtswissenschaftler und Historiker aus Deutschland und Spanien geladen waren (vgl. dazu den Ta­gungsbericht). Auf diese Veranstaltung, die Birgit Aschmann und Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität zu Berlin organisiert hatten, geht auch der vorliegende Sammelband zurück. Die Publikation enthält 12 Beiträge, dazu eine Einleitung der bei­den Herausgeber und als Anhang den Verfassungstext auf Deutsch (vgl. das Verzeichnis der Beiträge am Ende dieser Be­sprechung). Acht Beiträge sind auf Spanisch und vier auf Deutsch verfasst. Fünf Beiträge stammen von Histo­rikern, sieben von Juristen (überwiegend Verfassungsrechtler).

In dieser Besprechung wird versucht, aus dem Gesamt der Beiträge eine knappe, synthetisierende Darstellung der Entstehung der Verfassung, ihrer Struk­tur und ihrer Besonderheiten herauszufiltern, um dann den Diskurs um Reformbedarf und Reformchancen, so wie er sich in den Beiträgen des Bandes findet, darzustellen. Dabei sind neben der poli­tisch-territorialen Verfasstheit Spaniens, die Staatsform der Monarchie und das Schutzregime für die sozialen Grundrechte wichtige Streitpunkte. In einem Fazit wird dann zusammengefasst, was das Buch leistet.

2. Genese der Verfassung von 1978 im Kontext

Drei Beiträge ordnen die spanische Verfassung in einen größeren Rahmen ein und liefern damit nützliches Hintergrundwissen. Birgit Aschmann stellt die aktuelle Verfassung von 1978 in den Kontext der spanischen Verfassungsgeschichte seit 1812, Christian Waldhoff arbeitet die Besonderheiten der Verfassungsentstehung, des «constitutional moment», in einem typisierenden Vergleich heraus, und Karl-Peter Sommermann stellt einen systematischen Vergleich mit den beiden anderen in den 1970er Jahren entstandenen demokratischen Verfassungen Griechenlands und Portugals an.

In fast allen Artikeln wird, mehr oder weniger ausführlich, auf den Entstehungsprozess der Verfassung einge­gangen, der in den Kontext der Demokratisierung nach Francos Tod (November 1975) einzuordnen ist. Die erste Etappe war das erste halbe Jahr nach Francos Tod, das sich als unergiebiges «Weiter-so» abschreiben ließe, die zweite Etappe setzte mit der Ernennung von Adolfo Suárez zum Ministerpräsidenten im Juli 1976 ein, der den Demokratisierungsprozess vorantrieb und es dabei fertig brachte, die reformwillige politische Klasse des Franquismus im Spiel zu halten, die reformunwilligen reaktionären Kräfte des Franquismus weitgehend aus dem Spiel zu halten, und den von der antifranquistischen Opposition angestrebten konsequenten Bruch mit dem alten System zu vermeiden. Karl-Peter Sommermann ist sogar geneigt, Adolfo Suárez «‘als welthistorisches Indivi­duum‘ im Hegelschen Sinne» zu sehen (S. 76). Ein zentraler Baustein dieses Trans­formationsprozesses, der «transición», war das «Gesetz für die Politische Reform» (Ley para la Reforma Política), das quasi eine Schar­nierfunktion zwischen der Legalität der Diktatur, also den von Franco erlassenen «leyes fundamentales», und der zu erreichenden demokratischen Verfassung erfüllte. In der Formulierung des damaligen Präsidenten der Cortes Fernández-Miranda «de la ley a la ley a través de la ley» (deutsch in etwa: vom Gesetz zum Gesetz durch das Gesetz) wird diese Funktion des Gesetzes auf den Punkt gebracht. Am 15.12.1976 wurde dieses Gesetz in einem Referendum mit 94 % Zustimmung, bei einer Beteiligung von 78 % der Stimmberechtigten, ange­nommen (S. 37). Mit diesem Gesetz und dieser Phase der transición befasst sich in dem Sammelband eingehend Alejandro Saiz Arnaiz.

Andreu Mayayo i Artal betont, dass der Prozess zwar von der franquistischen politischen Klasse geleitet wur­de, aber von der sozialen Mobilisierung vorangetrieben wurde (S. 45) und dadurch zur «ruptura pactada» (dem paktierten Bruch mit dem Franquismus) wurde. Er erinnert außerdem daran, dass sich der Demokratisierungsprozess unter der Drohung des Militärs vollzog, diesen zu stoppen, und von erheblicher politischer Gewalt begleitet wurde: 647 Todesopfer poli­tischer Gewalt waren während der transición zu beklagen. 485 Menschen kamen bei Terroranschlägen um, von denen 354 als Opfer der baskischen Terrororganisation ETA gelten. 162 Menschen kamen bei Aktionen der staatlichen Sicherheitsorgane um (vgl. S. 47). Den Endpunkt dieser Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie bildete die Parlamentswahl vom Juni 1977.

Darauf folgte der im gewählten Parlament bewerkstelligte fünfzehn Monate dauernde verfassungsgebende Prozess, der mit dem Referendum über die Verfassung im Dezember 1978 abgeschlossen wurde. Die Wahlbeteiligung lag bei 67 %. Für die Verfassung stimmten davon 88 % (S. 7). Häufig wird die transición erst 1982 als abgeschlossen angesehen, nachdem der Putschversuch vom 23. Februar gescheitert war und der PSOE (Partido Socialista Obrero Español, dt.: Spanische Sozialistische Arbeiterpartei), die erste Partei aus der anti-franquisti­schen Opposition, in den vorgezogenen Neuwahlen vom Oktober 1982 bei hoher Wahlbeteiligung (80 %) die absolute Mehrheit erreichte.

3. Besonderheiten und Strukturmerkmale der spanischen Verfassung von 1978

Der Wille zum Konsens und die Kompromissbereitschaft der am verfassungsgebenden Prozess beteiligten Akteure wurden vielfach bewundert. „Niemals zuvor hat es eine solche Bereitschaft zu Kompromiss und Konsens gegeben wie im Zuge der Entstehung und Einsetzung dieser Verfassung“ (Aschmann, S. 23). In dem Band ist es vor allem Luis López Guerra, der darauf hinweist, dass der Zwang zum Konsens in der his­torischen Situation dazu führte, verfassungsrechtliche Unbestimmtheiten bewusst in Kauf zu nehmen und so­gar absichtlich vage Formulierungen zu verwenden, wohl wissend, dass damit konkrete Entscheidungen in die Zukunft verlegt würden (López Guerra, S. 92-94; vgl. auch Aschmann, S. 23). Dies gilt sowohl für die Grundrechte als auch in besonders folgenreicher Weise für die territoriale Ordnung. Man könnte es auch so sagen: das Prädikat Kompromiss- und Konsensbereitschaft bezog sich in erster Linie auf den Willen, eine de­mokratische Verfassung zu schaffen, nicht aber auf die Einigung auf der Ebene der konkreten politischen Ausgestaltung. Darum ist es in gewisser Weise nicht verwunderlich, dass auf der Ebene des Verfassungstextes verdrängte Probleme später als politische Konflikte auftauchten. Auf diese hatte dann der Gesetzgeber Antwor­ten zu finden, wobei das Verfassungsgericht häufig als Schiedsrichter angerufen wurde.

Generell lässt sich über die Verfassung von 1978 weiterhin sagen, dass sie sehr stark an die republikanische Verfassung von 1931 anknüpft (vgl. Aschmann, S. 18), wenngleich die Staatsform geändert wurde: «Die Staatsform des spanischen Staates ist die parlamentarische Monarchie» (Artikel 1 (3) der spanischen Verfassung, vgl. dt. S. 206). Die weitgehend repräsentativen Aufgaben des spanischen Königs behandelt Jordi Canal ausführlich in seinem Beitrag zu dem Sammelband.

Zu erwähnen ist auch, dass es bemerkenswert hohe Verfahrenshürden für eine Änderung der Verfassung gibt und bislang kaum Änderungen stattgefunden haben (vgl. dazu Som­mermann, S. 87). Die bislang einzigen Verfassungsänderungen wurden durch das Europarecht erzwungen (Stichwort: Schuldenbremse, Stichwort: passives Kommunalwahlrecht aller Unionsbürger). Eine Änderung wichtiger Teile der Verfassung (etwa der Staatsform Monarchie, der territorialen Ordnung, der Grundrechte) verlangte erstens, dass beide Kammern der Änderung mit 2/3-Mehrheit zustimmen würden, woraufhin zweitens das Parlament aufzulösen wäre und Neuwahlen stattfänden, nach denen dann drittens die beiden neu zusammen­gesetzten Kammern wiederum mit einer 2/3 Mehrheit der anhängigen Verfassungsänderung zustimmen müssten, bevor dann viertens der Änderungsvorschlag in einem Referendum eine Mehrheit finden müsste.

4. Dezentralisierung und territoriale Ordnung

In der Geschichte des spani­schen Konstitutionalismus zeichnet sich die spanische Verfassung von 1978 durch ihre starke Dezentralisierung aus (Bernecker, S. 168, Canal, S. 179 ). Die «Länderebene» in Spanien besteht heute aus 17 autonomen Gemeinschaften mit jeweils eigenen Autonomiestatuten, die zusammen den spanischen Autonomiestaat bilden.

Die gewählte Form eines «asymmetrischen Föderalismus», der Nationalitäten und Regionen unterscheidet, ist eine Besonderheit. Der Artikel 2 der Ver­fassung ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt der territorialen Ordnung Spaniens als Autonomiestaat. Er hat sich als interpretations­bedürftig erwiesen und wurde durchaus unterschiedlich interpretiert.

«Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spani­schen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Natio­nalitäten und Regionen, die Bestandteil der Nation sind, und auf die Solidarität zwischen ihnen.»

Quelle: Deutsche Fassung der spanischen Verfassung im Boletín Oficial del Estado

Die ursprüngliche Annahme der Verfassungsväter war offenbar, dass die peripheren Nationalismen der «Na­tionalitäten» sich loyal zu den in der spanischen Verfassung ausgedrückten Werten verhalten würden (Berne­cker, S. 174). Nach Xosé M. Núñez Seixas, der in dem Sammelband den parteipolitischen Diskurs zur dezen­tralen territorialen Verfassung Spaniens nach Franco nachzeichnet, entsprach die Unterscheidung spanische Nation und Nationalität gedanklich der Unterscheidung Meineckes von 1907 in Staatsnation und Kulturnati­on. Nur die Staatsnation wird dabei als politisch souverän gedacht. Später wurde in dem Zusammenhang mitunter auch das Konzept des «Verfas­sungspatriotismus» unter Bezugnahme auf Dolf Sternberger und Jürgen Habermas bemüht (vgl. etwa Núñez Seixas, S. 127f, vgl. Aschmann, S. 29 mit Bezug auf Peces-Barba, einen der Verfassungsväter). Diese Diskussion beförderte augenscheinlich jedoch die emotionale Bindung an den Zentralstaat in den autonomen Gemeinschaften mit starken Nationalbewegungen keineswegs. Oder anders gesagt: «Nicht der zentrale Staat, sondern die periphere nationale Gemeinschaft konnte innerhalb der letzten Dekade in Spanien eine spezifische Dynamik von Zugehörigkeits­gefühlen einerseits und Exklusionsgefühlen andererseits generieren» (Aschmann, S. 29).

Das zweite Problem des Artikels 2 liegt im Verhältnis der Nationalitäten zu den anderen Regionen. Bislang habe der politische Diskurs noch keine das Dilemma «Symmetrie vs. Asymmetrie» überwindende Formel hervorgebracht, so Núñez Seixas (vgl. S. 137 u. S. 139). Felipe González, Ministerpräsident Spaniens von 1982 bis 1996, sprach in diesem Zusammenhang einmal von «differentiellen Tatsachen» (hechos diferenciales) in Spanien, die zwar dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen, dafür aber die Integration unterschiedlicher (nationaler) Identitäten ermöglichen (González 2013 zitiert bei Bernecker, S. 174). Aber nicht alle Regionen mochten sich damit abfinden, weniger Rechte und Kompetenzen zu haben als die drei in der Verfassung als «historische Nationalitäten» gemeinten Gebiete (Galicien, das Baskenland und Katalonien).

Heute nehmen acht der 17 Autonomen Gemeinschaften in ihren Statuten für sich in Anspruch Nationalitäten zu sein. Neben den so genannten «historischen Nationalitäten» sind das Andalusien, Aragon, Valencia, die Balearen und die Kanarischen Inseln. Über entsprechende Änderungen ihrer Autonomiestatuten haben inzwischen Andalusien, Aragon, Valencia und die Balearen sogar den Status «historischer Na­tionalitäten» erlangt. Pedro Cruz Villalón, Präsident des spanischen Verfassungsgerichts von 1998 bis 2001, sieht dahinter die Absicht, den Begriff der «historischen Nationalitäten» aufzuweichen. (S. 158). Erwähnens­wert ist an dieser Stelle auch der Versuch vom Juli 1982, ein «Organgesetz zur Harmonisierung des Autono­mieprozesses» (LOAPA, Ley Orgánica de Armonización del Proceso Autonómico) auf den Weg zu bringen. Das Gesetzesvorhaben wurde seinerzeit von der UCD (Unión de Centro Democrático, deutsch: Union des Demokratischen Zentrums), die damals noch an der Regierung war, und dem PSOE eingebracht, hatte aber vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand.

Weit größere Bedeutung als Katalysator für die derzeitige politische Krise und den Katalonienkonflikt hat indes das zweite Autonomie­statut Kataloniens, das alle erforderlichen demokratischen Abstimmungen erfolgreich bewältigt hatte und 2006 in Kraft trat. Vier Jahre später aber wurde es dann über ein Verfassungsgerichtsurteil in Tei­len für nicht verfassungsgemäß erachtet. Die mit dem neuen Statut angestrebte Aufwertung Kataloni­ens zur Nation wurde zurückgewiesen. Ohne die vorherige (oder auch nachträgliche) unerlässliche Reform einiger Bestimmungen der Verfassung (Cruz Villalón, S. 154, Mayayo i Artal, S. 53, 55) war das Statut, wie seine Befürworter wohl wussten, rechtlich anfechtbar. Damit, so Mayayo, begann die Fehlerkette, die zu der heutigen Situation geführt hat.

Kurzum, wir haben es bei der territorialen Ordnung Spaniens mit äußerst anspruchsvollen und deshalb auch zerbrechlichen Anerkennungsverhältnissen zu tun. Es war von daher mit Versuchen zu rechnen, die in der Konstitution nicht ausreichend ausbuchstabierte Konfiguration je eigenen Interessen und Vorstellungen gefügig zu machen. Mit der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, der folgenden sozialen Protestbewegung, dem Erstarken der separatistischen Bewegung in Katalonien ab 2010 und dem erweiterten Parteienspektrum ab 2013/14 (rechtsnationalistisch Vox, linkspopulistisch Podemos) ist ein Interessenausgleich nicht gerade leichter geworden. Drei unterschiedliche Sichtweisen der Krise und nötiger Reformen zu ihrer Überwindung werden in dem Sammelband erläutert.

5. Sichtweisen der Krise und Lösungsoptionen

Pedro Cruz Villalón plädiert dafür, dem «Estado de las nacionalidades», der in der Verfassung angedacht und in der Entwicklung verwässert wurde, wieder Geltung zu verschaffen, wobei er die Chancen zu diesem Modell zurückzukehren, selbst als gering erachtet (S. 154). Die Uneindeutigkeit der Verfassung habe dazu beigetragen, dass es heute die bekannten Probleme mit der Konfiguration des Staates gibt (S. 164f). In der spanischen Geschichte habe es nachweislich ein Integrationsproblem bezogen auf das Baskenland, Galicien und Katalonien gegeben. Es sei dieses reale Problem, das die Verfassungsväter von 1978 dazu veranlasste, das Konzept der «Nationalitäten» in Artikel 2 aufzunehmen und eine Sonderstellung bestimmter Gebiete da­mit zu ermöglichen. Gedacht war damals offenkundig an die drei genannten Gebietskörperschaften, die wäh­rend der II. Republik (1931-1939) Autonomiestatuten auf den Weg gebracht hatten (vgl. S. 160). Die Qualifikation einer autonomen Gemeinschaft als «Nationalität» macht nur Sinn, wenn tatsächlich Unterschiede zu den anderen autonomen Gemeinschaften der «Regionen» ausgemacht werden können. Dankenswerterweise wird Cruz Villalón hier konkret, und nennt neben der eigenen Sprache und Kultur zwei weitere Kennzeichen von «Natio­nalitäten»: erstens das messbare und stabile Vorhandensein einer gewissen Anzahl von Bürgern mit ei­nem ausgeprägten Verlangen nach der Unabhängigkeit des Territoriums, das sie als ihr Land betrachten. Dar­aus leitet sich die Anerkennung ihres kollektiven Selbstbestimmungsrechts ab, dessen Wahrnehmung mögli­cherweise zur Abspaltung des Gebiets vom Staat führen könnte (vgl. S. 161). Das zweite Kennzeichen ist ein Parteiensystem mit Parteien, die es grundsätzlich ablehnen sich außerhalb ihres Territoriums aufzustellen und die ihren engen nationalen Bezug in den Vordergrund stellen, der ihnen vielleicht sogar wichtiger ist als jede andere politische Festlegung (vgl. S. 161). Die Lösung des Problems sieht Cruz Villalón darin, die drei «Nationalitä­ten» in der Verfassung konkret auszuweisen und klar zu definieren, welche Rechte und Pflichten sie als be­sondere autonome Gemeinschaften hätten (vgl. S. 163). Im Gegenzug wäre dann Loyalität gegenüber der Verfassung zu erwarten.

José Manuel Sánchez Saudinós spricht von einem eklatanten Scheitern (rotundo fracaso, S. 148) der Verfas­sung in Sachen Autonomiestaat. Er sieht es so, dass der Verfassungspatriotismus, also die Idee dass die Werte der Verfassung über den Nationalismen stehen, in der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 verbraucht wurde. Je mehr Dezentralisie­rung (Katalonien) gewährt wurde, desto stärker wurde die nationalistische Radikalisierung. Der Prozess zu immer umfangrei­cherer Selbstverwaltung und -regierung ging einher mit dem Verlust der kollektiven Identität (als Spanier) zugunsten einer spanienfeindlichen, nationalistischen Identität. Sprachpolitik, Erziehungswesen und Medien trugen ihren Teil dazu bei. Der Prozess ging auch auf Kosten der Binnenpluralität in den betreffenden Regio­nen und führte schließlich sogar dazu, dass aus einer autonomen Regierung heraus (Katalonien) die spani­sche Verfassung angegriffen wurde.

Man kann diese Diagnose auch so beschreiben, dass mit dem Sonderstatus der «Nationalität» in der Verfassung ein Erstarken des peripheren Nationalismus begünstigt wurde. Dieser sah sich zunächst im Rahmen der Verfassung ermächtigt, «nation building» zu betreiben, also die eigene Kulturnation zu fördern und möglichst viel in Verhandlungen mit dem Zentralstaat für die autonome Gemeinschaft herauszuholen. Ab einem bestimmten Punkt in der Krise, zu der auch die Frustration nach dem Urteil des Verfassungsgerichts von 2010 zum Auto­nomiestatut beitrug, politisierte sich das «nation building» in Katalonien und wandte sich gegen den spanischen Staat. Souveränitätsansprüche wurden artikuliert, die separatistischen Parteien erstarkten, und die Loyalität gegenüber der spanischen Verfassung war nicht mehr selbstverständlich. Aus dem Ziel «nation building» wurde das Ziel «state building».

Nach Sánchez Sau­dinós sind weder Re-Zentralisierung noch Separatismus noch Konföderation angemessene Lösungen in diesem Konflikt. Er bringt, ohne sehr konkret zu werden, eine Ausweitung der Instrumente der direkten und partizipa­tiven Demokratie ins Spiel, die Stärkung der Kontrollmechanismen und der checks and balances des Rechtss­taates sowie eine Verbesserung der Garantien des politischen und territorialen Pluralismus (vgl. S. 150).

Walther L. Bernecker spricht sich dafür aus, eine Re­form der Verfassung einzuleiten (S. 174f). Er nimmt dabei Bezug auf einen von mehreren spanischen Verfas­sungsrechtlern 2017 erarbeiteten Vorschlag für ein modifiziertes Modell territorialer Organisation, das von Kommunikations-, Partizipations- und Kooperationsdefiziten im derzeitigen System ausgeht (vgl. S. 175). Es wird dia­gnostiziert, dass die autonomen Gemeinschaften zu wenig in die Institutionen des Staates eingebunden und zu wenig an den Entscheidungen des Staates beteiligt seien. Ein Gremium, über das die autonomen Ge­meinschaften an den Entscheidungen des Staates mitwirken könnten, fehle. Der Senat, die zweite Parlamentskammer, kann diese Aufgabe in seiner jetzigen Form, so Bernecker, nicht erfüllen (vgl. S. 175). Außerdem fehle ein Gremium für den Interessenausgleich und die Aushandlung gemeinsamer Positionen zwischen den auto­nomen Gemeinschaften. Es würde helfen, in der Verfassung die Verteilung der Kompetenzen und die wesent­lichen Elemente der Finanzierung sowie die Instrumente der Kooperation festzulegen. Eine Reform dieser Art könnte die problematischen Einzelverhandlungen zwischen Zentralstaat und jeder einzelnen autonomen Gemein­schaft beenden. Zudem würden die entsprechenden Konkretisierungen in der Verfassung zu einer Entlastung des Verfassungsge­richts führen.

Dieser Vorschlag ist einleuchtend: institutionelle und organisatorische Verzahnung der Ebenen und ständiger Austausch zwischen den autonomen Gemeinschaften und dieser mit dem Zentralstaat. Das Ziel wäre, abs­trakt gesprochen, durch institutionelle Vorkehrungen und Verfahren eine gemeinsame Verantwortung für den Staat als integriertes Mehrebenensystem aufzubauen. Welchen Status die «Nationalitäten» dabei in der neuen Konfiguration hätten, wäre im Reformprozess zu klären.

Die praktischen Schwierigkeiten einer Verfassungsreform dürften allerdings weniger bei den verfahrenstechni­schen hohen Hürden einer Verfassungsänderung liegen als vielmehr darin, dass man sich in der zerstrittenen politischen Parteienlandschaft nur schwerlich auf ein konsensfähiges Reformprojekt wird verständigen kön­nen – von der hochemotionalen Lage in Katalonien noch ganz abgesehen.

6. Monarchie oder Republik

Die Kritik an der parlamentarischen Monarchie als Staatsform, die selbstverständlich die Verfassung berührt, wird vor allem aus dem linken Spektrum (jenseits der Sozialdemokraten) und von Unabhängigkeitsbe­fürwortern vorgetragen. Dem setzt der Historiker Jordi Canal i Morell eine Apologie der Monarchie als Insti­tution und ein Loblied auf den aktuellen König Felipe VI entgegen. Im Ton hört sich das stellenweise nach Hofberichterstattung an, wenn etwa mitgeteilt wird, welche spanischen Modeschöpfer die Königin Letizia bei dieser oder jener Gelegenheit einkleideten (namentlich Felipe Varela und Manuel Pertegaz, vgl. S. 186 und 189). In der Sache ist ihm jedoch zuzustimmen, dass parlamentarische Monar­chien nicht per se schlechtere Demokratien sein müssen (S.183). Dass die Wiedereinführung einer Monar­chie, nach einer nur kurz währenden Republik und einer langen Diktatur, verfassungsgeschichtlich einzigar­tig ist, liegt auf der Hand (S. 180). Canal betont, dass die Legalität der parlamentarischen Monarchie sich allein aus der Verfassung von 1978 ableite, und nicht aus einer Kontinuität der monarchischen Tradition und auch nicht aus den «leyes fundamentales», also der franquistischen Legalität. Dass Juan Carlos I am 22. November 1975 noch im alten Regime zum König proklamiert wurde, würde Canal wohl nicht als Einwand gelten lassen. Er betont des weiteren die Vorbildfunktion des Königs als Element der Legitimität der Institution. Insofern war es konse­quent, dass Juan Carlos I abdankte, als er dem Anspruch nicht mehr genügte, und sein Sohn an seine Stelle trat. Der neue König macht nach Canal seine Sache bislang gut, orientiert sich strikt an seinem Verfassungs­auftrag und distanziert sich entschieden von den Mitgliedern der königlichen Familie, die sich nicht ein­wandfrei verhalten. Die Diskussion um die Staatsform und eine mögliche Verfassungsänderung hält selbst­verständlich auch Canal für legitim, nur den Zeitpunkt erachtet er als ungünstig. Seiner Meinung nach ist Spanien zwar nicht unbedingt mehrheitlich monarchistisch, aber doch zunehmend dezidiert «pro-felipistisch» (sólidamente felipista, S. 202).

7. Reformbedarf bei den Grundrechten

Auch bei den Grundrechten wird von manchen eine Revision der Verfassung für nötig gehalten. In der spani­schen Verfassung werden die Grundrechte eingeteilt in «Grundrechte und öffentliche Freiheiten», «Rechte und Pflichten der Bürger» und «Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik». Die Grundrechte der ers­ten Gruppe gelten als direkt anwendbar und für sie ist eine Verfassungsbeschwerde zulässig. Für die zweite Gruppe gilt allgemeiner Gerichtsschutz, während die dritte Gruppe der sozialen Rechte den Status von Leitprinzipien hat, die der Orientierung und als Prüfmaßstab dienen sollen (vgl. Sommermann, S. 81, López Guer­ra, S. 94-97). Für diese Differenzierung innerhalb der Grundrechte wird auch der Terminus «Normativitätsdistinktion» gebraucht. Während Sommermann die Normativitätsdistinktion und die damit verbundenen gestaffelten Schutzregime für ein innovatives Merkmal der spanischen Verfassung hält (S. 80f), sieht López Guerra darin eher etwas Barockes («un cierto barroquismo», S. 94). Er bedauert, dass die sozialen Rechte nicht besser ge­schützt sind. Gleichwohl hält er eine Reform der Verfassung bei den Grundrechten wegen der hohen verfah­renstechnischen Hürden für unwahrscheinlich, und sieht die Verantwortung für künftige Verbesserungen beim Gesetzgeber und der Rechtsprechung, insbesondere auch beim Verfassungsgericht (S. 98). Dem gegen­über macht sich Itziar Gómez Fernández, wissenschaftliche Mitarbeiterin am spanischen Verfassungsgericht, in einem überaus ausführlichen Beitrag für eine umfassende Reform stark, die konzeptionell von der Univer­salität aller Grundrechte und dem Kriterium der Vulnerabilität von Individuen und Gruppen ausgehen solle. Sie plädiert für die Aufhebung der Abstufung bei den Grundrechten und ein Schutzregime, das auch die Durchsetzbarkeit (exigibilidad) der sozialen Rechte einschließt – eine alte sozialdemokratische und sozialis­tische Forderung. Die Unterentwicklung des spanischen Staates als Sozialstaat wird von ihr in einen größe­ren Zusammenhang gestellt: die Krise der Demokratien und das Aufkommen des Rechtspopulismus. Der Ausbau des Sozialstaats durch die Stärkung der sozialen Rechte wird als probates Mittel angesehen, die Bin­dung an die Verfassung und den Staat zu erhöhen. Wie López Guerra weist auch sie auf den Handlungsspiel­raum des Verfassungsgerichts hin, anders als dieser spricht sie sich aber für eine grundlegende Reform der Verfassung aus und denkt dabei perspektivisch an einen neuen, vom Volk als Souverän ausgehenden verfassungsgebenden Prozess (S. 123).

8. Fazit

Der mit etwa 250 Seiten (samt Anhängen) gar nicht so umfangreiche Band ermöglicht insgesamt ein gutes und differenziertes Verständnis der spanischen Verfassung von 1978. Die Kontextualisierung der Verfas­sungsgenese in zeitgeschichtlicher (transición), systematischer (constitutional moment), historischer (Cádiz 1812 ff) und ländervergleichender (Portugal, Griechenland) Hinsicht ist nützlich, um die Besonderheiten der Verfassung zu verstehen. Als Problemfelder, die eine Verfassungsreform nötig machen könnten, werden in der Hauptsache die territoriale Ordnung und daneben auch die sozialen Grundrechte und die Frage der Staatsform behandelt.

Was die territoriale Ordnung bzw. das Nationalitätenproblem und seine mögliche Bewältigung angeht, kom­men erfreulicherweise unterschiedliche Einschätzungen zu Wort. Weitgehende Einigkeit besteht dahinge­hend, dass ein Kernproblem der Verfassung von 1978 ihre Unbestimmtheit in wichtigen Punkten war und ist. Rückblickend scheint das größte Versäumnis der Verfassung von 1978 darin zu liegen, keine gemeinsame Verantwortung für den neuen föderalen Staat insti­tutionell und operational verankert zu haben. Das Zusammenspiel der territorialen Einheiten festzulegen, ist eine Aufgabe der Verfassung, die weder die Gerichte noch der Gesetzgeber im Nachhinein übernehmen kön­nen. Von daher wäre ein längerfristig angelegter Reformprozess wünschenswert, an dessen Ende die Verfassung konkret festschriebe, welche Rechte und Pflichten den unterschiedlichen territorialen Einheiten zukommen, und wie die verschiedenen Ebenen verlässlich und belastbar zusammenwirken können.

Wie mehrfach in dem Sammelband angesprochen, sind Änderungen der Verfassung vom Verfahren her in Spanien zwar nicht leicht durchzusetzen, aber es ist auch klar geworden, dass darin nicht unbedingt das Hauptproblem liegt. Es fehlt, anders als nach 1975, ein einigendes Reformvorhaben und der nötige parteiübergreifende Kon­sens.

Abschließend lässt sich über den Band noch sagen, dass praktisch nur das gemäßigte Spektrum des wissen­schaftlichen Diskurses abgebildet wird, während extreme Kritiker des «Regimes von 1978» von Links oder aus den Strömungen der peripheren Nationalismen nicht vertreten sind. Ob von dieser Seite konkrete Vorschläge ausgearbeitet wurden, die über die in dem Sammelband angesprochenen Reformvorschläge hinausgehen, sei dahingestellt.

Es hätte wohl auch den Rah­men des Bandes gesprengt, die wichtigen Unterschiede zwischen den peripheren Nationalismen und den dort jeweils geltenden Autonomiestatuten eingehend zu behan­deln. Insbesondere hätte es sich vermutlich gelohnt, die Beilegung des Konflikts zwischen Zentralstaat und baskischem Nationalismus, der die transición überschattete, im Zusammenhang mit dem heute dort geltendem Autonomiestatut zu erörtern.

Ein letzter Satz: Angesichts des relativ breiten öffentlichen Interesses in Deutschland an den Vorgängen in Katalonien und der politischen Situation in Spanien insgesamt wäre ein deutschsprachiges Angebot aller Beiträge dieses inhaltsreichen Buches sicherlich die attraktivere Variante gegenüber dem gewählten Mix ge­wesen.

9. Übersicht über Autoren, Titel und Themen

  • Birgit Aschmann (Prof. für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin): Die Verfassung von 1978 im Kontext der spanischen Geschichte
  • Alejandro Saiz Arnaiz (Prof. für Verfassungsrecht an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona): La Ley para la Reforma Política: de la legalidad fundamental del franquismo a la Constitución democrática
  • Andreu Mayayo i Arial (Prof. für Zeitgeschichte an der Universität von Barcelona): La ruptura con el fran­quismo
  • Christian Waldhoff (Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Juristischen Fa­kultät der Humboldt-Universität zu Berlin): Der „constitutional moment“. Wann und wie entstehen Verfas­sungen?
  • Karl-Peter Sommermann (Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Staatsrecht und Rechtsverglei­chung an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaft in Speyer): Die südeuropäischen Transfor­mationsverfassungen der 1970er Jahre im Vergleich – Griechenland, Portugal, Spanien
  • Luis López Guerra (Prof. emeritus für Verfassungsrecht an der Universität Carlos III, Madrid): Los de­rechos fundamentales en la Constitución española
  • Itziar Gómez Fernández (Professorin am Institut für Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Carlos III, Madrid): Vulnerabilidad y derechos fundamentales en el actual sistema constitucional español
  • Xosé M. Núñez Seixas (Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Santia­go de Compostela): Verfassungspatriotismus und Nationalismus im Spanien des 21. Jahrhunderts
  • José Manuel Sánchez Saudinós (Prof. für Verfassungsrecht an der Universität Carlis III in Madrid): La rela­ción entre el derecho, la historia y la sociedad
  • Pedro Cruz Villalón (Prof. für Verfassungsrecht an der Universität Autónoma de Madrid): El malogrado Estado de las nacionalidades (y la enorme dificultad de su reconducción)
  • Walther L. Bernecker (Inhaber des Lehrstuhls Auslandswissenschaft Romanischsprachige Kulturen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): ¿Existe una urgente necesidad de reformar la Consti­tución española de 1978?
  • Jordi Canal i Morell (Prof. für Geschichte der Moderne an der École des hautes études en sciences sociales, París): La Constitución española, la monarquía de Felipe VI y el proceso independentista en Cataluña (2014-2018)

Birgit Aschmann und Christian Waldhoff (Hrsg.): Die spanische Verfassung von 1978: Entstehung – Praxis – Krise? Münster: Aschendorff Verlag 2020



Nicola Veith: Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration

Die Auswanderung nach Andalusien, ein weitgehend vergessenes Kapitel spanisch-deutscher Geschichte, wird erstmals systematisch ausgeleuchtet

Rezension von Knud Böhle

1. Aufgeklärter Absolutismus und das spanische Kolonisierungsprojekt (1767-1835)

1767 – es ist die Zeit des aufgeklärten Absolutismus in Europa: Joseph II steht seit März 1764 an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches, Friedrich der Große herrscht über Preußen, Katharina die Große über Russland und in Spanien ist der Bourbonenkönig Karl III (Carlos III) an der Macht. Ideen der Aufklärung und physiokratisches Denken haben in Spanien Einzug gehalten. Aufklärer wie Campomanes, Aranda und Olavide bekleiden wichtige politische Ämter. Zur Ideenwelt, die die Reformpolitiker inspiriert, gehören staatlicher Interventionismus, die Verbesserung der Landwirtschaft, eine aktive Bevölkerungspolitik und Prestigeprojekte.

In diesem Zusammenhang ist die Ansiedlung von Ausländern in landwirtschaftlich ungenutzten Landesteilen (Kolonisierung) zu sehen, wie sie etwa von Preußen, Russland und eben auch von Spanien ab 1767 (in vergleichsweise kleinem Maßstab) praktiziert wird. Ebenfalls in das Jahr 1767 fällt das Verbot des Jesuitenordens und die Ausweisung der Jesuiten. Die Institution der Inquisition bleibt hingegen bestehen. Eine andere spanische Besonderheit ist das Banditentum (bandolerismo), welches den Transport überseeischer Waren von den Häfen Andalusiens nach Madrid gefährdet. Von daher ist es auch ein Ziel des Siedlungsprojekts gewesen, diese Wege (Teilstrecken des Camino Real) sicherer zu machen. In der Handschrift von Saragossa, dem weltberühmten, erstmals 1804 veröffentlichten Buch des Grafen Potocki, wird auf diesen Zusammenhang gleich zu Anfang angespielt: «Der Graf von Olavidez hatte in der Sierra Morena noch keine Ausländer angesiedelt: diese steile und stolze Gebirgskette, die Andalusien von der Mancha trennt, war also nur von Schmugglern bewohnt, von Räubern und von einigen Zigeunern…» (Inselausgabe 1980, S. 11).

Vorschläge für die Besiedlung dieser Gegend mit ausländischen Einwanderern gibt es schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts, entscheidend ist aber der April des Jahres 1767 als der König von Spanien mit dem Bayern Johann Kaspar Thürriegel einen Vertrag abschließt über 6.000 Kolonisten, die anzuwerben und nach Spanien zu bringen sind. In dem Vertrag sind genaue Vorgaben zu Herkunft, Religionszugehörigkeit, Altersstruktur und den nachzuweisenden Qualifikationen der angeforderten Kolonisten enthalten. Im Juli 1767 werden die Regularien, die in den Siedlungsgebieten gelten sollen im Fuero de Población (etwa: Sonderrechte für die Ansiedlungen) festgeschrieben. Der bereits genannte Pablo de Olavide übernimmt im Juni 1767 als Superintendente die Leitung des Kolonisierungsprojekts. Im August 1767 kommen bereits die ersten Migranten aus dem Südwesten des Heiligen Römischen Reiches in Spanien an. Die avisierten Siedlungsgebiete liegen zunächst in der Sierra Morena und ab 1768 kommen Flächen etwas weiter westlich in Andalusien dazu.

Legende: Die Kolonien liegen in den hellgrünen Flächen; die vier Reiche zusammen entsprechen weitgehend der heutigen autonomen Region Andalusien. Quelle: Wikipedia

Offiziell wird bei dem Projekt seit 1768 von den Nuevas Poblaciones de Sierra Morena y de Andalucía (etwa: Neusiedelungen in der Sierra Morena und Andalusien) gesprochen. Viele der damals neu gegründeten Dörfer gibt es noch heute. La Carolina in der Sierra Morena (Provinz Jaén), La Carlota (Provinz Córdoba) und La Luisiana (Provinz Sevilla) dürften zu den bekannteren Orten zählen. Mit der Aufhebung der letzten Sonderregelungen und staatlichen Zuwendungen für die Gebiete im Jahr 1835 endet das Projekt. Für die historische Untersuchung des Migrationsprozesses sind natürlich die ersten Jahre besonders relevant.

2. Komplexität des Themas und ihre wissenschaftliche Bewältigung

Nicola Veith bearbeitet das Thema in ihrer Dissertation (Johann-Gutenberg Universität Mainz, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften) auf die denkbar anspruchsvollste Weise, indem sie den Migrationsprozess auf Basis der wissenschaftlichen Literatur und intensiver Archivarbeit – verbunden mit dem Studium überwiegend spanischer und deutscher Quellen und Materialien – analysiert und rekonstruiert (vgl. zur Quellenlage S. 22-28).

Erstmalig wird hier der Migrationsprozess ganzheitlich dargestellt. Das bedeutet, dass zunächst die Umstände der Emigration aus dem Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) und die Reiserouten und Reiseverläufe bis in das neue Siedlungsgebiet untersucht werden. Erst danach wird die Ansiedlung und die sich anschließende Geschichte der Entwicklung der Kolonien und der Integration der Auswanderer behandelt. Dem entspricht in der Gliederung der Arbeit die folgende Dreiteilung: Teil I: Hintergründe der Spanienauswanderung im 18. Jahrhundert, Teil II: Verlauf der Spanienauswanderung 1767 bis 1769 und Teil III: Ansiedlung und Integration.

Im Rahmen dieser Struktur werden erstens die rechtlichen, politischen, organisatorischen und finanziellen Aspekte detailliert behandelt. Zweitens werden sowohl die Lebensbedingungen in der Herkunftswelt, die die Auswanderer motivierten, als auch die soziale Wirklichkeit in den Ansiedlungen und die sich dort nach und nach bildende neue Alltagswelt akribisch herausgearbeitet. Für die exemplarische Untersuchung der Herkunftswelten werden insbesondere die Kurpfalz, die Markgrafschaft Baden-Durlach sowie der schwäbische Raum ausgewählt. Fast unwillkürlich denkt man, dass auch diese Auswanderungsgeschichten einen Filmemacher wie Edgar Reitz (Stichwort: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht) verdient hätten.

Die von Nicola Veith zu bewältigende Komplexität des Themas ist hoch. Vorschnelle Vereinfachungen verbieten sich. Es geht um notwendige Differenzierungen. Lässt man sich, um gleich das wichtigste Beispiel zu nehmen, genauer auf die Herkünfte der Migranten ein, wird die Bedeutung solcher Differenzierung sichtbar: Zwar waren die überwiegende Anzahl der Kolonisten südwestdeutsche, elsässische und lothringische Bauern und Handwerker. Aber dazu kommen dann weitere Kolonisten aus den verschiedenen deutschsprachigen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches, den Niederlanden und der Schweiz, und weitere Kolonisten mit französischer Muttersprache aus der Schweiz und Frankreich sowie Italiener (vgl. S. 354). In dem Zusammenhang vertritt Nicola Veith die interessante These, dass die deutschsprachigen Migranten zwar durch die Fremdzuschreibung als «Deutsche» in ihrer regionalen und territorialstaatlichen Identität (als Kurpfälzer, Badener etc.) geschwächt wurden, dass aber gerade die dadurch ermöglichte gemeinsame Identität als «Deutsche», die Integration in den Kolonien erleichterte (vgl. S. 361, S. 399).

Für ein realistisches Gesamtbild der Auswandererkolonien kommt es zudem darauf an, viele unterschiedliche Facetten in die Betrachtung einzubeziehen: Fragen der Siedlungsform, Architektur, Bodenbeschaffenheit, Kolonialverwaltung, Familienstrukturen, Nachbarschaftsbeziehungen, Krankenversorgung, Seelsorge, Freizeitgestaltung etc., die in dieser Rezension aber nicht weiter vertieft werden können. Dem sechsseitigen Inhaltsverzeichnis, das online als pdf-Dokument verfügbar ist, kann man die Vielzahl der in der Dissertation behandelten Aspekte entnehmen.

3. Widersprüche, Fehler und Konflikte im Kolonisierungsprojekt

Ein Verdienst der Arbeit liegt darin, wichtige im Projekt angelegte und im Projektverlauf aufgetretene Konflikte und Widersprüche herausgearbeitet zu haben, was die Grundlage für eine kritische Gesamtbewertung liefern kann. Einige kritische Punkte sollen hier kurz angesprochen werden.

Bereits die Anwerbung von Kolonisten stand im Widerspruch zu den im 18. Jahrhundert geltenden Auswanderungsverboten im Heiligen Römischen Reich (vgl. S. 72). Die Emigration war von daher widerrechtlich und fand meistens heimlich statt (S. 105). Insbesondere stand das Bestreben der Herkunftsländer, die qualifizierten Bauern und Handwerker zu halten, im Widerspruch zu dem Ziel gerade diesen Personenkreis für das prestigeträchtige Kolonisierungsprojekt zu gewinnen. In der Praxis bedeutete das, dass viele der in Spanien aufgenommenen Auswanderer die erwarteten Qualifikationen nicht mitbrachten.

Widersprüchlich war auch die Mischung aufklärerischer und despotischer Tendenzen, die die wirtschaftliche Praxis in den Kolonien kennzeichnete (vgl. S. 214-253). Auf der Seite des Fortschritts in der Landwirtschaft standen die Kombination von Ackerbau-, Viehzucht und Handwerk als Wirtschaftsgrundlage, eine Schulpflicht und für die Frauen eine aktivere Rolle im Wirtschaftsleben. Kritisch ist ein «Übermaß an staatlicher Regulierung» (S. 30) zu sehen, das etwa an der anfänglichen Verteilung gleichgroßer Grundstücke, ohne die Bodenqualität in Rechnung zu stellen, abzulesen ist, oder am Beharren auf dem Anbau von Getreide trotz dafür ungünstiger landwirtschaftlicher Gegebenheiten und der damit einhergehenden verzögerten Umstellung auf ertragreichere Pflanzungen (S. 403). Auf der Negativseite steht weiter, dass die Kolonisten in den ersten Jahren keine Möglichkeit der Mitbestimmung hatten (S. 192). Nicola Veith spricht von einer annähernd militärischen Verwaltung der Kolonien (S. 398). «Untätigkeit zählte als Straftat» (S. 404), die mit Fußfesseln bei der Arbeit oder sogar Gefängnis geahndet werden konnte. Außerdem wurde wenig Geselligkeit zugelassen, was mit der Streulage der Höfe und dem Verbot, während der Woche die zentralen Orte zu besuchen, zusammenhing. Dennoch: vor der Kontrastfolie des Latifundismus, dem in Andalusien vorherrschenden Typus ausbeuterischen und wenig effektiven Großgrundbesitzes, wird der staatlich hoch subventionierte Versuch, eine «bäuerliche Mittelschicht» (S. 406) zu etablieren, als fortschrittlich erkennbar.

Zu den gravierenden Fehlern der Projektverantwortlichen, die die Autorin der Studie im Einzelnen nachgewiesen hat, gehörte die mangelhafte Vorbereitung auf die Herausforderungen der Ansiedlung in der Anfangszeit. So kamen die ersten Siedler erst im Spätsommer und Herbst 1767 an, das Neuland war zu dem Zeitpunkt noch nicht urbar gemacht und Unterkünfte standen kaum zur Verfügung (S. 172). Selbst dort wo Unterkünfte auf den Grundstücken entstanden waren, verfügten die Projektverantwortlichen, dass die Kolonisten (wieder) in große Baracken in den Hauptkolonien ziehen sollten – anstatt auf ihren Grundstücken zu bleiben. Dadurch begünstigt brachen Epidemien aus und es „ist anzunehmen, dass bis 1770 etwa die Hälfte der Kolonisten verstarb“ (S. 405). In diese Schätzung fließen freilich auch Angestellte der Kolonien, Handwerker, die beim Hausbau halfen, Soldaten sowie spanische Kolonisten ein. Außerdem dürfte die Situation je nach Ort stark variiert haben.

Mit dem Nachzug von Spaniern aus Katalonien und Valencia, und später auch aus anderen, ärmeren Gegenden Spaniens, wurde dieser Aderlass kompensiert. Die Zahl der Spanier in den Kolonien glich sich wahrscheinlich bereits im Jahr 1771 derjenigen der Ausländer an (S. 369-372). Damit veränderte sich freilich der Charakter des Vorzeigeprojekts grundlegend.

Religionszugehörigkeit und Religionsausübung bildeten eine weiteres Konfliktfeld. Das begann damit, dass nur Katholiken angeworben werden sollten, diese Bedingung aber von dem Werber Thürriegel nach Möglichkeit verschwiegen wurde. Das führte bei der Kontrolle der Einwanderer in Spanien häufig zu Scheinkonvertierungen und in einigen Fällen auch später noch zur Ausweisung von Protestanten. Problematisch war auch die seelsorgerische Betreuung, die laut Bestimmung im Fuero de Población für die ersten Jahre in der Muttersprache erfolgen sollte (S. 258). Die Kolonialleitung hatte indes die Akquise von Priestern nicht recht bedacht und kam erst 1769 darauf, den Bedarf durch deutschsprachige Kapuzinermönche, 18 an der Zahl, wie Nicola Veith aufzeigt, zu decken. Diese Mönche kümmerten sich offenbar nicht nur um seelsorgerische Belange, sondern legten sich auch mit der Kolonialverwaltung im Interesse der deutschsprachigen Siedler an (S. 262). In dem Maße, in dem ab 1770 zunehmend auch spanische Siedler aufgenommen wurden und das deutsche Brauchtum zurückgedrängt wurde, verschärfte sich der Konflikt. Das führte sogar dazu, dass der Kapuziner Romualdo Baumann im Jahr 1774 den Leiter des Kolonisierungsprojekts, Pablo de Olavide, bei der Inquisition als Ketzer denunzierte, weil der «protestantisches Gedankengut in sich trüge und sich gegen die kirchlichen Dogmen ausspreche» (S. 270). Es kam zum Prozess und zur Verurteilung Olavides (sicherlich nicht nur wegen Pater Romualdos Anzeige). Aber auch die Kapuziner mussten danach die Kolonien und Spanien verlassen.

4. Ist das Kolonisationsprojekt gescheitert, oder war es ein Erfolg?

Fragen wir abschließend auf Basis der Dissertation nach Erfolg und Scheitern des Projekts. Die Anwerbung jedenfalls war erfolgreich und Thürriegel übererfüllte (nach eigenen Angaben) sogar sein Soll mit 7.775 Siedlern, die er abrechnen konnte (mit 326 Reales je angenommener Person, S. 151).

Unter dem Gesichtspunkt der ursprünglichen Projektidee einer allein von kompetenten Ausländern aufgebauten fortschrittlichen und mustergültigen Landwirtschaft kommt man nicht umhin, von einem Scheitern zu sprechen.

Betrachtet man jedoch die Kolonien ab 1770, an deren Entwicklung ausländische und spanische Kolonisten mitwirkten, ergibt sich ein positiveres Bild. Einer zitierten Quelle nach wächst die Bevölkerung von 6.585 Personen im Jahr 1770 auf 11.857 Personen im Jahr 1833 (S. 386, S. 389). Diese Entwicklung geht mit einem wirtschaftlich positiven Wachstum zusammen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Integration ließe sich von einer Erfolgsgeschichte sprechen, da sich die Ausländer im Lauf weniger Jahrzehnte fast vollständig in die spanische Gesellschaft integrierten. Dem entspricht auch der Befund von Nicola Veith, dass viele «Auswandererbiografien beweisen, dass der Bogen von der heimatlichen Misere zum spanischen Eigentum in zahlreichen Fällen geglückt war» (S. 406).

5. Fazit

Die Dissertation liefert einen wichtigen Beitrag zu einem vernachlässigten und fast vergessenem Kapitel deutsch-spanischer Geschichte, und zu einer ganzheitlichen und prozessorientierten historischen Migrationsforschung. Diese Studie kann auch für die Gegenwart von Nutzen sein, insofern aus ihr wertvolle Anhaltspunkte und Einsichten zu gewinnen sind für die Untersuchung heutiger Projekte zur Anwerbung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte und die Analyse aktueller Migrationsprozesse.


Nicola Veith: Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration. Auswandererkolonien des 18. Jahrhunderts in Andalusien. Kaiserslautern: Bezirksverband Pfalz, Inst. f. pfälz. Geschichte und Volkskunde 2020, ISBN: 978-3-927754-97-3

Enric Juliana: Aquí no hemos venido a estudiar

Vom anti-franquistischen Widerstand der kommunistischen Partei Spaniens bis zu ihrer Bedeutungslosigkeit. Eine Hommage an Manuel Moreno und eine eindrucksvolle Lektion in spanischer Zeitgeschichte

Rezension von Knud Böhle | 05.09.2020

Enric Juliana, Journalist und stellvertretender Direktor der Zeitung La Vanguardia, erzählt uns die berührende Geschichte vom Schlosser Manuel Moreno aus Badalona, den er noch persönlich kannte und von dem er viel lernte. Moreno ist das leuchtende Beispiel eines integren, unbeugsamen, selbst denkenden Kommunisten und Widerstandskämpfers gegen die Franco-Diktatur. Die Zeit von 1947 bis 1964 verbrachte er als politischer Häftling im „kältesten Gefängnis Spaniens“ in Burgos. „Aquí no hemos venido a estudiar“ (Wir sind hier nicht zum Studieren hingekommen) setzt Manuel Moreno Mauricio ein Denkmal.

Dem Autor geht es, ausgehend von dem Einzelschicksal, aber um mehr. Es geht um Geschichte: „Die Geschichte des Gefängnisses in Burgos ist die Geschichte des Franquismus“ (S. 125). Den Schlüssel zu dieser Geschichte hat Juliana im Höhlengleichnis Platons gefunden: wer in der Höhle sitzt muss Schattenbilder interpretieren, um auf die wirklichen Verhältnisse zu schließen. Aber nicht nur die Häftlinge sitzen in der Höhle. Auch die kommunistische Partei Spaniens im Exil befindet sich in einer Höhle und kann die Verhältnisse in Spanien nicht zweifelsfrei deuten. Noch schwieriger wird es, richtige Entscheidungen zu treffen, wenn die Weltmächte ins Spiel kommen und wie im Kalten Krieg geschehen, ihre Interessen rücksichtslos verfolgen.

Um 1960 saßen etwa 1.000 politische Häftlinge im „kältesten Gefängnis Spaniens“, von denen die meisten der PCE (Partido Comunista de España) bzw. der PSUC (Partit Socialista Unificat de Catalunya) angehörten. Wir lernen den Alltag in dem Gefängnis kennen: einerseits Verhöre, Folter, Isolation und Repression, andererseits Disziplin, Organisation, geheime Aktivitäten, Schulungen, Diskussionen und Widerstandsaktionen, aber auch Angst vor Verrätern und Spitzeln. Das Gefängnis bildet eine eigene soziale Realität, deren Schilderung mit einer Vielzahl oft abenteuerlicher Lebensgeschichten prominenter und weniger prominenter Parteimitglieder verbunden wird. Das Gefängnis wird zum Resonanzraum der Geschichte und zum Schauplatz des dramaturgisch geschickt in den Mittelpunkt gestellten Konflikts zwischen Manuel Moreno (PSUC) und Ramón Ormazábal von der kommunistischen Partei des Baskenlandes (Partido Comunista de Euskadi, PCE-EPK). Nachdem Ormazábal 1962 illegale Streiks im Baskenland organisiert hatte, wurde er gefasst und kam nach Burgos. Von ihm stammt der Titel gebende Satz „Aquí no hemos venido a estudiar“ (Wir sind hier nicht zum Studieren hingekommen). Er interpretiert nämlich die beträchtliche Streikbeteiligung als Hinweis auf ein mögliches, nahes Ende des Franco-Regimes und drängt auf unterstützende Aktionen vom Gefängnis aus. Manuel Moreno ist davon nicht überzeugt, sieht den Franquismus nicht am Ende und plädiert für das Lernen. Der Baske setzt sich in der Auseinandersetzung durch.

Da es Juliana auch um die Geschichte der PCE geht, ihre inneren Kämpfe, Fehleinschätzungen, Niederlagen und Kursänderungen, wird die Kontroverse Aktion vs. Reflexion auf der Ebene der Parteiführung ebenfalls zum Thema. Dolores Ibárruri und Santiago Carrillo müssen sich mit Javier Pradera, Jorge Semprún, Fernando Claudín und weiteren Dissidenten auseinandersetzen. Diese werden dann Mitte der 60er Jahre aus der Partei ausgeschlossen, unter anderem deshalb, weil sie den gesellschaftlichen Wandel in Spanien, den wirtschaftlichen Aufschwung und die wachsende Konfliktbereitschaft der Arbeiter anders interpretiert haben. Den Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzungen im Gefängnis wie in der Partei bildet die Frage, als wie hinfällig oder langlebig das Franco-Regime Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre einzuschätzen ist.

In der Literatur wird die neue Wirtschaftspolitik des Regimes häufig allein dem Einfluss der Technokraten des Opus Dei zugeschrieben. Dem widerspricht Juliana. Für ihn ist die Schlüsselfigur der wirtschaftspolitischen Wende der Ökonom Joan Sardà Dexeus, den er für den wichtigsten spanischen Wirtschaftsfachmann des 20. Jahrhunderts hält (S. 37). Sardà mag eine schillernde Persönlichkeit gewesen sein, Mitglied des Opus Dei war er jedenfalls nicht. Während des Bürgerkriegs hatte er schon die Wirtschaftspolitik der republikanischen Regionalregierung Kataloniens wesentlich mitgestaltet. Nun begegnet uns der anpassungsfähige Katalane als geistiger Vater des Stabilisierungsplans, der den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Franco-Regimes vermeiden half: Wachstum, bescheidener Wohlstand, entpolitisierte Mittelschichten… . Auf die Bedeutung Sardàs als Ökonom hinzuweisen, ist sicherlich angebracht. Ihn wie einen Deus ex Machina aus Katalonien einzuführen, erscheint mir gleichwohl etwas überzeichnet (insbesondere nach der Lektüre von Anna Catharina Hofmann: Francos Moderne. Technokratie und Diktatur in Spanien 1956-1973, siehe: https://spanienecho.net/rezensionen/).

Die neue ökonomische Politik bildet den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Franquismus. Mit Verspätung erst reagiert die Parteiführung des PCE adäquat auf die neue Situation, wendet sich vom Stalinismus ab und dem Eurokommunismus zu. Nach dem Ende der Diktatur 1975 konnte die Partei hoffen, in der Parteiendemokratie eine wichtige Rolle zu spielen. Sie hatte den erbittertsten Widerstand gegen das Franco-Regime geleistet, war über die Basisarbeit in den Comisiones Obreras in den Fabriken anerkannt, und zählte zum Zeitpunkt der ersten freien Wahlen 1977 200.000 Mitglieder (weit mehr als der Partido Socialista Obrero Español, PSOE, mit ca. 50.000 Mitgliedern). Während der Transition gelang es dem PCE durchaus noch, Einfluss auf die Politik zu nehmen, exemplarisch bei der Erarbeitung der Verfassung von 1978 und dem Moncloa-Pakt. Trotzdem hat die Partei in den folgenden Jahren dann ihre Bedeutung fast gänzlich eingebüßt und ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Spätestens nach der vorgezogenen Neuwahl 1982 mit der absoluten Mehrheit des konkurrierenden PSOE beginnt der Weg des PCE in die Bedeutungslosigkeit. Juliana leistet auch hier die nötige Erinnerungsarbeit.

Journalistisch zieht Juliana alle Register, um das Buch zu einem „page-turner“ zu machen. Einiges davon wurde schon angedeutet: das Höhlengleichnis, die immer weiter werdenden Kreise um die Höhle von der Gefängniszelle bis zur Weltpolitik (filmisch: zoom-out, zoom-in), die Gegenüberstellung von Aktion und Reflexion auf verschiedenen Ebenen (Ormazábal vs. Moreno; Parteiführung vs. Dissidenten), die abenteuerlichen Lebenswege von Ormazábal und Moreno im Gegenschnitt sowie weitere oft sehr dramatische Einzelschicksale, die eingewoben werden (z.B. von Julián Grimau oder Juan Comorera) und Rückblicke auf die Zeit der Zweiten Republik und des Bürgerkriegs ermöglichen.

Der Autor kombiniert Persönliches, Archivmaterial, Analyse, Sentenzen und Anekdoten. Dabei entsteht ein einzigartiges literarisches Konstrukt, das vielleicht am ehesten als Essay bezeichnet werden kann. Um die vielleicht schönste Anekdote hier noch abschließend anzuführen: Es war ein andalusischer Priester, der „Cura Pitillo“ aus Vélez-Rubio, dem Geburtsort Morenos, dem der Kommunist Manuel Moreno die Umwandlung der gegen ihn verhängten Todesstrafe in eine Haftstrafe verdankte. Diesem gelang es nämlich zu Eva Perón, die bei ihrem Spanienbesuch 1947 auch Granada besuchte, vorzudringen. Er überreichte ihr seinen Brief mit dem Begnadigungswunsch, und ihr gelang es offenbar, Franco zu diesem Gnadenakt zu bewegen.

Bleibt zu wünschen, dass das fesselnde Buch auch auf Deutsch verlegt wird.

Enric Juliana: Aquí no hemos venido a estudiar: Memoria de una discusión en el penal más duro de la dictadura. El debate de un mundo olvidado que explica el presente. Arpa Editores: Barcelona 2020. ISBN-10: 841762354X

Dieter Nohlen und Mario Kölling: Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik

Das beste und aktuellste Spanien-Vademecum, das derzeit auf Deutsch zu haben ist

Rezension von Knud Böhle | 17.08.2020

Neuauflagen werden höchst selten rezensiert. Das ist vor allem dann schade, wenn relevante Werke vollständig überarbeitet und aktualisiert wurden. Genau das ist hier der Fall, bei dem von Dieter Nohlen und Mario Kölling verfassten Studienbuch „Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik“. Die erste Auflage war 1992 (Nohlen/Hildenbrand) erschienen, die zweite 2004 (Nohlen/Hildenbrand). Die Zuspitzung des Katalonienkonflikts, die Banken- und Wirtschaftskrise und ihre Folgen etwa für die Parteienlandschaft sowie weitere Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft haben eine grundlegende Überarbeitung nahegelegt. Die vorliegende dritte Auflage des Werks berücksichtigt insbesondere die Zeit von 2004 (Regierung Zapatero) bis 2019 (Regierung Sánchez). Der Januar 2020, als die erste Koalitionsregierung auf nationaler Ebene von PSOE und Unidas Podemos gebildet wurde, dürfte recht genau auch den Redaktionsschluss der Veröffentlichung markieren.

Das Buch will, wie es im Vorwort heißt: „[…] zuallererst über Spanien informieren. Die Entwicklungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft werden quellennah und gestützt auf verlässliches statistisches Datenmaterial dargestellt. Vergleiche mit anderen europäischen Ländern – insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland – helfen, die Entwicklungen einzuschätzen“ (S. XI-XII).

Das Buch teilt sich in vier große Teile mit Kapiteln und Unterkapiteln. Teil I: Spanien im Profil weist die Kapitel Geografie, Bevölkerung, Politische Geschichte und Politische Kultur aus. Teil II: Wirtschaft ist unterteilt in Wirtschaftliche Entwicklung, Wirtschaftsstruktur, Staat und Wirtschaft, regionale Wirtschaftsstruktur sowie Weltwirtschaftliche Integration. Teil III: Gesellschaft behandelt Sozialstruktur, Bildungssystem, Arbeitsbeziehungen, Interessensgruppen, Katholische Kirche, Militär, die politische Elite und die Massenmedien. Im letzten Teil IV: Politik werden der Zentralstaat, die Autonomen Gemeinschaften, die Lokale Selbstverwaltung, Parteien und Parteiensystem, Wahlen und Volksabstimmungen, Formen politischer Partizipation und einzelne Politikfelder behandelt (Institutionenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gender- und Gleichstellungspolitik, Jugendpolitik, Umweltpolitik sowie Außen- und Europapolitik). Hinter der Überschrift Institutionenpolitik verbirgt sich übrigens ein Aufriss der Beziehungen zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften, wobei der Katalonienkonflikt breiten Raum einnimmt. Das Vorwort und das detaillierte Inhaltsverzeichnis lassen sich kostenlos im Internet einsehen.

In dieser kurzen Besprechung des ca. 550 Seiten starken Buches soll nicht auf einzelne Kapitel inhaltlich eingegangen werden. Allgemein gesprochen ist der Stil der Autoren, beide Politikwissenschaftler, wie zu erwarten, wissenschaftlich neutral. Aber das bedeutet weder „unkritisch“ noch „werturteilsfrei“. Der normative Maßstab, der der Darstellung zugrunde liegt, ist offenkundig eine Vorstellung bzw. ein Modell funktionierender Demokratie.

In dem Kapitel zur politischen Kultur in Spanien wird deutliche Kritik laut an der schon säkular zu nennenden Korruption und an der Schwierigkeit, Konsense, Kooperationen oder Koalitionen auf politischer Ebene zustande zu bringen. In diesem Zusammenhang wird auch die verbreitete Neigung zu einem dualistischen und maximalistischen politischen Denken gesehen. Durchaus kritisch (und vermutlich auch mit Bedauern) stellen die Autoren fest, dass sich der Politikstil vor allem seit der Parlamentswahl vom März 2000, die dem Partido Popular unter José María Aznar eine absolute Mehrheit bescherte, radikal geändert hat. Die Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft der Transition, die die Nach-Franco-Zeit bis dahin noch gekennzeichnet hatte, wurde aufgekündigt und seitdem bestimmen Polarisierung, Dualismen und Maximalforderungen verstärkt die Tagesordnung (vgl. S. 66). Das ist auch insofern ein interessanter Gedanke als nicht alle Schwächen des politischen Systems und die heutigen politischen Konflikte einfach dem langen Schatten Francos oder den Mängeln der Verfassung von 1978 angelastet werden können, sondern als Folge einer bewussten Preisgabe des bereits erreichten Niveaus an demokratischer Kultur zu sehen sind.

Das Meiste an dem Buch ist gut gelungen. Es gefallen nicht nur die Vergleiche mit der Bundesrepublik Deutschland, die sogar noch verstärkt werden könnten. Gerade in den Kapiteln, die sich mit dem spanischen Autonomiestaat befassen, erleichtern die Hinweise auf die Unterschiede zwischen bundesrepublikanischem föderalen System und spanischem Autonomiestaat das Verständnis des spanischen Systems erheblich. Positiv herauszustellen ist außerdem der Vergleich der unterschiedlichen materiellen Politiken von PP- und PSOE-Regierungen. Zu schätzen sind auch die Rückblicke auf die spanische Geschichte, da wo sie nötig sind, um die gegenwärtige Situation besser zu verstehen.

Wichtig und informativ ist auch die gelegentliche Demontage eingebürgerter Klischees. So werde etwa die Bedeutung des Königs für die erfolgreiche Transition oft übertrieben und die Leistung von Adolfo Suárez unterschätzt: „Späterhin wurde irrigerweise der Beitrag des Königs Juan Carlos I in den Mittelpunkt von Erklärungen des erfolgreichen Übergangs zur Demokratie gerückt.“ In Wirklichkeit gab der König „zu Beginn der Transition eher eine in der Öffentlichkeit belächelte Figur ab“ (S. 44f). Ein anderes Beispiel ist die Unterschätzung der Bedeutung der Regionalparteien für die Politik auf Ebene des Zentralstaats. Es „werde viel zu wenig wahrgenommen, welch starken Einfluss die peripheren nacionalidades auf die nationale Politik genommen haben“ (S. 464), weil ihre Mitwirkung für die Abstützung von Regierungen der PSOE oder der PP in Ermanglung sogenannter Scharnierparteien häufig benötigt wurde.

Freilich gibt es immer etwas zu kritisieren: nicht alle Kapitel sind gleich gelungen; nicht jede Aussage muss man teilen (etwa die Einschätzung von Podemos als „linksextrem“, S. 399); manche Themen wie die Judikative oder den baskischen Konflikt wünschte man sich ausführlicher behandelt, aber man darf ja nicht vergessen, dass es sich hier um ein Lehr- Studien- und Nachschlagewerk handelt. In seiner Gesamtheit ist es unbestreitbar das beste und aktuellste Spanien-Vademecum, das derzeit auf Deutsch zu haben ist.

Dieter Nohlen, Mario Kölling: Spanien. Wirtschaft – Gesellschaft – Politik. Wiesbaden: Springer VS 2020, 3. Auflage, 548 S., ISBN: 978-3-658-27637-9 B

Martin Dahms: Spanien – ein Länderporträt

Spanien nicht nur für Anfänger

Rezension von Knud Böhle | 17.07.2019 (durchgesehen 02.08.2020)

Martin Dahms, Spanienkorrespondent einer Reihe deutschsprachiger Zeitungen, legte im Dezember 2018 die aktualisierte Neuauflage von „Spanien – ein Länderporträt“ vor, dessen Erstauflage 2011 erschienen war. Ein Buch dieser Art – weder Reiseführer noch politische Landeskunde – sollte Anfängern einen gut lesbaren Einstieg bieten, aber auch denen, die die Berichterstattung über Spanien regelmäßig verfolgen, noch neue Einsichten vermitteln. Um das zu erreichen, kombiniert Dahms verschiedene Zugänge und stilistische Mittel.

Zum einen greift er gängige Spanien-Topoi auf und hinterfragt sie. Was ist dran an Flamenco, Siesta, Stierkampf, spanischer Küche und den für typisch gehaltenen Sitten und Gebräuchen? Häufig werden die persönlichen Eindrücke durch Anekdotisches unterstützt. Zum anderen gelingt es Dahms, sowohl die neuere Geschichte als auch aktuelle soziale und politische Fragen in journalistischer Tonlage abzuhandeln. Dabei bringt er seine persönliche Meinung klar zum Ausdruck und spart nicht mit kritischen Einschätzungen. Für ihn steht z.B. außer Frage, dass die Franco-Diktatur bis 1959 nicht bloß eine autoritäre Herrschaftsform darstellte, sondern ein „terroristischer Staat“ war.

Die Beobachtung, dass den Spaniern weder in kleinem Kreis noch im politisch-öffentlichen Raum viel an einer produktiven Streitkultur gelegen sei, und sie nicht gut darin seien, Konsens zu erzielen, erscheint zunächst provokant. Mit Blick auf den Umgang der Parteien miteinander, etwa bei der Regierungsbildung, oder mit Blick auf die mangelnde Dialogbereitschaft im Katalonienkonflikt, kann man dieser These jedoch eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. Es spricht übrigens auch für dieses Länderporträt Spaniens, dass dieser Konflikt nicht ausgespart wird. Für Dahms geht es dabei im Kern nicht um Fragen des Völkerrechts, sondern um einen Konflikt zwischen zwei konkurrierenden politischen Ideologien, dem spanischen und dem katalanischen Nationalismus.

Ein weiteres inhaltliches und stilistisches Element ist die Vermittlung bestimmter Problemlagen über ihre Personalisierung. So erzählt uns Dahms von Emilio Silva, der seinen Großvater, ein Opfer der Franco-Diktatur, im Jahr 2000 exhumieren ließ. Wie viele andere auch, war auch dieser nach seiner Ermordung einfach in einem Massengrab verscharrt worden. Silva sollte dann alsbald mit anderen den „Verein zur Wiedererlangung des Historischen Gedächtnisses“ (ARMH = Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica“) gründen und entscheidend dazu beitragen, den „Pakt des Schweigens“ zu unterlaufen, und den Konsens in Frage zu stellen, nachdem der Übergang von der Diktatur zur Demokratie (die „transición“) als abgeschlossene Erfolgsgeschichte zu betrachten sei.

Die zweite Persönlichkeit, die Dahms besonders herausstellt, ist der Richter Baltasar Garzón, der international vor allem wegen seines Haftbefehls gegen Augusto Pinochet bekannt geworden war, in Spanien aber an vielen juristischen Fronten kämpfte: der Bekämpfung der Korruption, der Aufklärung der GAL-Affäre (staatlich zumindest tolerierte geheime Antiterrorkommandos gegen die ETA), der effektiven Bekämpfung des ETA-Umfelds und schließlich der Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen während der Franco-Diktatur – bis die spanische Justiz ihn deshalb zu Fall brachte. Das wirkliche Opfer des Garzón-Prozesses, daran lässt Dahms keinen Zweifel, war der spanische Rechtsstaat.

Ein vierter Baustein des Länderporträts sind gewissermaßen Antworten auf implizite Fragen vom Typ „Wie ist das denn bei den Spaniern?“ „Was ist ähnlich, was ist ganz anders als in Deutschland?“. Angesprochen werden u.a. die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zuwanderung, das Erziehungswesen, die Innovations- und Unternehmenskultur, der Stand bei den erneuerbaren Energien, die durch den Klimawandel sich verschärfende Frage der Verteilung der Wasserressourcen zwischen Nord und Süd, die politische Teilhabe der Regionen, die Krise der Monarchie, die politische Rolle der Kirche. Eine gute Orientierung bieten auch die Seiten zu der sich verändernden Medienlandschaft, die neben der Zeitungskrise auch durch Boulevardisierung und Krawallisierung gekennzeichnet ist. Auf seriöse Online-Zeitungen im Internet als Alternative wird hingewiesen.

Vielleicht muss sich der Autor von manchen die Frage gefallen lassen, wo denn das Positive bleibe. Dem beugt Dahms zwar schon in der Einleitung vor mit der Erklärung, dass er nur aus seinem persönlichen Blickwinkel schreibe und keine Liebesgeschichte schreiben wolle. Dabei kommt vielleicht die in Spanien durchaus beobachtbare, beeindruckende Veränderungskraft und Kreativität kollektiver Anstrengungen etwas zu kurz. Die Comisiones Obreras, jener sich während der Franco-Diktatur herausbildende Typ der Arbeitervertretung, deren Bedeutung für die Demokratisierung Spaniens durchaus mit der der Solidarność für Polen verglichen werden kann, wird gar nicht erwähnt. Auch die nach dem Platzen der Immobilienblase entstandene spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen und für Hypotheken-Opfer sowie die Entstehung zweier neuer Parteien (Podemos und Ciudadanos) als Antwort auf die Krise und die Korruption der beiden Altparteien PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) und PP (Spanische Volkspartei), wird nur am Rande behandelt.

Abschließend sei eine Bemerkung von Dahms aufgegriffen, der in Andrés Trapiello einen wichtigen spanischen, in Deutschland noch zu entdeckenden Schriftsteller sieht. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Daran anschliessend läßt sich sagen, dass ein Länderportrait durchaus gewinnen kann, wenn auf Literatur (in Übersetzung) aufmerksam gemacht wird, die gesellschaftliche Verhältnisse und Problemlagen anschaulich macht. Für Spanien leisten das etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, der Roman „Patria“ von Fernando Aramburu, der uns den Konflikt im Baskenland anhand zweier verwobener Familiengeschichten nahebringt, oder „Am Ufer“ von Rafael Chirbes, der uns die fatalen Folgen der geplatzten Immobilienblase am Beispiel eines kleinen Handwerksunternehmens drastisch vor Augen führt.

Kurzum: Ein Länderportrait wird nie allen Wünschen genügen können, aber Dahms ist es erstaunlich gut gelungen, ein Buch über Spanien für Anfänger und bereits gut Informierte (hier in der zweiten Auflage) vorzulegen.

Martin Dahms: Spanien – ein Länderporträt. Berlin 2018: Ch. Links Verlag, 2., aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-96289-048-3

Raul Zelik: Spanien – Eine politische Geschichte der Gegenwart

Gut links informiert: Proteste, Parteien, Bewegungen nach der Krise 2008

Rezension von Knud Böhle | 01.11.2018 (durchgesehen erneut am 29.07.2020)

Bislang fehlte auf dem deutschen Büchermarkt ein Abriss der jüngeren politischen Geschichte Spaniens, der auch die letzten 20 Jahre einbezieht. Raul Zelik, seit 2016 Vorstandsmitglied der Partei DIE LINKE, Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Sozialwissenschaftler (2017 und 2018 Vertretungsprofessur für internationale und intergesellschaftliche Politik an der Universität Kassel) macht ein Angebot, diese Lücke zu schließen. Der ausführliche Anmerkungsapparat (S. 215-232) und auch der Deutungsversuch der Praxis der Partei Podemos im Lichte von Populismustheorien, zeigen an, dass das Buch wissenschaftlich ernst genommen werden will, wenngleich der Autor vermutlich in erster Linie das Informationsbedürfnis einer sich links verstehenden Leserschaft befriedigen möchte. Das eine schließt das andere nicht aus.

Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt. Zunächst wird im Kapitel „Die Last der Transition“ der Übergang (die transición) von der Franco-Diktatur zur Demokratie, welcher über Jahre weithin als vorbildlich galt, äußerst kritisch hinterfragt. Straflosigkeit von Verbrechen der Diktatur und mangelhafte Aufarbeitung der Vergangenheit insgesamt sowie Parteienkorruption von rechts bis links, von zentralistisch bis regionalistisch, von groß bis klein, sowie der Umgang der Zentralregierung mit dem politischen Konflikt im Baskenland, sind wichtige Kritikpunkte, die angeführt werden. Allgemeiner zielt Zeliks Kritik darauf, dass es nie einen deutlichen Bruch mit dem Franco-Regime gegeben habe. Vom „postfranquistischen Elitenpakt von 1978“ und von „monarchistisch-franquistischer Kontinuität“ ist in dem Zusammenhang bei ihm die Rede. Eine solche Kritik an der Transition und den Demokratiedefiziten des politischen Systems gibt es selbstverständlich auch in Spanien. Dort wird sie in der Regel von einer Generation vorgebracht, die das Franco-Regime selbst nicht mehr erlebt hat.

Im zweiten Kapitel „Vom Wirtschaftswunder zum großen Krach“ erläutert Zelik das spanische Wirtschaftsmodell – mit den drei Säulen Tourismus, Bauwirtschaft und Immobilienmarkt und den zwei Begleiterscheinungen Immobilienspekulation und Korruption. Das spanische „Wirtschaftswunder“ endete 2008 in der tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren verheerenden sozialen Kosten, insbesondere einer hohen Arbeitslosigkeit und skandalöser Obdachlosigkeit.

Auf diese Krise antwortete die spanische Gesellschaft mit massenhaftem Protest und dem Entstehen neuer politischer Bewegungen, denen vier Kapitel gewidmet sind: „Die Rückkehr der Bewegungen“, „Aus der Bewegung in die Institutionen“, „Podemos – von der Bewegungspartei zur Wahlkampfmaschine“ und „der Munizipalismus – Im Treibsand der Institutionen“. Zelik informiert kundig über die Initiativen auf kommunaler Ebene („Munizipalismus“), wie etwa die Plattform gegen Zwangsräumungen, und die am 15. Mai 2011 entstandene 15-M Bewegung der „Empörten“ (indignados). Die Bewegungen bildeten die Basis für die Gründung der Partei Podemos und für zahlreiche lokale Wahlbündnisse, die politisch alsbald sehr erfolgreich waren. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2015 erreichte Podemos bereits fast so viele Stimmen wie die sozialdemokratische Partei PSOE (Partido Socialista Obrero Español), und bei den Kommunalwahlen besiegten neuartige Wahlbündnisse mancherorts die etablierten Parteien und eroberten sogar die Rathäuser der Millionenstädte Barcelona und Madrid („Barcelona en Comú“ bzw. „Ahora Madrid“). Die detail- und kenntnisreiche Schilderung und Analyse des Aufkommens und Erstarkens dieser transversalen, „also spektren- und milieuübergreifenden Bewegung“ (S. 177) und ihrer Veränderungen auf dem Weg in die politischen Institutionen, gehört zu den Stärken des Buches. In der Analyse von Podemos wird aufgezeigt, dass ihre Gründer und Vordenker stark von linkspopulistischen Theorien, insbesondere denen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, beeinflusst waren (S. 96ff), dass in der Praxis jedoch bald eine Orientierung an Umfragewerten und Wahlaussichten dominierte. Aus der offenen Bürgerbewegung wurde binnen Kurzem ein straff geführter „Wahlverein“ (S. 103) und „innerhalb von nur zwei Jahren“ habe Podemos die „klassische Funktion einer parlamentarischen Mitte-Links-Partei angenommen“ (ebd.).

In zwei ausführlichen Kapiteln wird anschließend die politische Entwicklung im Baskenland und in Katalonien behandelt. Das ist nicht nur dem Bedürfnis geschuldet, diese politischen Konflikte, einem deutschen Publikum verständlich zu machen. Zelik geht es um eine umfassende Kritik des spanischen Zentralstaates und deshalb interessieren ihn die Unabhängigkeitsbewegungen beider Regionen als „Motoren für demokratische Reformen und die Aufarbeitung der franquistischen Vergangenheit“ (S. 10).

Bezogen auf das Baskenland zeichnet Zelik ein differenziertes Bild des Konflikts. Er sieht dabei die Verantwortung für 35 Jahre Terror und Repression nicht nur bei der ETA (Euskadi Ta Askatasuna, deutsch: Baskenland und Freiheit), die sich als „revolutionäre, sozialistische Organisation zur nationalen Befreiung“ verstand, sondern auch beim spanischen Staat. Den bewaffneten Konflikt im Baskenland deutet er als Tragödie, „da die ETA ja seit 1976 letztlich nichts anderes forderte als die Durchführung eines Referendums, wie es 2014 in Schottland stattfand“ (S. 163). Darin klingt ein gewisses Verständnis für die ETA an, die in Teilen wohl tatsächlich glaubte, durch Terrorattentate und die Eskalation der Gewalt, den Staat an den Verhandlungstisch und zum Eingehen auf ihre Forderungen zwingen zu können.

Für die Massenbewegung in Katalonien spielt neben der wirtschaftlichen Krise die politische Frustration eine große Rolle, nicht mehr Autonomie für die Region im Rahmen der Verfassung von 1978 erreicht zu haben. Ab 2010 waren Massenproteste mit Demonstrationen von weit mehr als einer Million Menschen und eine Umorientierung der Politik die Antwort auf diese Enttäuschung. Separatistische Positionen, die zuvor nur geringe Akzeptanz erfahren hatten, gewannen an Zustimmung. Selbst die Parteien der bürgerlichen Mitte konnten sich diesem Druck nicht entziehen. „Paradoxerweise“, wie Zelik bemerkt, wurde die rechtsliberale Partei (CDC – Convergència Democràtica de Catalunya, später umbenannt in PdeCAT – Partit Demòcrata Europeu Català), die lange Jahre für Verhandlungen mit der Regierung in Madrid und die Respektierung des legalen Rahmens stand, ab 2015 unter den Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Artur Mas und dann Carles Puigdemont zum Vorkämpfer eines Bruchs mit dem Zentralstaat und einer unabhängigen katalanischen Republik (S. 212).

Wichtig für die Deutung der Unabhängigkeitsbewegungen als pro demokratisch ist für Zelik die Überwindung eines ethnischen Nationenbegriffs. Bei der ETA hieß es bereits seit Mitte der 80er Jahre, dass Baske ist, wer im Baskenland lebt und arbeitet (S. 22). Bezogen auf Katalonien wird Carles Puigdemont zitiert, der dem Spiegel im September 2017 sagte: „Der katalanische Nationalismus ist nicht ethnisch. […] Katalane ist, wer hier lebt und arbeitet – und das auch will“ (S. 178). Die Frage, wohin denn der früher deutlich vernehmbare ethnische Nationalismus nach seiner verbalen Überwindung verschwunden ist, stellt sich Zelik allerdings nicht. Es wird auch nicht weiter problematisiert, dass geschätzt etwa die Hälfte der Katalanen (nach obiger Definition) einen unabhängigen katalanischen Nationalstaat nicht befürwortet, und welches Konfliktpotenzial dies für einen katalanischen Nationalstaat bedeuten würde, wenn er denn zustande käme. Auch wird bei der Beschreibung der katalanistischen Unabhängigkeitsbewegung die Spannung zwischen bestehender Legalität des politischen Systems und der Legitimation separatistischer Bewegungen nicht ernsthaft thematisiert, genauso wenig wie die Frage, welche Schichten und Kapitalfraktionen sich etwas von einem katalanischen Nationalstaat versprechen könnten. Auch der mögliche Vorwurf des „Wohlstandschauvinismus“ wird nicht eingehender erörtert – ein Hinweis darauf, dass das Pro-Kopf-Einkommen 2016 in der Region Madrid über dem in Katalonien lag (S. 66), reicht da als Gegenargument nicht aus. Die katalanistische Unabhängigkeitsbewegung nur als Demokratiebewegung zu verstehen, greift deshalb meines Erachtens zu kurz.

Im abschließenden Kapitel 9 „Ein Ausblick“ lautet das Fazit, „dass der aufregende Protest- und Bewegungszyklus der letzten Jahre viele interessante Praxis- und Politikansätze hervorgebracht hat, die es zu untersuchen gilt, aber sein eigentliches Ziel – den Bruch des postfranquistischen Elitenpakts von 1978 mit all seinen ökonomischen und politischen Implikationen – verfehlt hat“ (S. 214). Das Zitat macht noch einmal die Perspektive deutlich, aus der diese eine politische Geschichte Spaniens ab 1978 erzählt wird – radikal, basisdemokratisch und links von der Sozialdemokratie.

Mein Fazit lautet, dass der Text erhellend ist, insbesondere wenn es um die neueren, vorwiegend linken Bewegungen in Spanien geht. Die als „postfranquistischer Elitenpakt“ eingeführte Gegenseite bleibt indes analytisch und soziologisch zu unbestimmt. Warnte Zelik angesichts der Populismusthese von Mouffe noch vor den Risiken, mit Feindbildern Politik zu machen (S. 98f), so ist sein Narrativ der politischen Entwicklung in Spanien doch selbst nicht ganz frei von linkspopulistischer Polarisierung.

Raul Zelik: Spanien ̶ Eine politische Geschichte der Gegenwart. Bertz + Fischer, Berlin 2018, ISBN: 978-3865057440

Hannes Bahrmann: Francos langer Schatten

Der neueste Versuch, die Defizite der spanischen Demokratie aufzuzeigen, krankt an mangelnder journalistischer Sorgfalt

Rezension von Knud Böhle | 06.07.2020 (einige Typos am 27.7.2020 korrigiert)

Ein journalistisch gut geschriebenes, leicht lesbares Sachbuch, das einem breiteren Publikum die gegenwärtigen politischen Defizite und Probleme der spanischen Demokratie mit Rückgriff auf die Erbschaft des Franquismus erläuterte, wäre eine gute Sache. Genau das scheint der im März dieses Jahres erschienene Titel: „Francos langer Schatten. Diktatur und Demokratie in Spanien“ zu versprechen.

Der Autor, Hannes Bahrmann, setzt bei der Vorgeschichte des Spanischen Bürgerkriegs ein, behandelt kursorisch das Kriegsgeschehen und widmet sich dann ausführlicher der Entwicklung der Franco-Diktatur nach 1939 mit Akzentsetzungen bei der Diskriminierung, Ausgrenzung und systematischen Repression der „Verlierer“ und beim antifranquistischen Widerstand. Des Weiteren werden der wirtschaftliche Aufschwung Spaniens in den 60er Jahren (dank Auslandsinvestitionen, Rücksendungen der Arbeitsemigranten, der Tourismusindustrie, des Baubooms) sowie anschließend der Niedergang der Diktatur skizziert. Es folgt ein Abriss der Transición, also des Übergangs von der Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie. Mit dem gescheiterten Putschversuch vom 23. Februar 1981 und dem Wahlsieg der Sozialisten (der PSOE, dem Partido Socialista Obrero Español) 1982 gilt nach verbreiteter Lesart diese Übergangsphase als beendet. Die zwischen Franquisten und Anti-Franquisten „paktierte Demokratie“ schloss einen „Pakt des Vergessens“ ein.

Tatsächlich, wie Bahrmann plausibel machen kann, sind einige Grundübel franquistischer Herrschaft noch lange nicht überwunden: das endemische Übel der Korruption grassiert weiter und erfasst nicht nur den rechten Partido Popular (PP), sondern auch den PSOE und weitere Parteien. Mit der Korruption einher geht ein zweites Übel, nämlich der ausgeprägte Wunsch vieler Personen in führenden Positionen, sich zu bereichern. Dies galt schon für den Diktator und seine Familie, gilt weiter für Politiker unterschiedlichster Couleur, aber auch für die Königsfamilie. So sei der König Juan Carlos I nicht zuletzt wegen seiner guten Beziehungen zum saudischen Königshaus bereits vor seiner Abdankung zum Milliardär geworden. Bahrmann: „Mit jedem Supertanker, der zwischen 1,4 und 1,6 Millionen Fässer transportierte, erhöhte sich das Vermögen des Monarchen um etwa zwei Millionen Dollar“ (S. 222). Angemerkt sei, dass die Korruptionsanfälligkeit durchaus noch weiter zurückreichende Wurzeln hat.

Der fehlende politische Wille, die Vergangenheit aufzuarbeiten, also den im Bürgerkrieg von beiden Seiten begangenen Verbrechen, und den unter der Diktatur von franquistischer Seite begangenen politischen und staatsterroristschen Verbrechen nachzugehen, nützt und schützt nach dem Tod Francos vor allem seine Anhänger und Mittäter. Dieser Missstand wird von Bahrmann ausführlich behandelt. Mit dem Amnestiegesetz von 1977 wurde der „Pakt des Vergessens“ quasi formalisiert. An dem Tabu wurde erst mit der Jahrtausendwende gerüttelt. Damals wurde mit der Exhumierung der in Massengräbern verscharrten Ermordeten durch Angehörige und zivilgesellschaftliche Vereinigungen (insbesondere dem Verein zur Wiedererlangung der Historischen Erinnerung, ARMH) begonnen. Parallel dazu gewann eine juristische Neubewertung an Boden, wonach die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht durch ein Amnestiegesetz ausgehebelt werden könne. Die Erfahrung des Ermittlungsrichters Baltazar Garzón, der Anklage gegen Franco und 44 Mitverschwörer erhoben hatte, dann aber deshalb selbst wegen Rechtsbeugung auf der Anklagebank landete und von seinem Amt suspendiert wurde, zeigt die wirksame Schutzfunktion des Amnestiegesetzes für Franquisten. Die mangelhafte staatliche Unterstützung bei den Bemühungen, die Massengräber zu lokalisieren, die Toten zu identifizieren und würdig zu bestatten, zeigt wie sich die wechselnden Regierungen selbst mit einer humanitären Selbstverständlichkeit schwer tun. In der Tat: beide Vorgänge sind keine Ruhmesblätter der spanischen Demokratie.

Dennoch ist dem apodiktischen Urteil des Autors über die spanische Demokratie energisch zu widersprechen, wenn es heißt: „Die Demokratie in Spanien steht auf dem Fundament der faschistischen Diktatur. Der alte Apparat der Diktatur wurde nie angetastet“ (S. 268). Hier werden die mehr oder weniger gut funktionierenden demokratischen Institutionen in Spanien schlicht ausgeblendet. Selbst die harten juristischen Urteile in vielen Korruptionsfällen kommen nicht als Fortschritte gegenüber der Zeit der Diktatur in den Blick. Immerhin brachte die nachgewiesene illegale Parteienfinanzierung der Partido Popular 2018 das Ende der damaligen PP-Regierung; auch wurde die Korruption im Königshaus geahndet. Iñaki Urdangarin, Schwiegersohn von Juan Carlos I, wurde wegen Korruption zu einer langjährigen Haftstrafe und einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt.

Es ist nicht allein der einseitige Blick auf die Demokratie in Spanien, der unangenehm auffällt. Dazu kommen journalistische Mängel, die das Lesen vermiesen. Zwar kann dem Buch bescheinigt werden, dass es viele wissenswerte Details und interessante Anekdoten enthält, an manchen Stellen geht die Nähe zum Stil der Regenbogenpresse jedoch zu weit, wenn etwa der Aufstieg eines der entscheidenden Reformpolitiker der Diktatur in den 60er-Jahren, Laureano López Rodó, auf die Dankbarkeit Carrero Blancos, des damaligen Leiters der Staatskanzlei, zurückgeführt wird, dem besagter López Rodó in einer Ehekrise geholfen haben soll (S. 138), oder wenn die den König Juan Carlos I belastenden Äußerungen von Corinna zu Sayn-Wittgenstein motivisch darauf zurückgeführt werden, dass er ihr die Ehe versprochen haben soll.

Zu den Schwachstellen des Buches zählen auch einige Falschinformationen, die leicht durch etwas Recherche hätten vermieden werden können. Zum Beispiel wird behauptet, die Spanier hätten den Staatsstreich vom 23. Februar 1981 live im Fernsehen verfolgen können (S. 191). Dem war aber nicht so. Erst einen Tag später wurde die Aufzeichnung des Putschversuchs ausgestrahlt. An anderer Stelle wird behauptet, Jorge Semprun habe sich nach seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Spaniens (1964) „ausschließlich seiner Arbeit als Schriftsteller“ gewidmet (S. 153). Dass Semprun zwischen 1988 und 1991 Minister in einer Regierung von Felipe González war, wird ignoriert.

Leichter Unmut kommt auf, wenn zu lesen ist, dass der bekannte spanische Forensiker, Francisco Etxeberria, der seinen Sachverstand auch bei der Exhumierung von Bürgerkriegsopfern einbringt, nachgewiesen habe, dass Salvador Allende von Pinochet-Leuten ermordet worden sei (S. 258). Das Gegenteil ist der Fall: die Kommission internationaler Experten, der Etxeberria angehörte, bestätigte die Suizid-These. Unverständlich bleibt auch, warum der Oberste Rat für wissenschaftliche Forschung, CSIC, der nach dem Bürgerkrieg eingerichtet wurde, als „Wissenschaftsrat des Ordens“, also des Opus Dei, vorgestellt wird (S. 140). Auch das ist nicht richtig: Die Institution war beim Erziehungsminister angesiedelt, der gleichzeitig Präsident des Rates war, aber selbst nicht dem Opus Dei angehörte. Dass der Einfluss des Opus Dei auf diese Institution beträchtlich war, steht auf einem anderen Blatt.

Mangelnde Sorgfalt zeigt sich auch im Umgang mit Namen: so wird uns Laureano Cerrada Santos, ein Urgestein des anarchistischen Gewerkschaftsverbundes CNT (Confederación Nacional del Trabajo) und unermüdlicher Widerstandskämpfer als „Unternehmer Laureano Cerrado Santos“ (S. 105)vorgestellt; aus der argentinischen Richterin Frau María Servini de Cubría, die internationale Haftbefehle wegen in Spanien begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausstellte, wird unversehens Frau Salvini (S. 251), aus Papst Paul VI, der wegen der Todesurteile im Prozess von Burgos bei Franco intervenierte, wird kurzerhand Pius VI (S. 157). Genug davon.

Kurzum: Das Buch ist leicht verständlich geschrieben. Wissenschaftlich ist es nicht, will es nicht und muss es auch nicht sein. Leider ist es als Sachbuch wegen seiner journalistischen Mängel nicht wirklich gelungen: zu wenig Belege, eine unverständliche Vernachlässigung der funktionierenden demokratischen Strukturen und Kräfte, zu viele Ungenauigkeiten und Fehler im Text. Das ist schade, weil mit mehr Sorgfalt des Autors bei der Recherche, einem verlässlichen Anmerkungsapparat und einem professionellen Lektorat ein deutlich besseres Ergebnis hätte erzielt werden können. Solch zusätzlichen Aufwand, wollte offenbar niemand treiben.

Hannes Bahrmann: Francos langer Schatten. Diktatur und Demokratie in Spanien. Ch. Links Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-96289-077-3