Raul Zelik: Spanien – Eine politische Geschichte der Gegenwart

Gut links informiert: Proteste, Parteien, Bewegungen nach der Krise 2008

Rezension von Knud Böhle | 01.11.2018 (durchgesehen erneut am 29.07.2020)

Bislang fehlte auf dem deutschen Büchermarkt ein Abriss der jüngeren politischen Geschichte Spaniens, der auch die letzten 20 Jahre einbezieht. Raul Zelik, seit 2016 Vorstandsmitglied der Partei DIE LINKE, Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Sozialwissenschaftler (2017 und 2018 Vertretungsprofessur für internationale und intergesellschaftliche Politik an der Universität Kassel) macht ein Angebot, diese Lücke zu schließen. Der ausführliche Anmerkungsapparat (S. 215-232) und auch der Deutungsversuch der Praxis der Partei Podemos im Lichte von Populismustheorien, zeigen an, dass das Buch wissenschaftlich ernst genommen werden will, wenngleich der Autor vermutlich in erster Linie das Informationsbedürfnis einer sich links verstehenden Leserschaft befriedigen möchte. Das eine schließt das andere nicht aus.

Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt. Zunächst wird im Kapitel „Die Last der Transition“ der Übergang (die transición) von der Franco-Diktatur zur Demokratie, welcher über Jahre weithin als vorbildlich galt, äußerst kritisch hinterfragt. Straflosigkeit von Verbrechen der Diktatur und mangelhafte Aufarbeitung der Vergangenheit insgesamt sowie Parteienkorruption von rechts bis links, von zentralistisch bis regionalistisch, von groß bis klein, sowie der Umgang der Zentralregierung mit dem politischen Konflikt im Baskenland, sind wichtige Kritikpunkte, die angeführt werden. Allgemeiner zielt Zeliks Kritik darauf, dass es nie einen deutlichen Bruch mit dem Franco-Regime gegeben habe. Vom „postfranquistischen Elitenpakt von 1978“ und von „monarchistisch-franquistischer Kontinuität“ ist in dem Zusammenhang bei ihm die Rede. Eine solche Kritik an der Transition und den Demokratiedefiziten des politischen Systems gibt es selbstverständlich auch in Spanien. Dort wird sie in der Regel von einer Generation vorgebracht, die das Franco-Regime selbst nicht mehr erlebt hat.

Im zweiten Kapitel „Vom Wirtschaftswunder zum großen Krach“ erläutert Zelik das spanische Wirtschaftsmodell – mit den drei Säulen Tourismus, Bauwirtschaft und Immobilienmarkt und den zwei Begleiterscheinungen Immobilienspekulation und Korruption. Das spanische „Wirtschaftswunder“ endete 2008 in der tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren verheerenden sozialen Kosten, insbesondere einer hohen Arbeitslosigkeit und skandalöser Obdachlosigkeit.

Auf diese Krise antwortete die spanische Gesellschaft mit massenhaftem Protest und dem Entstehen neuer politischer Bewegungen, denen vier Kapitel gewidmet sind: „Die Rückkehr der Bewegungen“, „Aus der Bewegung in die Institutionen“, „Podemos – von der Bewegungspartei zur Wahlkampfmaschine“ und „der Munizipalismus – Im Treibsand der Institutionen“. Zelik informiert kundig über die Initiativen auf kommunaler Ebene („Munizipalismus“), wie etwa die Plattform gegen Zwangsräumungen, und die am 15. Mai 2011 entstandene 15-M Bewegung der „Empörten“ (indignados). Die Bewegungen bildeten die Basis für die Gründung der Partei Podemos und für zahlreiche lokale Wahlbündnisse, die politisch alsbald sehr erfolgreich waren. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2015 erreichte Podemos bereits fast so viele Stimmen wie die sozialdemokratische Partei PSOE (Partido Socialista Obrero Español), und bei den Kommunalwahlen besiegten neuartige Wahlbündnisse mancherorts die etablierten Parteien und eroberten sogar die Rathäuser der Millionenstädte Barcelona und Madrid („Barcelona en Comú“ bzw. „Ahora Madrid“). Die detail- und kenntnisreiche Schilderung und Analyse des Aufkommens und Erstarkens dieser transversalen, „also spektren- und milieuübergreifenden Bewegung“ (S. 177) und ihrer Veränderungen auf dem Weg in die politischen Institutionen, gehört zu den Stärken des Buches. In der Analyse von Podemos wird aufgezeigt, dass ihre Gründer und Vordenker stark von linkspopulistischen Theorien, insbesondere denen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, beeinflusst waren (S. 96ff), dass in der Praxis jedoch bald eine Orientierung an Umfragewerten und Wahlaussichten dominierte. Aus der offenen Bürgerbewegung wurde binnen Kurzem ein straff geführter „Wahlverein“ (S. 103) und „innerhalb von nur zwei Jahren“ habe Podemos die „klassische Funktion einer parlamentarischen Mitte-Links-Partei angenommen“ (ebd.).

In zwei ausführlichen Kapiteln wird anschließend die politische Entwicklung im Baskenland und in Katalonien behandelt. Das ist nicht nur dem Bedürfnis geschuldet, diese politischen Konflikte, einem deutschen Publikum verständlich zu machen. Zelik geht es um eine umfassende Kritik des spanischen Zentralstaates und deshalb interessieren ihn die Unabhängigkeitsbewegungen beider Regionen als „Motoren für demokratische Reformen und die Aufarbeitung der franquistischen Vergangenheit“ (S. 10).

Bezogen auf das Baskenland zeichnet Zelik ein differenziertes Bild des Konflikts. Er sieht dabei die Verantwortung für 35 Jahre Terror und Repression nicht nur bei der ETA (Euskadi Ta Askatasuna, deutsch: Baskenland und Freiheit), die sich als „revolutionäre, sozialistische Organisation zur nationalen Befreiung“ verstand, sondern auch beim spanischen Staat. Den bewaffneten Konflikt im Baskenland deutet er als Tragödie, „da die ETA ja seit 1976 letztlich nichts anderes forderte als die Durchführung eines Referendums, wie es 2014 in Schottland stattfand“ (S. 163). Darin klingt ein gewisses Verständnis für die ETA an, die in Teilen wohl tatsächlich glaubte, durch Terrorattentate und die Eskalation der Gewalt, den Staat an den Verhandlungstisch und zum Eingehen auf ihre Forderungen zwingen zu können.

Für die Massenbewegung in Katalonien spielt neben der wirtschaftlichen Krise die politische Frustration eine große Rolle, nicht mehr Autonomie für die Region im Rahmen der Verfassung von 1978 erreicht zu haben. Ab 2010 waren Massenproteste mit Demonstrationen von weit mehr als einer Million Menschen und eine Umorientierung der Politik die Antwort auf diese Enttäuschung. Separatistische Positionen, die zuvor nur geringe Akzeptanz erfahren hatten, gewannen an Zustimmung. Selbst die Parteien der bürgerlichen Mitte konnten sich diesem Druck nicht entziehen. „Paradoxerweise“, wie Zelik bemerkt, wurde die rechtsliberale Partei (CDC – Convergència Democràtica de Catalunya, später umbenannt in PdeCAT – Partit Demòcrata Europeu Català), die lange Jahre für Verhandlungen mit der Regierung in Madrid und die Respektierung des legalen Rahmens stand, ab 2015 unter den Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Artur Mas und dann Carles Puigdemont zum Vorkämpfer eines Bruchs mit dem Zentralstaat und einer unabhängigen katalanischen Republik (S. 212).

Wichtig für die Deutung der Unabhängigkeitsbewegungen als pro demokratisch ist für Zelik die Überwindung eines ethnischen Nationenbegriffs. Bei der ETA hieß es bereits seit Mitte der 80er Jahre, dass Baske ist, wer im Baskenland lebt und arbeitet (S. 22). Bezogen auf Katalonien wird Carles Puigdemont zitiert, der dem Spiegel im September 2017 sagte: „Der katalanische Nationalismus ist nicht ethnisch. […] Katalane ist, wer hier lebt und arbeitet – und das auch will“ (S. 178). Die Frage, wohin denn der früher deutlich vernehmbare ethnische Nationalismus nach seiner verbalen Überwindung verschwunden ist, stellt sich Zelik allerdings nicht. Es wird auch nicht weiter problematisiert, dass geschätzt etwa die Hälfte der Katalanen (nach obiger Definition) einen unabhängigen katalanischen Nationalstaat nicht befürwortet, und welches Konfliktpotenzial dies für einen katalanischen Nationalstaat bedeuten würde, wenn er denn zustande käme. Auch wird bei der Beschreibung der katalanistischen Unabhängigkeitsbewegung die Spannung zwischen bestehender Legalität des politischen Systems und der Legitimation separatistischer Bewegungen nicht ernsthaft thematisiert, genauso wenig wie die Frage, welche Schichten und Kapitalfraktionen sich etwas von einem katalanischen Nationalstaat versprechen könnten. Auch der mögliche Vorwurf des „Wohlstandschauvinismus“ wird nicht eingehender erörtert – ein Hinweis darauf, dass das Pro-Kopf-Einkommen 2016 in der Region Madrid über dem in Katalonien lag (S. 66), reicht da als Gegenargument nicht aus. Die katalanistische Unabhängigkeitsbewegung nur als Demokratiebewegung zu verstehen, greift deshalb meines Erachtens zu kurz.

Im abschließenden Kapitel 9 „Ein Ausblick“ lautet das Fazit, „dass der aufregende Protest- und Bewegungszyklus der letzten Jahre viele interessante Praxis- und Politikansätze hervorgebracht hat, die es zu untersuchen gilt, aber sein eigentliches Ziel – den Bruch des postfranquistischen Elitenpakts von 1978 mit all seinen ökonomischen und politischen Implikationen – verfehlt hat“ (S. 214). Das Zitat macht noch einmal die Perspektive deutlich, aus der diese eine politische Geschichte Spaniens ab 1978 erzählt wird – radikal, basisdemokratisch und links von der Sozialdemokratie.

Mein Fazit lautet, dass der Text erhellend ist, insbesondere wenn es um die neueren, vorwiegend linken Bewegungen in Spanien geht. Die als „postfranquistischer Elitenpakt“ eingeführte Gegenseite bleibt indes analytisch und soziologisch zu unbestimmt. Warnte Zelik angesichts der Populismusthese von Mouffe noch vor den Risiken, mit Feindbildern Politik zu machen (S. 98f), so ist sein Narrativ der politischen Entwicklung in Spanien doch selbst nicht ganz frei von linkspopulistischer Polarisierung.

Raul Zelik: Spanien ̶ Eine politische Geschichte der Gegenwart. Bertz + Fischer, Berlin 2018, ISBN: 978-3865057440